Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

155 Tage nach der Aussaat beginnt die Baumwollernte (normalerweise). Mitte April wird auszusäen und Mitte September zu ernten begonnen.

Und die Kamelkarawanen,

und die Pferdewagen,

und die Lastautos,

die sich jahraus, jahrein, tagaus, tagein über die felsigen Riegel von Nord nach Süd begeben, bringen auf dem Rückweg die Säcke mit der weißen, flockigen, noch kernreichen Last. Ihr Ziel sind die Baumwollreinigungsanstalten von Mittelasien. 67 gibt es jetzt mit 43.327 Kreissägen. Im vorigen Jahr gingen 247.700 Tonnen reiner Faser in die Textilfabriken, in diesem Jahr werden es 527.800 sein, also eine Erhöhung um 113,1 Prozent!

Sehen wir uns eine solche Fabrik an, Gelegenheit gibt es genug dazu auf den Sowchosen und in den Städten. Überall sind Arbeiter dabei, die Maschinerie für die Septemberernte vorzubereiten.

*

Wir unterhalten uns mit Genossen Galejew, der schon in der Zarenzeit an der hydraulischen Presse arbeitete. 198

»Vier oder fünf Entkernungsbetriebe,« so erzählt er, »gab es damals. Die Belegschaft bestand aus Russen, Tataren und ›Ssarten‹, das war ein wegwerfendes Wort für Usbeken und Tadschiken.

An der Wage und am Motor arbeiteten die Russen. Die an der Wage machten ein gutes Geschäft. Sie legten die zu übernehmende Ware auf, verschoben das Zünglein mit dem Bleistift und arretierten es. Zumeist war das gar nicht nötig, die Skala war dem Wagemeister zugekehrt. Die Bauern standen abseits und warteten auf den Schein. Bei jedem Sack von etwa 112 Kilo wurden sie um zwei bis drei Kilo betrogen.

An der Presse und am Gin bekamen wir einen Rubel Taglohn bei vierzehnstündiger Arbeitszeit. Alle Tataren arbeiteten dort, aber nicht alle, die dort arbeiteten, waren Tataren. Im Pressekasten mußte immer einer von uns die aus dem Gin kommende Baumwolle feststampfen, weil es damals noch keine Trambowka gab, keinen maschinellen Stampfer. Mehr und mehr Wolle kam in den Kasten und schließlich tanzte der Arbeiter oben. Dann trat er zur Seite, der Kasten wurde geschlossen, und der Boden hob sich hydraulisch gegen den Deckel, alles was dazwischen war, zusammenpressend zu Baumwollballen.

Eines Tages stampfte der Arbeiter noch ganz unten, als in einem Gin Feuer ausbrach. Die Baumwolle fiel brennend in die Presse, der Mann stand in einem Flammenmeer, konnte aber den oberen Rand nicht fassen, um sich hinaufzuziehen. Er schrie wie wahnsinnig. Endlich zerrten wir ihn heraus, – er war schon halb verbrannt und starb gleich. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder, aber die bekamen keine Entschädigung, weil er ein Perser war. Wir mußten 199 sammeln, damit die Familie nach Persien zurückfahren konnte.

Einem anderen Arbeitskollegen wurde von einem zufallenden Deckel der Kreissägen der Arm weggerissen. Das Gericht sprach ihm eine Unfallsrente von drei Rubel im Monat zu.

Sieh meine Hand an – mir wurden zwei Finger abgerissen. Ich habe mich erst gar nicht auf Schadenersatzansprüche eingelassen.

Die Usbeken und Tadschiken hatten es noch schwerer als wir, achtzehn Stunden am Tag für 60 bis 80 Kopeken. Sie trugen die ankommenden Säcke zur Wage, von der Wage zum Ambar, dem Magazin, und vom Ambar zum Gin, in den sie die Kapseln schütteten.

Unter diesen Schleppern waren viele gewesene Baumwollbauern, ehemals vermögende Leute. Du weißt, wie das bei uns üblich war, nicht? Der Bey bevorschußte die Ernte der Bauern. Er borgte sich das Geld zu 12 Prozent von der russischen Bank und lieh es mit 100 Prozent weiter. Aber Mohammed hatte doch verboten, Zinsen zu nehmen . . . Deshalb gab der Bey das Geld ohne Zinsen, – aber der Bauer mußte bei ihm für einen gleich hohen Betrag irgend etwas ›kaufen‹, einen Hammel zum Beispiel, der in Wirklichkeit sieben Rubel wert war, oder ein Pfund Tee. Dafür unterschrieb der Schuldner, der 100 Rubel erhalten hatte, einen Wechsel auf 200 Rubel ›für geliehenes Geld und gekaufte Ware‹. Konnte er nicht bezahlen, wurden die Wechsel protestiert, Haus und Boden gepfändet.

Nun blieb der Bauer gewöhnlich als ›Tascharakar‹, als eine Art Leibeigener auf seinem ehemaligen Besitz. Vom Bey bezog er unentgeltlich Baumwollsamen, bestellte die Pflanzung 200 und lieferte ihm dreiviertel der Ernte ab; ein Viertel durfte er für sich behalten. Die Kerne zermahlte er in einer Ölmühle zu Fett und Talg, – damit konnte er das Brot bestreichen, das er sich für den Erlös der Ernte kaufte, oder für den Verkauf der Ölkuchen, mit denen er kein eigenes Vieh mehr zu füttern vermochte, er hatte ja kein Vieh mehr.

Wer nicht als Sklave auf seiner Scholle blieb, nahm seinen Kitmin, die Baumwollharke auf die Schulter, und zog auf den Markt, um sich als Plantagenarbeiter zu vermieten. Die Jüngeren und Kräftigen wurden in der Zeit der Kampagne (von September bis Februar) von einem Partieführer für die Baumwollfabrik geheuert. Der Partieführer bekam für die Arbeit aller im Akkord bezahlt, gab aber seiner Mannschaft nur Taglohn, du kannst dir vorstellen, wie er antrieb.

Man ging kaputt dabei. Bedenke, achtzehn Stunden lang mit mehr als hundert Kilo auf dem Buckel. Die Arbeiter hatten Geschwüre auf dem Rücken und gingen ganz krumm, auch wenn sie nicht beladen waren.

Nu, eto bylo!«

Das heißt: Nun, das ist gewesen.

*

Jetzt ist es besser und wird noch besser werden. Die vom Wachsch-Stroj erzeugte Elektrizität wird die Maschinen treiben, vorläufig besorgen das die Flugzeugmotoren.

Riesenröhren saugen die Bestände aus dem Lagerraum in den Fabrikraum, aber den Staub lassen diese seltsamen Staubsauger auf der staubigen Wolle. Erst in den Separatoren wird alles Zeug fortgewirbelt, das nicht gesponnen werden kann, die Reste von Erde, Blättern und Kapseln, der Schmutz und Staub. Nur die Kerne mit der Faser fallen 201 nicht in ihre Kompetenz, sie fallen in die Kompetenz der Egreniermaschinen, der Gins, deren Erzeugung wir in der neuen Taschkenter Fabrik zugesehen haben.

Distributoren, Zufuhrtische, führen der Maschine die gelockerte und entschmutzte Fasermasse zu. Schon fletscht Mister Gin seine spitzen, schräggestellten Zähne, sein nimmermüdes, nimmersattes Gebiß, das sich unausgesetzt nach Fraß umdreht, vierhundertundfünfzigmal in der Minute.

Du zitterst, du weicher, weißer Flaum, du zitterst auf dem Tisch, der dich dem gezahnten, gesägten, rasend kreisenden Rachen entgegentreibt, du fürchtest, zerfleischt zu werden mit Haar und Kern.

Zittere nicht, der Mensch, der nur dein Bestes will (für sich), hat zwischen dich und jenes Gefletsch ein engmaschiges Gitter geschoben, durch das die Zähne zwar deine Fasern erfassen und an sich zerren, aber sie nicht zerbeißen und zerreißen dürfen. Eine Zahnbürste, bewegt mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Kiefer, der seine Zähne nach dir spitzte, putzt sie ihm weg.

Mit heiler Haut davongekommen, mußt du noch eine Bedrückung erleiden: in der Hydropresse unter 300 Atmosphären gesetzt, wirst du eine jener Einheiten, mit denen man auf den Börsen von Washington, Liverpool und Bremen Ballen spielt. Du aber wirst nicht nach Libres gewogen und nicht in Washington und Liverpool und Bremen gehandelt, sondern wirst nach Pud gewogen und überhaupt nicht gehandelt, sondern behandelt in den Spinnereien der Sowjetunion.

Vergessen wir über der wichtigen Faser nicht des wichtigen Kerns, der zwischen Kreissäge und engmaschigem Rost niederfiel, gelöst von dem mit ihm so verwachsen gewesenen 202 Büschel langer Wolle. Auf laufendem Band fährt er zur Lintermaschine, die zupft ihm den Rest des Flaums vom Leibe. Und noch immer ist der Kern nicht minder kostbar als die Faser. Man braucht ihn zur Herstellung von Margarine, künstlichem Olivenöl, Brennöl und Seife.

Der große elektrische Staubsauger macht die Arbeit, die einst der verachtete »Ssarte« tat, er trägt die Kapseln zum Gin. Der Deckel über jeder Welle mit den sechzig Kreissägen ist gesichert, auch dem Unbedachtesten kann der Arm nicht mehr abgerissen werden.

In die Kammer der hydraulischen Presse paßt der Mörser, – kein Arbeiter steigt jetzt hinab, um die Wolle festzustampfen und tanzend, stanzend mit ihr zu verbrennen. Nicht mehr gehört die Fabrik dem Bey, sie gehört der Allgemeinheit, sie zahlt Vorschüsse an die Bauern und nimmt keine Zinsen, obwohl die Verbote Mohammeds außer Kraft gesetzt sind. Schon im Kolchos wurde die Ware gewogen, der Übernahmebeamte hat das Gewicht nur zu kontrollieren. Der Vertreter des Glaw-Chlop-Kom, des Baumwollkomitees, schreibt Gewicht und Sorte der gepreßten Ballen in sein Buch und die Nummer auf jedes Stück, das auf den Bahnhof geht, zur Fahrt nach den Garnspinnereien von Iwanovvo-Wosnessensk oder Orjechowo-Sujewo.

Die Usbeken und Tadschiken, einst Tragtiere, sind Monteure, Mechaniker und Maschinenschlosser geworden, sie arbeiten nicht mehr achtzehn Stunden, sondern acht, bekommen nicht 80 Kopeken, sondern mindestens fünfmal soviel Taglohn. Sie besuchen Elementarkurse, manche auch das Technikum, um Ingenieur zu werden.

»Ist es besser als früher?« Gefragt wird ein Alter, der die Klappen der Saugröhren ölt. 203

»Nu, eto jest,« lächelt er. Das heißt: es ist.

*

Nur die Kerne der Ersten Sorte, der untersten Früchte der Staude, die bereits im September weiß und geöffnet sind und bei der ersten Ernte gepflückt werden, taugen zur Ölfabrikation. Was bei der zweiten Ernte eingebracht wird, die sogenannte Minus-Sorte, bei der dritten Ernte das sogenannte Meschumok, bei der vierten Ernte die »Zweite Sorte« und gar bei der Nachlese im Dezember und Januar (geschlossene Kapseln, »Dritte Sorte«), hat Kerne, die nur zur Heizung und zur Verfütterung verwendet werden können.

Hier im Hof der Entkernungsanstalt erheben sich ganze Gebirge von Kernen. Unter ihnen erkennen wir solche Erster Sorte. Sollten sie nicht längst in der Ölmühle sein, in Andischan oder Buchara? Wir haben auch in den Mahlzeitenfabriken der Sowchose und in den Küchen der Speisehallen kleine Ausläufer dieser Gebirge Erster Sorte gesehen, – man heizt mit den kostbarsten der Baumwollkerne! Warum verbrennt man das unerzeugte Öl?

Die Befragten zucken die Achseln. »Der Transport.« Eine Eisenbahn ist geschaffen worden, Wege mit Kosten von Millionen Rubeln erbaut, Autos fahren vom Fuß des Pamir bis zu den Minaretts von Samarkand, von der chinesischen, afghanischen, indischen und persischen Grenze bis in die Herzgrube Mittelasiens, bis nach Taschkent. Aber das reicht alles nicht aus. Die neuen Republiken geben neue Güter und bedürfen neuer Güter – Maschinen und Manufakturwaren wollen nach Süd, Baumwolle und Seide rollen nach Nord – Menschen, die früher kaum ins nächste Kischlak ritten, reisen 204 mit Bahn und Auto zu Kongressen und Kursen, nach Moskau und Leningrad, – Saatgut und Ingenieure, Chemiker und Lebensmittel, Agronomen und Baumaterial haben in Tadschikistan zu tun, – ganze Dörfer übersiedeln in neubewässertes Land, – Brigaden fahren in die Betriebe, Bauern auf Urlaub, Arbeiter in Sanatorien – kann jemals auch ein verhundertfachter Transport dem immer stärker pulsierenden Leben von Millionen genügen? Wieder und wieder stellt man sich diese Frage, auch jetzt, da man sieht, wie herrlich Baumwolle aus dem Boden gestampft und wie schändlich der Baumwollkern in den Boden gestampft wird.

»Der Transport . . .« antworten die Befragten. Solange die neue Bahn in die Grenzlande nicht ein zweites Geleise bekommt, ist die Vereinigung Asiens mit Europa nicht vollendet. Man muß die Bahnen über Stalinabad hinaus bis an die afghanische Grenze führen; eine Strecke von Termes nach Kurgan-Tjube, eine Strecke von Stalinabad nach Sarai-Kamar, – kein Bezirk darf weiterhin ohne Verbindung mit der Welt bleiben.

Warum aber muß das alles erst jetzt geschaffen werden? Warum gab es nicht schon längst eine Eisenbahn, die von London oder Paris direkt nach Indien fährt? Warum braucht man, hundert Jahre nach der Erfindung der Eisenbahn, viele Wochen Schiffahrt zu einer Reise nach Indien, das man auf dem Landweg erreichen kann?

Warum? England wollte den Weg in seine Kolonie nicht durch das Reich seines Rivalen führen, des Zaren. England wollte seinen indischen Sklaven nicht die Möglichkeit geben, sich einfach in den Zug zu setzen und davonzufahren. Ist es nicht ganz klar, warum die Welt zerschnitten und abgeschnitten ist? 205

Der Transport reicht nicht aus. Die Post kommt spät, die Waren und das Werkzeug kommen spät, die Arbeiter kämpfen mit Schwierigkeiten.

Wir schauen auf die Berge von gutem Material, das verdirbt, weil alle neuen Bahnen noch nicht ausreichen.

»Nu, eto budet,« sagen die Arbeiter, da sie uns mißgelaunt sehen.

Das heißt: es wird sein. 206

 


 << zurück weiter >>