Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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Bandenkrieg und Weltpolitik

Uff! Wir haben uns endlich durchgegessen durch die Mauer aus süßem Hirsebrei.

Hinter uns Samarkand, die Vergangenheit, und Buchara, die Mitvergangenheit, hinter uns Tamerlan und der letzte Emir, hinter uns das Azurblau der Kuppeln und das Schwarz der Kerkerverliese, hinter uns die Poesie und die Bestialität.

Schwer war's, sich loszureißen vom Hirsebrei, aber, uff, wir sind durch, sind im Zug nach dem Land, das unser Reiseziel ist, nach einem Land der neuen Wirklichkeit, nach der jüngsten Sowjetrepublik.

Die Lokomotive pfeift nüchtern, nüchtern rattern, rattern die Räder, es stuckert der Zug auf dem sandigen Damm, in flacher Parabel heben und senken und heben sich die Telegraphenstangen an uns vorbei. Alle fünfzehn oder zwanzig Kilometer stockt die Fahrt. Entweder ist eine Station der Anlaß dazu oder ein Ausweichgeleise: wir haben einen anderen Zug vorbeizulassen, manche überholen wir. Meist Güterzüge. Die »stromaufwärts« gehenden sind beladen mit Entkernungsmaschinen aus der »Selmasch« (Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen), mit Drahtballen, verfrachtet vom Zwet-Met-Import (Einfuhramt für Buntmetalle), mit Vakuum-Erntemaschinen aus Amerika, Sackleinen aus 70 Iwanowo-Wossnessensk – Material für die Baumwollproduktion. So rollt es nüchtern nach Süden. Ballen mit Flocken und Kernen rollen nüchtern nach Norden.

Allerdings, wenn man orientalisches Leben als Romantik ansieht, so sind wir ihr noch keineswegs entronnen. Mit untergeschlagenen Beinen hockt der Orient am Bahndamm und am Bahnsteig. Auf seinen Köpfen sprießen silberne und rote Blumen, um seine Körper schlingen sich schimmernde Brokate.

In unserem Abteil sitzen zwei schwarz verhängte Gestalten, wir vermuten eine alte und eine junge Frau hinter dem Visier aus Roßhaar. Gespenstische Mitpassagiere! Man fühlt sich fortwährend beobachtet von einem nahen unsichtbar-sichtbaren Gesicht.

Lustig und sangesfroh ist eine Gruppe von Männern und unverschleierten Frauen im Speisewagen. Der Westeuropäer – vielleicht der erste, der diese Strecke fährt – erregt ihre Beachtung, sie fragen ihn aus und er revanchiert sich ebenso. Sie sind Tadschiken aus Rabat-i-Malik und übersiedeln jetzt in einen Kolchos nach Tadschikistan.

Gerne wollen sie dem Wunsch des exotischen Gastes willfahren, ihm den Text des Liedes aufzuschreiben, das sie eben sangen, und das mit seinem »John« und »Jonny« so englisch klang. Ein jüngerer setzt schon den Bleistift an, da schlägt er sich auf die Stirn:

»Wir können es ja nicht mit russischen Buchstaben aufschreiben. Wir lernen nur lateinische, das wirst du nicht lesen können, rafik (Genosse)!«

»Doch. Wir lernen in Germanistan lateinische Buchstaben, so wie ihr, rafikon.«

»Habt ihr denn dort auch Sowjets?« 71

Wir erklären den Tadschiken, warum sie ihre Sprache nicht mit den persischen Schriftzeichen schreiben, die ihre Stammesbrüder in Persien und Afghanistan verwenden, und nicht mit der Schrift der Russen. »Ihr schreibt unsere Schrift, rafikon, – unsertwegen. Eine Welt mit einer Schrift und einer Gesinnung soll einmal erstehen.«

Der junge Genosse schreibt uns also beruhigt den tadschikischen Text mit lateinischen Buchstaben auf:

Abdula dschon dschonimon
Nuridi tschaschmonimon
Dschon Abdula dschon
Abdula dschoni.

Chasa gajmogarquardi
Kasa jak bor nadadi
Busa voj Abdula dschon
Abdula dschoni . . .

Das Lied erzählt vom Räuber Abdula, der mit Kulakensöhnen und Mullahs und lockigen Lustknaben auszieht, um Sowjetdörfer zu überfallen. Auch Bauern sind in seiner Schar, sie lehnen sich gegen ihn auf, sie wollen nicht die Henker ihrer Brüder sein, und der Räuberhäuptling tötet die Rebellen mit seinem englischen Karabiner. Seine Knabengeliebten singen ein Lied zum Preis von Abdula dschon, (dschon heißt Seele) und vom bevorstehenden Sieg. Aber Abdula wird von den herankommenden Kollektivbauern überwältigt, Abdula, der Feind des arbeitenden Volkes.

Wir, ahnungslose Berliner, fragen, wieso es sein kann, daß ein Mann männliche Geliebte hat? Unsere Mitpassagiere sehen einander verständnisvoll an und erklären uns, so etwas 72 kam sehr oft vor. »Die Frauen waren teuer in früheren Tagen. Oft diente man jahrelang einem Dechkan (Bauer) ohne Lohn, um seine Tochter zu bekommen, aber der gab sie dann einem zur Frau, der für sie Kalim bezahlte. Was sollten die armen Männer tun, – so liebten sie eben einander.«

»Und bei reichen Leuten kam das nicht vor, rafik?«

»Bei reichen Leuten kam das auch vor, rafik. Sie machten das dem Emir nach. Viele schickten ihm ihre Söhne, und wenn der Emir zufrieden war, so verlieh er dem Vater eine Medaille, der trug sie dann stolz auf der Brust. Gab es das bei euch in Germanistan nicht, rafik?«

»Nein. Bei uns in Germanistan war das alles viel teurer. Unsere Emire verliehen nicht nur Medaillen für ihre männlichen und weiblichen Favoriten, sondern auch Güter und Adelstitel. Und als unsere Emire flüchteten, da hat die Republik alle diese Adelstitel und alle diese Eigentumsrechte in Kraft gelassen. Wenn die Republik Germanistan etwas von diesen Besitzungen brauchte, so bezahlte sie den Lustknaben und Lustdamen und ihren Nachkommen viele Milliarden dafür, obwohl das Volk selbst sehr arm war. Man nannte das ›Fürstenabfindung‹ . . .«

Das alles haben wir natürlich nicht geantwortet, die ehemaligen Untertanen des Emirs von Buchara hätten es nicht begriffen.

Es stuckert der Zug und hält alle zwanzig Kilometer. Station Termes. Die Stadt, von Alexander dem Großen angelegt, hat, wie schon der griechische Name sagt, heiße Quellen. Rechts von uns, jenseits des Amu-Darja, ist Afghanistan, es stuckert der Zug entlang der Grenze.

Auf dem Bahnsteig von Denau, der letzten Station in 73 Usbekistan, sehen wir einen jungen Mann in europäischer Kleidung, umringt von Orientalen, denen er Rede und Antwort steht.

Wir erfahren, daß es Faisullah Chodschajew ist. Die Leser der Völkerbundsberichte kennen diesen Namen nicht. Die europäischen Politiker kennen diesen Namen nicht und nicht die Funktion seines Trägers. Vielleicht ist sie nicht so wichtig? Seine Funktion ist gegenwärtig: Regierungspräsident von Usbekistan und Vertreter dieses Staates in der Gesamtregierung der UdSSR. Je einen Vertreter entsenden die sieben Sowjetrepubliken in das Präsidium des Zentralexekutivkomitees (ZIK.) der Sowjetunion, und diese führen abwechselnd den Vorsitz, offiziell wohl das höchste Amt der Welt.

Uns aber, die wir aus Buchara und aus dem Hirsebrei der Romantik kommen, uns interessiert Faisullah Chodschajew noch aus einem anderen Grund: auf den Kopf keines Menschen wurde je ein höherer Fangpreis ausgesetzt.

Nach der mißglückten revolutionären Aktion vom März 1918 lebte sich die Rache des Emirs an allen fortgeschrittenen Elementen seines Landes aus. Die Sowjets protestierten aus Turkestan gegen die Greuel. Darauf die Antwort: aufhören würden die Maßregeln nur dann, wenn Faisullah Chodschajew ausgeliefert werde, der Mann, der namens der Jungbucharischen Partei das Ultimatum an den Emir unterschrieben hatte.

Olim Chan unterbrach das Blutbad unter seinen Untertanen, er wartete die Auslieferung ab. Da sie nicht erfolgte, setzte er das Gemetzel fort, 3200 Menschen wurden martervoll getötet.

1920 beschloß in der Stadt Tschardshuj der Kongreß der Jungbucharischen Partei, neuerlich loszuschlagen, und unter 74 der militärischen Führung Frunses, eines Sohnes von Mittelasien, siegte die Revolution. Der erste Regierungspräsident der nationalen Volksrepublik Buchara hieß Faisullah Chodschajew. Sie wurde 1924 mit den von Usbeken bewohnten Gebieten von Turkmenistan zur Republik Usbekistan vereinigt, die der UdSSR. als Bundesstaat beitrat. Auch in Usbekistan, wozu damals das heutige Tadschikistan gehörte, war Faisullah Chodschajew der erste Vorsitzende des Rats der Volkskommissare.

Einen bärtigen, tollkühnen, asiatischen Hünen hatten wir uns vorgestellt, aber siehe da, er ist ein schmächtiger, junger Mann, glattrasiert, in europäischem Anzug.

Ob wir ihn sprechen können?

»Bitte, Genosse.«

Wir sitzen in seinem Dienstwagen. Er bietet uns Zigaretten an. (»Deli«, die alle Welt in der Sowjetunion raucht. Wir hätten bessere erwartet.) Unsere Frage gilt dem Zweck seiner Reise.

»Meine Reise hatte einen kriminalistischen und einen landwirtschaftlichen Zweck. Was das Kriminalistische anbelangt: wir haben hier den letzten Kampf gegen das Banditentum geführt, die Bassmatschen der dritten Epoche.«

»Was heißt das: ›Bassmatschen der dritten Epoche‹?«

»Die erste Epoche war die vor dem Kriege. Die Männer, die damals in den Höhlen und auf den Felsen Banden formierten und Überfälle unternahmen, waren Opfer der Feudalwirtschaft. An Baumwolle haben nur die Großgrundbesitzer glänzend verdient, sie wurde ihnen ja zu dem gleichen Preis abgekauft, den Rußland für die mit hoher Fracht aus Amerika oder aus Ägypten bezogene Baumwolle bezahlte. Gerne hätten die Bauern auch so viel verdient. Aber um 75 Saatgut einzukaufen, Bewässerungskanäle anzulegen, Wassersteuer zu entrichten, Leute anzuheuern – dazu gehörte Kapital. Leicht bekam man es geliehen. Man mußte nur nach der Ernte für je hundert Rubel 148 zurückzahlen, und das war weniger als der Gewinn beim Verkauf der Ernte betragen konnte. Die Schuld wurde selbstverständlich hypothekarisch festgelegt.

Kamen Regengüsse, so ging ein Teil der Baumwolle zugrunde. Kamen keine Regengüsse, so kam ein Heuschreckenschwarm aus Marokko und fraß Kapseln und Kerne auf. Wenn die Heuschrecke nicht kam, so kam der Baumwollwurm, und wenn man die Schulden mit Zins und Zinseszins nicht bezahlen konnte, so kam der Hypothekengläubiger mit den Gendarmen und verjagte den Baumwollbauer von seiner Plantage. Vielen erging es so, sie zogen in die Berge und lebten dem Raub und der Rache. Das war die erste Epoche des Bassmatschentums.

Die zweite Phase: die Organisation der Banden gegen die Revolution. Wirtschaftlich war es wieder die Baumwolle, die die entscheidende Rolle spielte. Die Feindschaft zwischen dem Emirat und dem neuen Sowjetrußland bedeutete für Buchara den Verlust des Absatzgebietes, Arbeitslosigkeit der Baumwollarbeiter, allein 100.000 im Wilajet Fergana. Dabei hätte Sowjetrußland auch bei den besten Beziehungen mit Buchara keine Baumwolle kaufen können, weil die weißgardistischen Armeen die Bahnen, Straßen und Telegraphen nach Rußland zerstört hatten. Die verarmten Bauern aber glaubten den Mullahs, daß der Kommunismus die Schuld am Niedergang der Baumwolle trage, ließen sich gegen die Feinde Allahs und der Baumwolle aufhetzen, und führten den Bandenkrieg gegen uns. Nach und nach erkannten die 76 Bauern, daß wir auf die Wiederherstellung der Baumwollkultur den größten Wert legen. Daraufhin wurde von den Beys die Losung ausgegeben: ›Nieder mit der Baumwolle! Es lebe der Reis! Baumwolle kann man nicht essen! Die Bolschewiken werden uns verhungern lassen, wenn wir unsere Religion nicht aufgeben, ihnen unsere Frauen nicht ausliefern!‹ Mit dem Beginn der Kollektivisierung flammte diese Agitation der Beys von neuem auf. Aber als sich die Befürchtungen als grundlos erwiesen, der Bauer im Kolchos mehr verdiente als früher, war auch diese Periode des Bassmatschentums zu Ende.«

»Und die dritte?«

»Die dritte, hm. Sie ist eine rein interventionistische. Sie kommt von außen, soll den Aufbau des Sozialismus am Rand der Kolonialländer stören, damit diese nicht angesteckt werden. Außerdem ist das Bestreben der Sowjetunion, sich von der Baumwolleinfuhr unabhängig zu machen, ein Millionenschaden für die Exporteure, die ohnehin von der Weltbaumwollkrise betroffen sind. Man unterstützt also die Bassmatschen von außen her. Ein verlorenes Spiel. Sie besitzen keine Sympathien mehr im Land, im Gegenteil, die Bauern hassen sie und schließen sich gegen die Störenfriede zusammen. Eben haben sie – das war einer der Zwecke meiner Reise – die letzten Banden auf usbekischem Boden liquidiert. In Tadschikistan treiben sich noch welche umher.«

»Ist es gefährlich dort?«

»Gefährlich? Nicht politisch gefährlich, weil die Bassmatschen unter einer im ganzen zufriedenen Bauernschaft niemals Anhang finden können. Aber sie können Schaden stiften, solange Ibrahim Beg die Führung hat. Seine Autorität 77 ist groß, manche im Inland fürchten ihn und viele im Ausland unterstützen ihn.«

Der andere Reisezweck Faisullah Chodschajews ist die Baumwolle an sich. Usbekistan ist das wichtigste Land im Kampf der Sowjetunion um die Autarkie ihrer Textilindustrie. 1,788.200 Tonnen Baumwollkapseln werden die fünf Republiken Mittelasiens in diesem Jahr ernten, was 528.800 Tonnen reiner Faser ergibt. An der Spitze der Lieferung steht die usbekische Sowjetrepublik, sie allein sollte im vorigen Jahr 747.100 Hektar anbauen, aber die Bauern überschritten das Programm, indem sie 812.600 Hektar anbauten, fast fünfmal soviel wie vor dem Kriege. Und 1931 beträgt die Baumwollfläche Usbekistans 1,120.000 Hektar. Allerdings werden jetzt durchschnittlich nur sechzig Pud (9,8 Zentner) per Hektar geerntet gegen ungefähr 16 Zentner im Frieden – verkürzte Arbeitszeit, Mangel an Arbeitskräften, Verzögerung der Aussaat infolge der Bandenkämpfe, Fehlen von Dungmaterial für so ungeheure Gebiete verursachen das.

Faisullah Chodschajew hatte die Herbstaussaat zu organisieren und für verstärkte Kollektivisierung zu wirken. 63 Prozent der usbekischen Wirtschaften sind sozialisiert, im Bezirk Sarija-Assja 95 Prozent. Hier, wo wir sind, im Umkreis der Stadt Denau, ist die Vergesellschaftung nur zu 52 Prozent durchgeführt, und Chodschajew mußte viel verhandeln, um jetzt mit der Hoffnung auf ein kollektivisierteres nächstes Jahr abreisen zu können.

Wir verabschieden uns und fahren mit unserem Zug weiter, der gewartet hat.

In Njuschachar steigt eine Gruppe ein. »Bassmatschi« raunen die Leute hinter ihnen her. »Bassmatschi« sind also die sieben Tadschiken, die ein Abteil in unserem Waggon 78 beziehen. Nein, Bassmatschi sind nur fünf von ihnen, die fünf Unbewaffneten. Die Bassmatschi, die oben in den Bergen, bis an die Zähne bewaffnet, auf Karawanen, auf Mitglieder der Dorfsowjets, auf Stoßbrigadiere der Kollektivwirtschaften, auf Komsomolzen oder auf Rotarmisten lauern, – hier unten dürfen sie sich nicht mit Waffen zeigen.

Zwei der sieben – der der Kolonne voranschritt, und der, der die Queue bildete – haben Gewehre. Sonst unterscheidet sie äußerlich nichts von den fünf anderen, deren Gesinnung, deren Beruf und deren Lage sich von den ihren so unterscheiden. Die beiden Bewaffneten sind die Eskorte. Die fünf anderen, unter ihnen ein Greis, sind die Eskortierten. An ihren alten Seidenmänteln hängen dreieckige Pölsterchen, Amulette.

»Bassmatschi«, antworten die Leute vor dem Fenster des Abteils auf die Frage, was es zu sehen gäbe. Mancher von den neugierig oder feindselig in den Wagen Lugenden mag selbst ein Bassmatsch gewesen sein oder ein Bundesgenosse der Bassmatschen. Vielleicht hat sogar der ältere der beiden Bewaffneten noch vor einigen Jahren zu denen gehört, die er jetzt dem Volksgericht zuführt.

Daß die Bauern Mittelasiens damals vom Strudel der Gegenrevolution ergriffen wurden, versteht man, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Agitation die Kolonialmächte unter den Kolonialvölkern nach der Oktoberrevolution betreiben. Sind sie, die Großmächte, doch selbst bedroht.

Ein Gespenst geht um in Asien, das Gespenst des Kommunismus.

Bebend, mit gesträubten Haaren, huschen die Machthaber zusammen.

Der Weise von London stöhnt: »Wie sollen wir die gelben 79 und braunen Völker weiterhin niederhalten mit der Behauptung, sie seien minderwertig und die Weißen seien Gott ähnlich, wie können wir das, wenn sie jenseits der Grenzen ihre Stammesbrüder sehen, die sich selbst verwalten?«

Der Weise von Paris klagt: »Wie kann unsere Wirtschaftsblockade gegen die Sowjets Erfolg haben, wenn sie hier unten Reis anbauen oder gar versuchen, Baumwolle . . .«

Der Weise von Washington fällt entsetzt ein: »Baumwolle! Wenn Rußland sich von unserem Export unabhängig macht, müssen wir ein Drittel unserer Ernte verbrennen, oder . . .« seine Stimme erstickt in Schluchzen, »oder wir müssen die Preise herabsetzen.«

Der Weise von Amsterdam: »Was macht meine Koninklijke Shell, wenn Rußland sein Petroleum ohne uns verkauft?!«

Der Weise von St. Petersburg, derzeit Nizza: »Aus meinen Schlössern in der Krim werden diese Vandalen Arbeitersanatorien und Kinderheime machen!«

»Wehe, wehe!« schallt es im Chor.

Aber dann raffen sie sich auf: »Wir müssen das Gespenst vertreiben, wir haben das Geld, wir haben die Macht.«

Chorus: »Wir haben das Geld, wir haben die Macht.«

Und beides wird entfaltet. Hierher entsendet man alles, worüber man an Abenteurern und Agitatoren und Agenten für östliche Bezirke verfügt. Hier vereinigt sich die englische Hochkirche mit den indischen Ismailiten, der Panindischen Muselmanischen Liga unter dem lebenden Gott Aga Chan. Hier vereinigt sich der Islam mit der armenischen Kirche, die allmohammedanische Partei Ulema mit der armenischen Bewegung Daschnak-Zutjun, – vergessen das armenische Millionenmassaker in der Türkei. Hier vereinigen sich die rechtgläubigen Zarengenerale mit den Sozialrevolutionären. 80

Die russischen Emigranten sind das militärische Exekutivorgan. Im Jahre 1848, beim Prager Slawenkongreß haben die russischen Nationalisten ausgerufen: »Lieber die russische Knute als die deutsche Freiheit!« Jetzt, siebzig Jahre später, verliert diese Losung ihren Charakter als Antithese, da sie sich für die Knute des Emirs gegen die Freiheit der russischen Arbeiter entscheiden. Sie sind und waren eben immer für die Knute.

Geldgeber und Organisator ist England. In Aschchabad finanziert England die Transkaspische Regierung der Sozialrevolutionäre und Menschewiken; die islamitische »Kokander Autonomie« besteht aus Englands Marionetten; die am 17. August 1918 aus Indien über China in Taschkent eingetroffene offizielle Britische Mission unterstützt die »Turkestanische Militärorganisation« der Generale Kornilow (des Bruders) und Sajzew, den bei Orenburg operierenden Ataman Dutow und die von der Wolga vorrückenden Tschechoslowaken; der britische General Malmson inszeniert aus Mesched in Persien einen bewaffneten Aufstand, um mit seinen Ghurkas und Schottländern in Turkmenistan einmarschieren und die Militärdiktatur proklamieren zu können; George MacCartney, britischer Konsul in Kaschgar (Chinesisch-Ost-Turkestan), rüstet Karawanen mit Waffen aus; Reginald Tig-Jones, Captain Seiner Königlichen Majestät von Großbritannien, kommandiert in Annau die Hinrichtung der neun kommunistischen »Volkskommissare von Aschchabad, der 26 Volkskommissare von Baku und der 14 Bezirksvertreter in Taschkent, organisiert den Staatsstreich des verräterischen Kriegskommissars Ossipow und läßt zu seiner Unterstützung 25.000 Bassmatschen aus Fergana nach Taschkent holen.

In den Memoiren der englischen Teilnehmer an jenem 81 Spiel wird übereinstimmend hervorgehoben, daß nach dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk zum erstenmal während des Weltkrieges eine Gefahr für die Existenz Englands als Großmacht bestand: die deutsche Okkupationsarmee aus der Ukraine konnte ostwärts vorrücken, sich mit den von Baku kommenden Türken und den in Turkestan befindlichen 100.000 deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen vereinigen und – vielleicht sogar im Bündnis mit den Bolschewiken – an die indische Grenze ziehen. England hätte Streitkräfte aus Europa abziehen und als Damm gegen eine aufflammende nationale Bewegung Indiens verwenden müssen. Siebzig Jahre vorher hat Karl Marx in seinem Artikel »Das neue Jahr 1849« betont, daß ein europäischer Krieg, an dem England teilnimmt, auch in Ostindien geführt werden müsse. Aber der deutsche Generalstab hielt sich an Schlieffens Plan, nur der Eroberung von Paris, des Erbfeindes Hauptstadt, galt sein ganzes Dichten und Trachten. Also konnte England ruhig und mit wenig Truppen sein Indien schützen, indem es einen Glaubenskrieg, einen Klassenkrieg, einen Nationalkrieg der Bewohner Mittelasiens organisierte.

Unter der Leitung des Emirs von Buchara hetzen die Geistlichen, unter militärischer Führung des britischen Kapitäns Baly wird seine Armee ausgerüstet, Enver Pascha und Ibrahim Beg formieren die Besucher der Moscheen zu Banden, Halbmond gegen fünfzackigen Stern.

Und jetzt?

»Bassmatschi« raunen die Leute vor dem Waggon. Die Kinder werden hochgehoben, um ins Fenster gucken, die bösen Onkels sehen zu können. Vor zehn Jahren hätte man vielleicht zu den Kindern gesagt: da drinnen im Zug sitzen 82 fünf Menschen, die sind keine Bassmatschen! Die Kinder hätten ebenso geschaut wie heute.

Nein. Das stimmt nicht. Vor zehn Jahren gab es keinen Eisenbahnzug. Der Eisenbahnzug ist die Gegenwart.

Wir fahren durch die Gegenwart, durch die Sowjetrepublik Tadschikistan. In der Vergangenheit war dies das Östliche Buchara, eine Kolonie der Kolonie Buchara, das »Land ohne Recht«. Die Emire ließen die Provinz durch ihre Beys verwalten, und erst der letzte der Emire kam hierher, 1920, auf der Flucht vor seinen Untertanen.

Der östliche, unwirtlichste Teil dieser Provinz war russisch. Warum hatte der Zar seinem Vasallen gerade dieses felsig-kahle Stück nicht belassen? Dieses graue Plateau ist der Pamir. Sein nördlicher Hang war Rußland. Sein südlicher Hang war Indien. Hier stießen einmal zwei Weltreiche zusammen, hier stoßen nunmehr zwei Welten zusammen.

Zwischen der Südgrenze des tadschikischen Pamirgebietes (Gorno-Badachschanskaja Oblast) und der Nordgrenze Indiens ist ein schmaler Korridor. Im Osten grenzt die Pamirprovinz an China, im Norden an Kirgisistan. Von dort, aus der Stadt Osch, gehen die Expeditionen auf den Pamir. Das Innere Tadschikistans berühren sie nicht.

Wir sehen nicht viel von dem Land, in das wir von weither gekommen sind, karge Felder im Vordergrund, hohe Berge im Hintergrund; wir fahren über eine Brücke, der Fluß unter uns heißt Kafirnigan.

Wir wissen nicht viel von dem Land, in das wir von weither gekommen sind. Unsere geographischen Kenntnisse beschränken sich darauf, daß Tadschikistan 141.800 Quadratkilometer umfaßt, also so groß ist wie die Tschechoslowakei. 83 Das Land zählt fast anderthalb Millionen Seelen, wenn man auch Kommunisten als Seelen zählen darf, die die Seele verneinen, und mohammedanische Frauen, denen die Seele vom Koran abgesprochen ist. Die Tadschiken sind ein altes iranisches Volk, über eine halbe Million ihrer Stammesbrüder wohnen verstreut auch in Usbekistan und anderen Ländern von Sowjet-Mittelasien, im Königreich Afghanistan leben vier Millionen, in Nord-Indien eine Million und in China eine halbe. Ihre Sprache ist das ursprüngliche Persisch, das Farsisch. 79 Prozent der Bevölkerung sind Tadschiken, 18 Prozent Usbeken, ein türkisch-mongolischer Volksstamm, der Rest Kirgisen, Russen, Turkmenen und Afghaner.

Das ist alles. Bald werden wir mehr wissen.

In Stalinabad steigen wir aus, 6525 Kilometer von Berlin, Luftlinie. 84

 


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