Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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Eine Hauptstadt entsteht: Stalinabad

»Sehen Sie dorthin! – Und dort . . . Sehen Sie dieses Haus . . !«

Man mußte schon allen Vorrat an verständnisvoller Nachsicht aufbieten, um die enthusiastischen Gebärden und Ausrufe nicht übertrieben zu finden, mit denen die Stalinabadenser auf der Fahrt vom Bahnhof unsere Aufmerksamkeit nach rechts und links lenkten.

»Dort – dort, das Gerichtsgebäude. Sehen Sie dorthin, das ist das Elektrizitätswerk. Unser Pädagogisches Technikum. Chauffeur,« (wir waren Insassen eines normalen Autobus, der voll von ortsansässigen Fahrgästen war) »biegen Sie links ein, wir wollen dem Ausländer das neue Zentralkomitee zeigen.«

Und wenn gar nichts zu sehen war als eine zerfallene Hütte, dann gerieten unsere Mitpassagiere vollends in Ekstase:

»Sehen Sie dorthin, sehen Sie dorthin, so haben die Häuser von Stalinabad früher ausgesehen.«

Früher war hier ein Dorf und das Dorf hieß Djuschambe und Djuschambe heißt »Montag«. Am Montag war Markt, an den anderen Tagen der Woche war nichts. Sechzehn Werst 85 von hier residierte der Chan von Gissar, dem man Steuern und junge Mädchen abzuliefern hatte.

»Sehen Sie dort, das ist das Spital, das einzige mit Mörtel beworfene Haus aus der Zeit vor der Revolution. Dort wohnte 1920 der Emir.«

Die Jungbuchareser Revolutionäre und Frunses Soldaten waren ihm auf den Fersen. Olim Chan, ein Wilhelm II. aus der Dynastie der Mangiten, flüchtete über die nächste Grenze ins neutrale Ausland.

Sein bevollmächtigter Vertreter wird Enver Pascha, vor dem Weltkrieg Führer der jungtürkischen Revolution, während des Weltkriegs Kriegsminister der Türkei, nach dem Weltkrieg von Kemal Pascha abgesägt. Enver hatte in Moskau um Unterstützung seiner abenteuerlichen Pläne gegen Englands mesopotamische Kolonie gefleht, und war dann als offizieller Gast in Buchara aufgetaucht, wo er das Militär der neuen Republik organisieren wollte. Als er sah, daß die Jungbuchareser für keinen Panislamismus zu haben waren, reiste er bei Nacht und Nebel nach Kurgan-Tjube, an die Grenze Afghanistans. Niemand weiß, daß Usman Chodschajew, der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees, mit ihm unter einer Decke steckt. Ihm schickt Enver einen Situationsbericht: auf Beschluß der Großmächte habe das letzte Stündlein der Sowjets geschlagen. Daraufhin folgt ihm Usman mit Ali Riza, dem Kommandanten der Miliz, zweihundert Kavalleristen und vierhundert Infanteristen.

Enver Pascha besetzt Kuljab, die größte Stadt im Süden Tadschikistans, erstattet regelmäßig Meldungen an den Emir, der ihn dafür in seinen Briefen »Hauptbefehlshaber aller Heere des Islams, Schwiegersohn des Kalifen und Nachfolger Mohammeds« nennt, Enver projektiert die 86 Wiederaufrichtung des Araberreiches Mawerannahr, des Landes jenseits des Flusses Amu-Darja (Oxus), und versucht, die Bassmatschenbanden in seiner Hand zu vereinigen. Aber Ibrahim Beg, der andere Vertrauensmann des emigrierten Emirs, der inzwischen Djuschambe eingenommen hat, sieht eifersüchtig auf den Fremden und läßt ihn eines Tages schlankweg festnehmen. Fünf Tage lang behält er den »Hauptbefehlshaber und Nachfolger Mohammeds« in Haft.

»Sehen Sie dort das Haus? Darin hat Enver Pascha seine Proklamationen an die Muselmanen verfaßt.«

Ja, wir sehen das Haus und wir kennen auch die Proklamationen. Nach Norden, wo die Lehren des Marxismus immer stärkeren Anhang fanden, schrieb er kein antisoziales und kein religiöses Wort. Dorthin verkündete er, der Kommunismus sei nur für die industriellen Staaten gedacht, Marx, Engels und Lenin hätten in Deutschland, England und in der Schweiz das System ausgearbeitet, jedoch für die Länder ohne industrielle Lohnsklaverei und ohne Finanzkapitalismus sei es undurchführbar und müsse binnen wenigen Monaten Schiffbruch erleiden. (Er kehrte also für Asien die Parole um, die zur selben Zeit in Europa von den Unabhängigen und später von den »linken« Sozialdemokraten ausgegeben wurde: der Kommunismus könne wohl im rückständigen Osten, niemals aber im entwickelten Westen Anwendung finden.)

In seinen Sendschreiben an die Südbezirke Mittelasiens redete Enver Pascha anders. Er beschwor die Bauern, den heiligen Krieg gegen die bolschewistischen Giaurs und für den Islam zu führen, ohne von den englischen Giaurs zu sprechen, die ihm ihre Hilfe angedeihen ließen, um auch weiterhin Millionen von Mohammedanern ungestört unterjochen zu können. 87

Die Regierung der Bucharischen Volksrepublik schickte Truppen gegen ihn, Enver Pascha zog sich mit seinen Soldaten und Bassmatschen nach Osten zurück, bis hinter den Engpaß von Chowaling. Im Dorf Sarichosor, Bezirk Baldschuan, wurde er am 4. August 1922 erreicht und getötet. Die Kugel war durch den Fez in den Kopf gedrungen, in seiner Brusttasche fand man das Eiserne Kreuz und Dokumente, aus denen man erkannte, wer der Tote war.

Nach ihm übernahm ein anderer türkischer Exgeneral, Chodscha Sami Bey, genannt Selim Pascha, das Kommando und bedrängte von neuem Djuschambe. Als er sich geschlagen sah und von Ibrahim Beg als Feigling beschimpft wurde, ritt er angesichts der Truppen auf seinem Roß Duldulj in den reißenden Pjandsch, um zu sterben. Seine Leiche wurde neben der Envers in einer Felsenhöhle bestattet. Das Heer löste sich auf, aber das Bandenwesen blühte weiter.

Am 14. März 1925 wurde die Autonome Republik Tadschikistan (im Rahmen der Sowjetrepublik Usbekistan) gegründet und das Dorf Djuschambe zur Hauptstadt erklärt. Die Mitglieder des Revolutionskomitees trafen im Aeroplan ein.

»Chauffeur, bitte, fahren Sie nach rechts. Wir müssen dem Ausländer den Kreml zeigen.« So wurde das erste Regierungsgebäude ironisch genannt. Eine Art Karawanserei aus brüchigem Lehm. In der einen der kaum zwei Meter hohen Kammern amtierte der Staatspräsident, in der anderen der Justizminister, in der dritten der Finanzminister. Über dem ausgedienten Stall, darin noch heute Fliegen und Bremsen wohnen, stand in tadschikischer und russischer Sprache: »Volkskommissariat für Gesundheitswesen«. Der Ahornbaum im Hof war der Sitzungssaal, unter seinem Plafond aus 88 Zweigen konnten, wenn es noch so heiß war, die Kabinettsitzungen im kühlen Schatten abgehalten werden, das heißt bei 42 Grad.

Um neu zu bauen, brauchte man Material. Von Sibirien und Archangelsk bis an die Grenze der Autonomen Republik Tadschikistan, viele tausend Kilometer weit, ging es leicht, von Termes nach Djuschambe schwer. Frachtmittel war das Kamel. Dem wurde rechts ein Balken angebunden, links ein Balken, die schleiften im staubigen, lehmigen Boden, und wenn die Karawane die 250 Kilometer zurückgelegt hatte, waren die Balken um 70 Zentimeter kürzer als auf dem Bahnhof von Termes. Dreimal soviel Zeit wie zu einer Fahrt nach Amerika brauchten die in Nishnij-Nowgorod und Rjasan angeheuerten Arbeiter zur Reise hierher.

Im Jahre 1925 wurde ein Postamt errichtet. »Sehen Sie, dort links, das ist das Bürohaus für das Zentralkomitee der Partei mit einem Wohngebäude, – das wurde auch 1925 gebaut und die Schule und dort die zwei Kleinhäuser. Viele Arbeiter sind dabei ums Leben gekommen, die Bassmatschen haben aus dem Hinterhalt geschossen.«

66 Bauarbeiter wurden an der Stelle begraben, wo jetzt der Justizpalast steht. Unter dem Schutz einer Postenkette baute man weiter.

1926: die zweistöckige Mühle dort mit elektrischem Betrieb und eine Speisehalle; damals besaß man ein Lastauto. 1927: einige Brücken, das erste Haus der Bauern, »sehen Sie!«, die Badeanstalt, Finanzkommissariat, Bezirkskomitee, eine Druckerei, das Haus der G. P. U. – »Sehen Sie?« Man hatte schon fünf Lastautos.

Nun ging es schnell vorwärts: Haus der Presse aus Eisenbeton, zweites Haus der Bauern. – »Chauffeur, zum Haus 89 der Roten Armee!« – Theater, Bibliothek, »sehen Sie, unser Park!« – ein schöner Park mit Adambäumen, Asiatischer Eiche (Quercus asiatica), Ahorn und Obstbäumen, »da steht das Handelskommissariat,« – drei tadschikische, eine russische und eine usbekische Lehrerbildungsanstalt, ein Lenindenkmal, die Arbeiterhäuser, Rotes Teehaus, eine Dampfmühle, eine Parteischule, das Pharmazeutische Magazin mit der Staatsapotheke, Kindergärten, Schulen, Elektrizitätswerk, Autostraßen.

Am 1. Mai 1929 fuhr der erste Eisenbahnzug in Djuschambe ein, direkter Schienenstrang nach Moskau, Berlin, Paris. Der Flugpark besteht jetzt aus 28 Aeroplanen. Das Baubudget hatte 1927/28 anderthalb Millionen Rubel betragen, 1929 fünf Millionen, 1930 achtzehn Millionen, 1931 dreißig Millionen, davon achtzehn für Straßenbau und zwölf Millionen für Hochbauten. Früher wurden die Bauplätze nach Willkür ausgesucht, jetzt wird nach einem Lageplan gearbeitet.

Im Juli 1929 beschloß der außerordentliche Andshuman (Sowjetkongreß): Tadschikistan tritt als selbständige Sowjetrepublik in die Union der Soz. Sow. Rep. ein. (Nach dem Nationalitätenprogramm der Sowjetunion ist anerkannt »das Recht aller Nationen, ohne Rücksicht auf ihre Rassenzugehörigkeit, auf volle Selbstbestimmung, das heißt Selbstbestimmung bis zur staatlichen Absonderung«.) Der jahrhundertelange Traum der Tadschiken von nationaler Selbständigkeit war erfüllt.

Dreieinhalb Jahre vorher, auf dem ersten Andshuman am 1. Januar 1926, war eine Abordnung von Frauen erschienen. Obwohl sie tiefverschleiert waren und nur kurze Zeit anwesend blieben, erregte diese Tatsache Entsetzen unter den 90 Delegierten, viele ritten empört nach Hause. Auf dem Unabhängigkeitskongreß von 1929 saßen weibliche Delegierte unverschleiert neben den Männern, traten als Rednerinnen auf, und niemand wunderte sich mehr. Über tausend Frauen sind bereits gewählte Mitglieder der Dshamagate, der Kreisvertretungen.

Auch der Beschluß, Djuschambe den Namen Stalinabad zu geben, wurde auf diesem Kongreß gefaßt.

»Sehen Sie dort das Kino? Dort war der Andshuman.«

*

Jahrhunderte sind übersprungen. Ohne den Kapitalismus, die Ausbeutung durch die Maschinerie kennengelernt zu haben, kommt das Land aus dem Joch des mittelalterlichen Feudalismus geradenwegs in die Zeit des sozialistischen Aufbaus, aus der Naturalwirtschaft in die Kollektivwirtschaft.

Hier in der Stadt treffen wir die Söhne des Landes bei Beschäftigungen an, von denen sie sich in ihrem Dorf nichts träumen ließen. Einer unserer Freunde namens Alibaj (»Ollyboj« spricht man das aus, ebenso Tadschikistan: »Todschikiston«) führt das Kreditkonto in der Filiale der Mittelasiatischen Bank, ein anderer macht im Tropeninstitut chemische Analysen und hat ein weibliches Pendant in der Apotheke, das Mädchen Bara-at, das uns nach einem lateinischen Rezept ein Medikament gegen Papatatschifieber mixte.

Nasratullah Maksum, der Staatspräsident, kann gedrucktes Russisch nur schwer lesen, geschriebenes überhaupt nicht (sein ältester Sohn, Redaktionsmitglied des »Todschikistoni Surch«, liest ihm Marx und Lenin vor, soweit sie tadschikisch noch nicht erschienen sind), die übrigen Bauern im Zentralexekutivkomitee verstehen gar nicht russisch. Der 91 Regierungspräsident Abdurachim Chodschibajew ist ein Tadschike wie alle Volkskommissare, mit Ausnahme Nissar Muhammedows, der das Kommissariat für Unterrichts- und Bildungswesen leitet, eines Revolutionärs aus Afghanistan; die Frau dieses angsteinflößenden Hünen ist eine zarte, deutschsprechende Kurländerin.

Alle Mitglieder der Sowjets, alle Leiter der Behörden sind Tadschiken, nur die Spezialisten, technische, ärztliche und agronomische, sowie einige Organisatoren der Partei, sind vorläufig Russen, aber en cadre ist schon der Schichtwechsel formiert. Gussejnow, Parteisekretär von Tadschikistan, ist Turkotatar.

Der Volkskommissar für Justiz ist kein Jurist. Der Volkskommissar für Gesundheitswesen ist kein Arzt. An der Moskauer Universität waren in diesem Jahr fünfzehn Plätze für Tadschiken reserviert, sie konnten mangels geschulter Anwärter nicht besetzt werden. Während viele Knaben der kulturell rückständigeren Kirgisenstämme in der Zarenzeit von den Missionären unter der Bedingung ausgebildet wurden, daß sie zur griechisch-orthodoxen Kirche übertraten, gab es im Reich des Emirs nichts dergleichen. 1932 werden die ersten Jahrgänge die tadschikischen Mittelschulen und Arbeiterfakultäten absolvieren und die Hochschulen besuchen können. (Vom pausbackigen Rachimbajew abgesehen, der ein technischer Leiter des Wachsch-Stroj ist, eines Volkes erster Ingenieur.)

Alles lernt. Vor der Revolution konnten zwei Prozent der Untertanen des Emirs lesen, von denen wohnte ein halbes Prozent im Gebiet des heutigen Tadschikistan, also nur 6000 von 1,200.000 Bewohnern. Diese 6000 hatten gelernt, in der ihnen unverständlichen arabischen Sprache die Suren zu 92 surren; selbst die Lehrer konnten oft nicht einmal ihren Namen schreiben.

Die ersten weltlichen Schulen wurden 1926 gegründet: sechs Stück. Diese Zahl erhöhte sich bis zum Ende 1926 auf 113 Schulen mit 2324 Schülern – keine einzige Schülerin gab es. Im Jahre 1929: 500 Schulen mit 28.400 Schülern und 1500 Schülerinnen. 900 Schulen bestehen jetzt, davon sechs russische für die Kinder russischer Arbeiter. Von 119.000 Kindern im schulpflichtigen Alter genießen nunmehr 58.000 regelmäßigen Unterricht, darunter 11500 Mädchen. 75.000 Erwachsene haben Lesen und Schreiben gelernt. Durch die Errichtung neuer Schulen sollen im nächsten Jahr alle Knaben, 1933 alle Mädchen erfaßt werden; auch die Erwachsenen im Alter von 16 bis 39 Jahren müssen vom nächsten Jahre an in Abendkursen Elementarunterricht nehmen.

Die allerwichtigste und allerschwierigste Frage ist die des Lehrernachwuchses. Von den neun tadschikischen Lehrerbildungsanstalten in Usbekistan und Tadschikistan dienen fünf zur Heranbildung von männlichen Lehrkräften, drei von weiblichen, und eine, die Taschkenter, von männlichen und weiblichen.

Dieses Land, das vor fünf Jahren 99½ Prozent Analphabeten zählte, hat jetzt 16.000 Mittelschüler, die teils die erwähnten neun Pädagogischen Technika, das landwirtschaftliche Technikum und das Konservatorium, das überall in der Sowjetunion den merkwürdigen Namen »Musikalisches Technikum« führt, besuchen, teils in Taschkent, Moskau und Leningrad studieren. Schon hat die Stalinabader Tageszeitung »Todschikistoni Surch« eine Auflage von 11.000 Exemplaren, die Bauernzeitung 12.000, die vor einem Jahr gegründete 93 Jugendzeitung 8000 Exemplare, drei andere Blätter erscheinen in der Provinz.

Betrug also in Olims Zeiten die Zahl der Analphabeten sozusagen 100,5 Prozent, da jenes halbe Prozent aus Geistlichen und Beamten bestand, die ihr Wissen zur geistigen und realen Niederhaltung des Volkes benützten, so sind die neuen Leser und Schreiber im Sinne der Revolution erzogen. Auf die Bevölkerung können chauvinistische und religiöse Machenschaften nicht mehr widerstandslos einwirken, die Kommunistische Partei dieses Landes, das vor fünf Jahren zur Mehrheit auf Seite der Bassmatschen stand, zählt heute 6627 Mitglieder, davon 40,7 Prozent Tadschiken, 26 Prozent Usbeken, der Rest Russen, Kirgisen und Kasaken. Der Kommunistische Jugendverband hatte 1929 4424, heute 25.151, der Gewerkschaftsverband 6500 Mitglieder.

*

Gegen das Bandentum hat sich die Bauernschaft zu Abwehrtrupps, den »Roten Stöcken« zusammengeschlossen, und das ehemalige Stabsquartier Enver Paschas ist jetzt die Kaserne des tadschikischen Freiwilligen-Bataillons.

Viele Andenken an Bassmatschenkämpfe sind in dieser Kaserne. Da stehen die Pferde der gefangenen oder getöteten Kurbaschi; der Apfelschimmel von Alimartar Dotcho, der mit 350 Mann beim Dorfe Chodscha-Bulbular geschlagen wurde; der Hengst von Kurartik Beg, dem »Schielenden«, ist ein Equus Przewalski, ein Ur-Pferd; längs des Rückgrats verläuft, wie mit dem Lineal gezogen, ein schwarzer Strich, vom Hals geht quer der Streif der Wildesel, die Unterschenkel sind die eines Zebras. Herrliche Pferde, unkastriert, nur an den Vorderhufen beschlagen, aber alle mit 94 eiterndem Satteldruck, – unfaßbar, daß solche Reiter niemals den Sattel abnehmen. Wir sehen das Zaumzeug, es ist bunt und unpraktisch, bemaltes Holz, Leder und teppichüberzogene Strohkissen, der Sattelknauf oft spitzig.

»Und das Pferd des Loschkari boschi?« fragen wir den Bataillonsführer, der uns die Rosse der Bandenführer vorstellt.

»Auch ihn werden wir kriegen,« antwortet er, »auch den Loschkari boschi.« Loschkari boschi, »Haupt der Soldaten«, ist Ibrahim Beg, der Führer aller Banden.

Alimartar Dotchos Perserteppich ist da. Wo er ihn ausbreiten ließ, war das Stabshauptquartier, war die Offiziersmesse, war das Quartier des Kommandos. Veritable Richtschwerter: die Säbel der Bandenkämpfer. Manche der erbeuteten Gewehre sind Faktur ihrer Handhaber, – die aus Ästen und Türschlössern hergestellten Wildererstutzen unserer kriminalistischen Museen sind moderne Waffentechnik gegen diese Pistolen und Flinten. Wir sehen aber auch schon die neuen Fabrikate Europas, Winchestergewehre, Handgranaten, Mannlichergewehre, Mauserpistolen.

Man zeigt uns Photos und Pläne der unwirtlichen Höhen und Höhlen, dahin sich die tadschikischen Freiwilligen und die Roten Stöcke vorwagten, um Nester der Banden aufzustöbern, man zeigt uns ein Tableau mit den den Räubern abgenommenen Münzen, indische Rupien, afghanische Grans, chinesische, durchlochte Sapeks.

»Und die englischen Pfunde des Loschkari boschi?«

»Auch ihn werden wir kriegen. Ibrahim Beg glaubt selbst nicht mehr an seinen Sieg. Wo immer er auftaucht, schließen sich sofort die Bauern gegen ihn zusammen, melden sein Kommen den Nachbardörfern.« 95

*

Ewig wird es uns heiß überlaufen, wenn wir der Sommertage gedenken werden, die wir jetzt in Stalinabad erleben. Wir schreiben mit einer Füllfeder, in der die Tinte eintrocknet, schreiben in einem Zimmer, dessen Fenster tagsüber geschlossen und dicht verhängt sind, sonst käme die Hitze herein und ginge nimmermehr hinaus, wir schreiben auf einem Papier, auf das Schweißperlen tropfen. Je mehr wir schwitzen, desto mehr Kwas und Narzan trinken wir, je mehr Kwas und Narzan wir trinken, desto mehr schwitzen wir; acht Kilo unseres Körpergewichts haben sich bereits in Dampf aufgelöst.

Wir haben nur eine Schwimmhose an, und wenn's zu arg wird (manchmal wird's mitten in der Nacht zu arg), gehen wir baden und duschen, der Chaus steht im Garten. Auf dem Basar gibt es Gefrorenes, die Portion zu einem Rubel ist ihr Geld wert, schmeckt ausgezeichnet. Das Eis wird aus Kamelmilch gemacht, vielleicht wird sich das vom Auto verdrängte Kamel ganz dieser Produktion widmen. (Konditoren Europas, kauft Kamele!) Die Tadschiken schlürfen das Eis mit Selbstverständlichkeit. In der Schießbude des Parks zielen sie auf gemalte Aeroplane, die im Fall des Treffers abstürzen, und auf Eichhörnchen, die im Fall des Treffers einen Baum hinaufklettern.

Sehr viel zu tun hat der Photograph; welcher Orientale möchte nicht verewigt sein vor einer Alpenlandschaft samt Dampfschiff, Palmen und antiken Statuen? Die Photographie ist die neueste Erfindung für Tadschikistan, das Kino ist schon etwas Altes; die Filmfabrik »Tadschik-Kino« hat moderne Operateure und erzeugt auch Filme für den Export. Aber nun kann sich jedermann – ohne daß er sich bewegt! – binnen drei Minuten abbilden lassen, ist das 96 nicht der Gipfel des menschlichen Erfindungsgeistes? Ebenso tauchte hier das Grammophon auf, als das Radio längst alltäglich geworden war. Das erste Orchestrion, neulich aufgestellt im Park, läßt die Leute nicht zur Ruhe kommen. Was aber, Freunde, was aber soll erst werden, wenn hier aus unserer Großmutter Spieldose der Faustwalzer erklingen wird!

Seltsam verfitzt ist die Kurve der Entwicklung. Das Flugzeug, das mit den Regierungsmitgliedern in Djuschambe aus den Wolken herabschwebte, war das erste Fahrzeug in diesem Landstrich. Groß war das Staunen, aber schließlich, wenn Vögel fliegen, warum sollen es nicht auch Menschen können?

Das Auto war nicht dazu angetan, diese Sensation zu vergrößern. Im Gegenteil. Sind seine Räder aus unbekanntem Material, so ist es auch selbstverständlich, daß die Herstellung unverständlich ist. Hielt ein Auto im Dorf, brachte man ihm Heu und Wasser, wie man es von altersher dem Kamel, dem Esel oder dem Pferd jedes Gastes zu bringen gewohnt war. Es kam vor, daß die Bassmatschen aus ihren Flinten gegen die Scheinwerfer feuerten, sie glaubten, wenn sie dem Ungeheuer die Augen ausschießen, sei es blind und könne nicht mehr laufen.

Ungeheure Erregung, Fassungslosigkeit, Bewunderung erstand erst, als lange nach den Automobilen der erste Pferdewagen eintraf. Den Begriff kannte man aus dem Koran, und Pilger hatten erzählt, in Samarkand und in Buchara würden Sänften pfeilschnell von Pferden gezogen. Über das Gebirge waren sie aber nicht gekommen. Nun waren die Wagen da. Man umstand die hölzernen Räder, staunte diese Meisterwerke des Maschinenbaus an, fragte, wie so etwas erzeugt wird, ein rundes Holz aus einem Stück. 97

Inzwischen haben die Tadschiken chauffieren gelernt, und müssen in den von Kanälen durchschnittenen Tälern und auf den Felsenstraßen Leistungen vollbringen, von denen sich z. B. ein Berliner Chauffeur nichts träumen läßt, es gibt 1200 einheimische Traktorführer in diesem Lande, das die eiserne Pflugschar nie kennengelernt hat, wo noch heute auf den Privatfeldern mit dem hölzernen »Omatsch« gepflügt wird. Mit der Eisenbahn fährt man von der Saisonarbeit in die Heimat, kurzum, man hat sich an alle diese Erfindungen gewöhnt, sie begriffen.

Da kam plötzlich eine neue, eine, die sich nicht fassen läßt. Das Fahrrad! Nicht vier, sondern nur zwei Räder, sie sind hintereinander angebracht, von selbst kann das Fahrzeug nicht stehen, wenn sich aber ein Mensch zwischen die Räder setzt, hoch oben, daß seine Füße den Boden nicht berühren, so steht es nicht nur, sondern es fährt sogar, und der Mensch fällt nicht herunter. »Scheitan Arba – Fahrzeug des Teufels!« Sie bringen ihm kein Heu und kein Wasser, mag es verhungern und verdursten!

*

»Sehen Sie dort die Frau im Hintergrund der Bühne . . .«

Wir sahen gar nichts, denn im selben Augenblick ward es finster im Theater. Daß das elektrische Licht manchmal ausgeht, nimmt niemand Wunder, besteht doch das Wunder darin, daß es überhaupt elektrisches Licht gibt. Auf der Bühne des Nationaltheaters wurde einfach in dem Augenblick, da wir der Aufforderung, die Frau im Hintergrund zu sehen, aus technischen Gründen nicht Folge leisten konnten, eine Petroleumlampe angezündet. Dem Vortragenden, um den es dunkel wird in irgendeinem 98 Versammlungssaal, leuchtet eine Kerze zum Manuskript oder er spricht in der Finsternis weiter.

Nun soll bald der Warsob, ein Nebenfluß des Kafirnigan, das Licht liefern, nicht nur für Stalinabad, sondern weit über die Lande, nicht für 30, sondern für drei Kopeken die Kilowattstunde, und solcherart, daß nicht Störungen der Regel die Regel selbst sind.

Der Warsob-Stroj ist eine Hydrostation, siebzehn Kilometer nördlich der Stadt, auf einem Weg, auf dem uns der Chauffeur eine Vorstellung davon vermittelt, wie der vielberufene und niegehörte Rohrspatz zu schimpfen vermag. Und doch war vor einem halben Jahr dieser Weg noch nicht einmal »ein Hundesohn«, war nicht einmal wert der Aufforderung, seine Mutter zu notzüchtigen und dergleichen, er war nur ein Band aus Kot. Vor einem halben Jahr erhielt A. M. Gindin, 28 Jahre alt, parteilos, Absolvent der Timirjasew-Akademie in Moskau, den Auftrag des Taschkenter Hydro-Elektro-Stroj, nach Stalinabad zu fahren und ein Kraftwerk zu bauen. Der Ingenieur Gindin fand keine Wohnung in dem zur Hauptstadt Stalinabad aufgeschossenen Dorf Djuschambe, er schlief in der Kanzlei des Bauamtes, ritt ins Gelände, suchte, das Pferd an der Leine führend, den Fluß nach einer Stelle ab, wo sich gegebenenfalls 10.000 Pferdekräfte gewinnen ließen. Dann heuerte er zwei Arbeiter und warb die Bauern des nahen Dorfes Schafteh-Mitschgon zur Mitarbeit: »Ihr werdet auf einen Knopf drücken, und alles wird so hell sein wie in Djuschambe.« Einige fanden sich bereit mitzumachen und verlangten – Elektrizitätsarbeiter in einem Land der Naturalwirtschaft! – Auszahlung des Lohnes in Waren; grünen Tee, Lutschtabak, geblümte Tücher, Seidenstoff für Mäntel. Nach und nach 99 wurden andere Arbeiter angeworben, Kirgisen, Usbeken, Tadschiken und zwangsweise übersiedelte Kulaken aus Innerrußland, die sich die Qualifikation als Arbeiter erwerben wollen. Alle schliefen im gleichen Zelt, in Gindins Tasche war die Lohnkasse, draußen wieherte das angepflockte Verkehrsmittel, in den Bergen lauerten die Bassmatschen.

Eine Brücke wurde gebaut, eine Überschwemmung riß sie weg, der zweiten Brücke erging es nicht besser, – aber wozu das alles erzählen? Jetzt sind Baracken da für tausend Arbeiter, Eisenmaterial, Steinmaterial, Holzmaterial und Maschinenmaterial, die Schleuse und der Damm von 180 Metern und der 1126 Meter lange, vier Meter tiefe Kanal erstehen durch Stoßbrigadenarbeit und bald werden in der Elektrostation zwei Turbinen 7750 Kilowatt bei hohem Wasserstand, 4000 Kilowatt bei niedrigem Wasserstand erzeugen, billige Kraft für die Industrie, und in Stalinabad wird nicht mehr jede Weile das Licht verlöschen.

Was ist dabei? Wird nicht anderswo auch unter Schwierigkeiten gebaut, gab es nicht in Kalifornien auch Wegbereiter? Ist nicht der Panamakanal ein tausendmal größeres Meisterwerk der Technik gewesen?

Das schon. Aber überall lockte das Geld die Unternehmer, zwangen die hohen Löhne die Arbeiter. Wenn jemals jemand irgendwo Urbarmachung begann, so träumte er von Millionen. Dieser Gindin, parteilos, wird, wenn der Warsob-Stroj fertig ist, an das nördliche Eismeer fahren und dort ein anderes Kraftwerk bauen. Viele von denen, die uns jetzt umstehen und so stolz auf die Resultate ihrer Arbeit weisen, – »sehen Sie, sehen Sie!« – werden wohl mit ihm gehen, entweder aus Begeisterung am Aufbauwerk oder, wie die 100 Exkulaken, um sich einen höheren »Stasch«, eine höhere Arbeitsqualifikation zu verschaffen.

*

Eines Abends, da wir vor der Stadt spazierengehen, kommen wir mit den Arbeitern der Ziegelei ins Gespräch und erfahren, daß sie Bassmatschen sind, die sich freiwillig ergeben haben. Sie stammen aus Afghanistan und haben ihre Familien von drüben nachkommen lassen. Ihr Partieführer ist ihr Unteroffizier von einst, ein schlanker Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und weißer Bluse, die meisten tragen als Knöpfe afghanische Silbermünzen. Die Männer sagen uns, sie hätten genug von den Kämpfereien, seien froh, arbeiten zu können.

»Wieviel verdient ihr?«

»Für je 1000 Ziegel zwölf Rubel. Manche machen nur 500 im Tag, der Durchschnitt 980. Einer von uns macht 1500, er ist unser bester Stoßbrigadier.«

»Stoßbrigadier« sagen sie! Sie haben, eine demobilisierte Militärabteilung, das militärische Wort aus dem Sprachschatz der produktiven Arbeit, des sozialistischen Aufbaus übernommen!

»Ihr habt eine Stoßbrigade?«

»Ja. Und wir sammeln, um dem Kolchos einen Traktor zu schenken. Wir haben schon fast 200 Rubel beisammen.«

Sie arbeiten am Aufbau, sie haben einen Stoßtrupp, sie spenden einen Traktor, sie machen neue Ziegel für neue Häuser für die neue Hauptstadt der neuen Republik.

»Sehen Sie dort das neue Theater? Das ist schon aus unseren Ziegeln erbaut. Und dort die Bank? Auch aus unseren Ziegeln.« 101

Sie weisen mit ausgestreckten Armen und drehen unsere Schultern bald hierhin, bald dorthin, sie zeigen die gleiche Begeisterung wie unsere Führer bei unserer Ankunft in Stalinabad, eine Begeisterung, die uns damals übertrieben vorkam. 102

 


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