Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Auf den Ruinen von Wusung

Das Gelbe Meer ist hier bereits der Jangtsekiang, aber man merkt es nicht. Meerhaft ist der Strom wie die Elbe bei Cuxhaven; vorläufig haben die Wellen nicht aufgehört, das Gehirnzentrum der Passagiere zu schaukeln, vorläufig sind die Ufer keine Ufer, sondern ferne Küste.

Erst wenn die Dampfer in die Seitenstraße einbiegen, stürzen die Passagiere auf Deck und richten Arme, Hände und Finger, Augen, Kamera und Trieder steuerbords.

Ecke Jangtsekiang und Whangpoo steht das Eingangstor zum großen Warenmarkt, dem Tal des Jangtsekiang.

Seit Ende Januar lief das Wort Wusung, das Fort Wusung, wie das dunkle Summen einer Brisanzgranate durch Äther und Kabel; Völkerbund und Stammtisch und Leitartikel schmissen gleichermaßen ersprießlich damit herum.

Nun beugt man sich über die Reeling, stellt Blick oder Linse auf Wusung ein. Da liegt es in natura, unbestritten. Die japanischen Herren und Damen auf dem Promenadendeck zeigen einander die Häuserleichen, in denen es Menschenleichen gab, machen einander lachend auf die groteskesten Stücke des Trümmerwerks aufmerksam. Vor ein paar Tagen noch boten sich die 10 Küstengeschütze keineswegs so offen dar; sie trugen eine Maske aus Zement und Beton.

Nicht lange hält sich das Passagierschiff bei Wusung auf; lange nicht so lange, wie sich Belagerer und Belagerte hier aufhalten mußten. Kaum acht Knoten machen die Dampfer, denn der Fluß ist gestopft voll; ein Schutzmann mit Ampel sollte in der Mitte des Wassers stehen, um den Verkehr zu regeln, diesen Verkehr der Kontraste. Da begegnen einander die größten Dreadnaughts der Welt und die kleinsten Fischerboote der Welt. 10.000 Tonnen faßt das amerikanische Flaggschiff »Houston«, jedes seiner Geschoße ist größer als jeder der Sampans, die es umschwärmen, tabakfarbige Flicken zwischen Bambusgeflecht sind ihre Segel. Die Dschunken wahren die Form eines schwangeren Drachens seit Jahrtausenden; ihre auf den Bug gemalten Augen starren entsetzt auf den Signore »Trento«; er droht, mit seiner Bügelfalte der Dschunke den Bauch aufzuschlitzen. »Cornwall«, der Brite, spannt einen gigantischen Katapult, dessen Geschoß ein Flugzeug ist. Dottergelbe Fähren schwimmen von Ufer zu Ufer, fünfstöckige zitronengelbe Schiffe, eher Häuser als Schiffe, streben jangtsekiangaufwärts. Ihre Passagiere sind obdachlos geworden durch die Kanonen der japanischen Panzerkreuzer, deren Hecks sie streifen.

Von den Gebäuden am Ufer sind nur die unversehrt, über denen sich fremde Fahnen bauschten. Nicht zerschossen die silbernen Tanks von Shell, von Standard Oil, von Texas Oil, nicht zerschossen der rote Backsteinbau der Nordisk Telegraph Co., auf deren Giebel der Danebrog fürsorglich sein Kreuz schlägt, nicht 11 zerschossen das Kraftwerk, auf dessen Turmfahne ein blauer Kegel in das rotweiße Band sticht, weil es von den tschechoslowakischen Skodawerken erbaut ist. Sonst ist nichts ganz geblieben ringsumher. Nichts.

Langsam fahren die Schiffe an all der Verwüstung vorbei. Sie bleiben weit zurück hinter den eleganten Autos, die am Ufer hafenein jagen. In den eleganten Autos sitzt die Delegation des Völkerbundes. Die Herren haben sich vormittags das frisch erzeugte Pompeji angeschaut und möchten rechtzeitig zum Diner kommen.

*

Wie bekannt, haben die Japaner in ihrem Ultimatum gefordert, der Bürgermeister von Groß-Shanghai möge den Boykott japanischer Waren verbieten, den Nationalen Rettungsverband auflösen, die Boykott-Führer verhaften und Buße für die Tötung eines japanischen Mönches gewährleisten. Das Ultimatum wurde rechtzeitig angenommen, am 28. Januar 1932. Trotzdem begannen die japanischen Marinetruppen um halb elf Uhr nachts eine Reihe von Straßen zu besetzen, die, von der Internationalen Niederlassung ausgehend, durch chinesisches Gebiet führen und von der Polizei der fremden Mächte kontrolliert werden.

Die Japaner hofften, am selben Tag nicht nur Tschapei zu besetzen, das benachbarte dicht bevölkerte chinesische Fabrikviertel, sondern auch das ganze Ufer des Whangpoo bis zu seiner Mündung in den Jangtsekiang. Bereits am nächsten Morgen meldeten die Tokioter Telegraphenagenturen die Eroberung von Wusung. Jedoch zu Unrecht. Die in Tschapei eingedrungenen Truppen (angeblich 12 wollten sie dort nur den Himmelstempel zerstören, wo das Boykott-Komitee seinen Sitz hatte) waren nicht weit gekommen. Sehr bald hatte die chinesische 19. Armee den Vormarsch der Japaner gestoppt. Die Schlacht entwickelte sich in einer Frontlänge von fünfundzwanzig Kilometern, und dauerte sechs Wochen. Zehntausende von Toten, Zehntausende von Verwundeten, Zehntausende von Häusern forderten diese Kämpfe. Gefangene wurden nicht gemacht. Pardon wurde nicht gegeben.

Erst am 4. März wurde Wusung genommen.

*

Aus den Häusern des Settlements konnte man dem Krieg zugucken wie aus einer Proszeniumsloge. Nach dem Abendbrot legte man die Serviette zusammen und ging ans Fenster. In bunter Abwechslung entfaltete sich das Feuerwerk, es zischte aus den Panzerkreuzern, senkte sich aus den Flugzeugen und schwang sich aus den Mörsern. Feuer und Material spritzten aus der Luft abwärts, und in der gleichen Sekunde spritzten Feuer und Material in die Luft aufwärts. Spiel einer Sekunde, einer Sekunde, in der Menschenleben und Menschenbezirke vernichtet wurden.

Weil es verboten war, zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens in den Straßen zu sein, mußte man schon um halb zwölf an den Spieltisch oder in die Tanzgesellschaft eilen, wo man eben bis fünf Uhr blieb.

Am Tage merkte man im Settlement fast nichts davon, daß nebenan Greuel auf Greuel sich begab. Schiffe, Straßenbahnen, Rikschas fuhren ihre Bahn, Kinos spielten, Firmen handelten, Zollbehörden amtierten, Zeitungen 13 erschienen, dieweil am Firmament Granaten einander kreuzten, dieweil Straßenzüge brannten, dieweil Kinder von zusammenkrachenden Häusern begraben wurden, dieweil Familien flüchteten und dieweil immer wieder, immer wieder Menschen getroffen zu Boden sanken.

Die Völkerbundskommission hatte sich mit der Besichtigung der Schlachtfelder Zeit gelassen, und so räumten die Japaner den Kriegsschauplatz ein wenig auf. Wie Nestroys Holofernes: »Schafft's dö Leichen weg, i kann dö Schlamperei net leiden.« Es hätte wirklich nicht gut ausgesehen, Gruppen hingerichteter Chinesen und Chinesinnen, Leichen mit Knebeln im Mund, mit abgehackten Gliedmaßen. Solcher Anblick hätte den Herren vom Völkerbund, die mit Empfängen, Tees, Diners und Soupers belastet sind, den Appetit verderben können. Unmittelbar nach der Besichtigung von Tschapei und Wusung aßen sie im Cathay-Hotel, das Festmahl war von den Veranstaltern des Krieges veranstaltet, obwohl Shanghai eigentlich in China und nicht in Japan liegt. Es gab sechzehnerlei Weine und Sekte, Upman-Zigarren (Ladenpreis 1 Dollar 60, in eingeschliffenen Rundgläsern aus Havanna importiert) und eine ausreichende Speisenfolge:

Dinner given by The Japanese Minister to China
in honour of The Commission of Inquiry
of The League of Nations
Menu:  Oeufs de Beluga gris perlés
Consommé double en Tasse
Paillettes d'or
Turbotin Ambassade
Coeur de filet Armenonville 14
Pommes jetée Promenade
Petits pois fins
Asperges froides Sauce Vincent
Dindonneau au Parfum des Gourmets
Salade Gauloise
Mousse Glacés Cathay
Corbeilles de Mignardises
Café filtre

*

In den sechs Wochen, da die Pferde, Jockeis, Totalisatoren und Buchmacher des Rennplatzes von Kiangwan feierten, sah der Rasen Kämpfe, große, aufregende, aber Kämpfe ohne Start und ohne Finish und ohne Gewinne, wie dieser ganze Krieg. Allzusehr ist die Rennbahn nicht beschädigt. Ihre Vernichtung war den japanischen Kriegsherren nicht so wichtig.

Wichtig war ihnen zum Beispiel die Labour University, überhaupt alle chinesischen Schulen, Bibliotheken, Druckereien. Von denen sollte nichts übrigbleiben. Von der Arbeiteruniversität in Kiangwan blieb wirklich ebensowenig etwas übrig wie etwa von der Commercial Press und deren Unikaten alter Drucke. Das Denkmal des Universitätsgründers setzten sich die japanischen Schützen aus langer Weile zum Ziel, bis der steinerne Kopf in den Sand rollte. Bevor die Völkerbundskommission kam, hat man den Torso vom Sockel gestürzt und zerstampft, damit sie dieses Denkmal des überflüssigen Vandalismus nicht zu sehen bekomme. Nur wenn man zu Fuß die Schlachtfelder durchstreift, findet man auf dem Müll die Gliedmaßen des steinernen Gelehrten unter zerrissenen Universitätsmatrikeln und Kollegienheften. 15

Auch die deutsche Universität von Tungchi ist zerschossen. Sie steht abseits, ringsumher, kilometerweit ist freies Gelände, von Zufallstreffern konnte sie nicht berührt werden. Japan zielte hierher, Japan nahm auf die schwarzrotgoldene Flagge keine Rücksicht, da die Hörer dieser Hochschule Chinesen sind. Eine Fliegerbombe wurde in die Maschinenhalle geworfen, aus Schiffsgeschützen ins Physiologische Institut gepfeffert, ins Auditorium Maximum, in die Klinik und in die Dozentengebäude. In der Mitte des Fußballplatzes sind jetzt zum Scherz und dennoch mit deutscher Gründlichkeit alle Granathülsen aufgestellt wie Kegel.

Je näher man an das Fort herankommt, desto restloser sind Natur und Siedlung ausgemerzt. Nicht Bretter sind Überbleibsel der Holzhäuser, sondern Splitter, nicht Steine sind Überbleibsel der Steinhäuser, sondern Staub. Die Felder entlang des Wusung-Creek (Kanal), wo die Japaner Brücken zu schlagen versuchten, sind Kratergebiet geworden; kein Quadratmeter blieb unzerfetzt, selbst die ummauerten Särge, die vor den Häusern und in den Gärten am Rand der Reisfelder stehen, barsten im Bombardement.

Wusung war Ton und Ziel der Schiffsgeschütze. Vom Fluß her, aus unmittelbarer Nähe, feuerten die Torpedobootzerstörer und die leichten Kreuzer Japans auf die Drehtürme und die Besatzung. China wollte die Schifffahrt seines Hafens nicht beeinträchtigen, sich nicht durch Gefährdung irgendeines europäischen Dampfers die offene Feindschaft Europas zuziehen. So schoß Wusung nicht auf die Schiffe, die auf Wusung schossen, wie die Chinesen ja auch aus Tschapei keinen Ausfall auf die 16 japanische Angriffsbasis Hongkew machten, weil sie an den Grenzen des Internationalen Settlements gelegen war. Wusung mußte sich ohne richtige Gegenwehr erschlagen lassen.

Japans Flagge mit der roten Sonne und den roten Sonnenstrahlen flattert über dem Leichnam Wusung. Bevor die Chinesen abzogen, bohrten sie Dynamit-Patronen in die Panzergewölbe, in die Kanonenläufe, in die Schienenlafetten. Druck auf den Knopf, und ein Erdbeben begrub die Feste. Verkrümmt und verkrüppelt und verstümmelt bieten sich die Stahlrohre der Geschütze dar.

Die Sonne auf dem Fahnentuch ist wie eine runde Wunde, aus der nach allen Seiten Blut trieft. 17

 


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