Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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Von Tigern zu Baumwoll-Kollektiven

Von diesem Floß mag schon manches Auto in die Fluten gerutscht sein, das weniger Anstalten dazu machte als das unsrige. Nun, wir kommen dennoch heil hinüber in den Bezirk Aral, der umschlossen wird von zwei Armen des Stromes Wachsch.

Hier endlich wird die Landschaft grün, aber neue Mühsal lauert auf unser schwergeprüftes »Amo«-Lastauto: alle hundert Meter ist ein Kanal, Zäsur in dem ohnehin holprigen Rhythmus der Straße. Kanäle. Nur Kanäle und Kamele begegnen uns.

Der Ort, in den wir einfahren, der Abend dämmert schon, präsentiert sich als ein übermäßig in die Breite gezogenes Dorf. Man kann nicht behaupten, daß der Marktplatz kreisrund ist oder rechteckig oder oval oder sonstwie. Man kann höchstens behaupten, daß er groß ist, so groß wie die Place de la Concorde. Dadurch wird er freilich keineswegs schöner, und die Häuser, die ihn umsäumen, gleichen auch nicht dem Marineministerium, dem Jockey-Club und dem Hotel Biron. Es sind häßliche Lehmhütten.

Dieses Tages Müh' war groß, starker Staub und schwache Fähren, viel Kanäle und wenig durchquerbare. Man quartiert uns im neuen Hospital ein. Da wir den ortsansässigen Genossen unser Kompliment über den modernen Neubau 146 machen, antworten sie: »Ihr werdet morgen mehr solcher Häuser sehen.« Welchen Wunsch wir jetzt haben? Viel, viel, viel Wasser, um uns zu waschen. Und dann möchten wir, wenn's irgendwie geht, noch mit jemandem sprechen, der uns erklärt, was es hier von dem zu sehen gibt, um dessentwillen wir die heiße Wallfahrt hierher unternommen haben: von der Baumwolle.

Bald spülen wir in einem Schwimmbassin mit fließendem Wasser und unter sprudelnder Dusche all unseren Staub hinab. Nachdem wir wieder angekleidet sind, erfahren wir, der Ortssowjet trete um elf Uhr abends zusammen, sicherlich werde man uns dort die gewünschten Aufklärungen geben. Um diese Stunde ist die Place de la Concorde noch menschenleerer als sie bei unserer Ankunft war, wenigstens leer von wachen Menschen. Schlafende gibt es genug, sie liegen in ihren Betten vor den Lehmhütten, die, wie erwähnt, anders aussehen als das Ministère de la Marine Française.

Im Hof des Sowjethauses sitzen die Mitglieder auf der Erde, nur die Referenten an einem langen Tisch, den der Mond grell bescheint. Grell bescheint der Mond das Papier, das wir vor uns hinlegen, um Notizen zu machen. Aber – das haben wir uns bestimmt vorgenommen – den ersten Satz mit seinen Ziffern über Zahl der Schulen und Gemeinwirtschaften werden wir auf keinen Fall notieren.

Chalmurad Imamberdi ergreift das Wort, der erste Satz, den auf keinen Fall zu notieren wir uns vorgenommen haben, lautet: »Im Jahre 1926 war in Aral eine zoologische Expedition aus Moskau und hat hier innerhalb von sechs Wochen neunzehn Tiger gefangen, acht Tiger und dreißig Wildschweine erlegt, außerdem viele Giftschlangen, Schakale . . .« 147

»Nicht so schnell, bitte . . . Wieviel Tiger erlegt, Genosse Imamberdi?«

»Acht Tiger außer den neunzehn gefangenen, aber die lebenden waren ganz jung. Jetzt gibt es keine Tiger mehr.«

»Überhaupt keine, Genosse Imamberdi?«

»Das kann man nicht sagen. Tiger gibt es natürlich überall. Ihr werdet sicherlich in Deutschland auch welche haben, nicht? Aber bei uns sind sie fast ganz verschwunden. Vor zwei Monaten haben Soldaten drei Tigerjunge in einer Falle gefangen und sie den Genossen Stalin, Woroschilow und Molotow geschickt. Und vorige Woche haben wir erfahren, daß es am Jawansu einen Tränkeplatz von Tigern gibt; als wir uns anpirschen wollten, sind sie davon und seither nicht mehr wiedergekommen.«

»Hat denn früher hier niemand gejagt?«

»Wer? Bei der großen von den Bassmatschen organisierten Abwanderung nach Afghanistan, 1925, sind ja alle Bewohner unserer Insel fortgezogen, fünfhundert Familien. Nichts blieb hier als verfallene Hütten, Fasane im Steppengras, Schlangen im Gestein und Tiger im Dschungel. Wer sich hierher verirrte, wurde von Tigern oder Wildschweinen angefallen, – wir haben viele zernagte Menschenschädel gefunden . . . Im Jahre 1926 begann die Rückwanderung, weil die Leute gehört hatten, man bekomme Kredite, Wasserzustrom, Arbeitsgeräte und Baumaterial. Die ehemaligen Bewohner brachten sogar Afghaner mit. Außerdem kamen, in den Bergbezirken Tadschikistans und in den Baumwollrayons von Usbekistan angeworben, landlose oder landarme Bauern hierher.

Jetzt sind 2652 Wirtschaften auf der Insel. Von den neuen Siedlern sind 60 Prozent aus dem Rayon von Fergana, 148 35 Prozent aus Obigarm, Garm und anderen Gegenden am Pamir, der Rest Kirgisen und afghanische Staatsangehörige. 30.000 Hektar umfaßt die Insel Aral. 10.000 Hektar sind bebaut, davon 6.533 von Baumwoll-Kollektiven, 36 Hektar von privaten Baumwollbauern auf bewässertem und 180 Hektar von privaten Baumwollbauern auf unbewässertem Boden, das übrige sind Gemüsegärten. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollen weitere 14.000 Hektar bebaut werden, hauptsächlich mit Baumwolle, aber auch mit Reis, Tabak, Luzerne, Hafer und Maulbeerbäumen.

Die Kollektivisierung stieß hier auf keine Schwierigkeiten – die meisten erkannten die Vorteile der Großwirtschaft und der Mechanisierung, unter den 77 Kolchosen werden vierzehn von den alten Bewohnern des Bezirkes gebildet.

Aus Afghanistan kommen Abordnungen zu uns: wir sollen bei ihnen Kolchose einrichten oder ihnen wenigstens einen Traktor hinüberschicken. Wir haben ihnen erklärt, daß das nicht geht. Was war die Wirkung? Sie machten ein Gesuch an ihren Bey in der Kreishauptstadt Masar-i-Scheriff, er möge bei ihnen auch das Sowjetregime einführen . . .

Die Zahl der Wirtschaften, die zu einem Kolchos gehören, schwankt zwischen 25 und 350. Wir haben 8100 Hektar kontraktiert, aber nur 6533 angebaut, also 20 Prozent weniger als wir uns in dem staatlich bevorschußten Vertrag verpflichtet hatten.

Warum? Ibrahim Beg kam mit seinen Bassmatschen wieder herüber und wandte sich gegen die, die er vor Jahr und Tag dazu veranlaßt hatte, ihr Vieh den Tigern zum Fraß hinzuwerfen und in Afghanistan als landfremde Arme zu leben. Da die Araler Leute ausnahmslos zurückgekehrt waren, galt diesem Bezirk seine besondere Wut, er unternahm 149 Überfälle, bei denen Mitglieder der Kolchose erschlagen, Pferde, Vieh und Inventar weggeführt, Stege zerstört und Baumwollanlagen niedergeritten wurden.

Die Kolchose rückten gegen die Bassmatschen aus und lieferten ihnen vier Gefechte, hüben und drüben kamen Menschen ums Leben. Am Berg Karatau wurden auf seiten der Bandenkämpfer ein Kurbasch und fünfzehn Dschigiten getötet, bei Maksumabad der gefürchtete Häuptling Alek Kommandir und 53 seiner Bassmatschen; vier Kurbaschi und 102 bewaffnete Reiter fielen in die Gefangenschaft der Bauern.

Der Karawanentransport von Getreide aus Kuljab wurde wiederholt durch Banden gestört, sie tauchten auf dem Kamm der Berge auf und schossen die Kamele nieder. Durch die Kämpfe gingen Arbeitstage verloren, durch die Wachen, die man aufstellen mußte, wurden Arbeitskräfte gebunden, durch das Militär, das man zum Schutz herbeirief, waren Transportmittel belegt.

Es rollte kein Maschinenöl an und die Traktoren standen vierzehn Tage lang still, ebensolange verspäteten sich einmal zwei Waggons Harken. Von 360 Kolchos-Mitgliedern, die nach hier beendeter Arbeit in ihre Heimat fuhren, um dort ihre eigene Wirtschaft zu bestellen, blieben 100 zu Hause, weil sie vom Auftauchen der Bassmatschen in Aral hörten.

Damit erklärt es sich, daß wir um 20 Prozent hinter dem Plan zurückgeblieben sind. Ihr müßt zugeben, daß das wenig ist unter solchen Umständen.«

Wir geben zu, daß das wenig ist unter solchen Umständen.

»Aber das waren noch nicht alle Schwierigkeiten. Unter denen, die 1925 ausgewandert waren, dann zurückkehrten und ihre alten Wirtschaften wieder in Besitz nahmen, befanden sich elf Beys und über zweihundert Großbauern mit 150 ihren ›Podkulaki‹ (unter dem Einfluß der Kulaken stehende Bauern). Sie traten nicht in die Kollektive ein oder nur zum Schein, und durchkreuzten die Maßnahmen der Sowjets. Neun von den elf Beys haben wir ausgesiedelt, zwei haben sich der Gemeinschaft unterworfen. Von den Kulaken sind mehr als hundert nach Afghanistan ausgewandert und mit den Bassmatschen im Mai über den Amu-Darja gekommen. Diese, unsere ehemaligen Mitbürger, haben die Banden nach Aral geführt. Man fand zwei unter den Toten, einer wurde gefangengenommen, andere sind hier von den Bauern gesehen worden.«

»Gibt es hier noch Kulaken?«

»Ja. Als Großbauer gilt, wer mehr als dreihundert Schafe oder mehr als sechs Hektar Baumwolle hat und fremde Arbeitskräfte beschäftigt; aber der Bauer, der Saisonarbeiter anheuert, ist natürlich kein Kulak. Der Dorfsowjet bestimmt, wieviel der Kulak anzubauen und wieviel er abzuliefern hat; am Privatmarkt darf er nicht verkaufen, die Kontrolle ist streng.«

Grell bescheint der Mond das Papier, auf dem wir die Worte Chalmurad Imamberdis und einiges von dem notiert haben, womit die auf der Erde hockenden Genossen ihn unterbrachen und ergänzten. Wir hatten uns vorgenommen, keine Ziffern mitzuschreiben, aber er hat fast nur von Tigern, Banditen und Kulaken gesprochen, obwohl es doch wichtig ist, statistisch genau zu wissen, wie sich die Wirtschaft hier entwickelt hat, wo noch vor fünf Jahren die Tigerschaft, ungestört von den Bolschewiken, auf Raub ausging. »Könntet ihr uns nicht ein paar Ziffern angeben?«

»Was für Ziffern?« 151

»Na . . . über die Arbeit auf den Baumwollfeldern zum Beispiel.«

»Ach, seht euch doch lieber die Kollektivgüter an, da seht ihr alles mit eigenen Augen.«

»Das ist doch erst morgen, wir möchten schon heute etwas erfahren.«

»Bitte.«

So, jetzt werden die günstigen Ziffern kommen. Aber es fängt nicht sehr günstig an.

»Ein Hektar Land soll durchschnittlich 65 Pud (1065 kg) Baumwolle geben. Wir haben aber im vorigen Jahr nur 52 Pud hervorgebracht und werden auch in diesem Jahr noch nicht auf 65 Pud kommen, trotzdem die Ernte besser sein wird.«

»Wieso wißt ihr, daß die Ernte besser sein wird?«

»Voriges Jahr waren um diese Zeit 50 Prozent gehäufelt und gejätet, in diesem Jahr 85 Prozent. Wenn nicht die Hilfe von den Kolchosen der Nachbarbezirke gewesen wäre, hätten wir nicht so viel vom Plan erfüllen können. Auch die Kolchose unseres Bezirkes haben einander geholfen, im ganzen wurden 15.620 Arbeitstage auf diese gegenseitige Hilfe verwendet. Bis vor sechs Monaten hatten wir keine Frauenarbeit. Jetzt arbeiten auf vierzehn Kolchosen 600 Frauen, das ist natürlich noch immer viel zu wenig.

Unter den Traktorführern gab es noch vor drei Jahren keine Einheimischen, im Vorjahre waren bereits von 200 Traktoristen 40 Tadschiken und Usbeken, von den neuen 180 Traktoristen, die wir in diesem Jahr eingestellt haben, sind 95 Nationale. Im Jahre 1929 war ein einziger Feldscher mit zwei Krankenpflegern da, heute haben wir fünf Ärzte mit 26 ausgebildeten Hilfskräften, ein 152 Krankenhaus mit 20 Betten, vier ärztliche Stationen, ein Dispensaire.

1927 errichteten wir die erste Schule für 24 Kinder und einen Lik-Bes (Kurs zur Liquidierung des Analphabetentums), jetzt: 36 Schulen mit 1890 Kindern, 45 Antianalphabetenkurse – die Schulen kosten uns in diesem Jahr 290.000 Rubel – und vier Krippen, 30 Telephonstationen, Radio, Kino, 15 Rote Teehäuser . . .

Ich komme morgen zu euch und ihr werdet mir sagen, was ihr euch ansehen wollt, unsere Traktorschulen oder das landwirtschaftliche Technikum oder die Frauenberatungsstellen oder die Krippen. Aber das wichtigste sind unsere Kollektivgüter; 1932 wollen wir viele vereinigen und fünf Giganten aus ihnen machen, weil das die Bewässerung vereinfacht. Unsere größte Wirtschaft ist der Stalin-Kolchos, er umfaßt tausend Hektar, von denen 785 mit Baumwolle bebaut sind. Wenn heute Ibrahim Beg kommt, so kann er etwas erleben, – er soll übrigens nicht weit von hier in den Bergen sein . . .«

»Gestern, Genossen, gestern hat man ihn gefangen.«

*

Am Morgen kommen wir über den Marktplatz von Aral, der uns gestern Abend so übertrieben groß und unförmig erschien. Jetzt erscheinen uns seine Ausmaße nicht mehr so übertrieben und auch seine Un-Form hat sich verloren. Hat sich verloren im Geschaukel, im Geflimmer des sich entfaltenden Basars. Der Platz ward zur Bühne voll handelnder Personen, deren Spiel umringt ist von einer Komparserie der Kamele; sie, die Kamele, kehren ihr Gesicht nach außen, bleiben ruhig bei all dem lärmenden Agieren 153 innerhalb ihres Kreises. Sie verdecken die häßliche Kulisse, die Hütten.

In der Mitte des Platzes stehen drei Lehmwände, vor denen man Plow (Reisfleisch) essen kann, denn die Lehmwände sind ein Restaurant. Die tönernen Scheffel der Verkäufer bergen Gewürze oder Wassermelonen. Auch Sättel, Peitschen, Fliegenwedel und Fächer werden gemarktet.

Stark gefragt ist Nas-Vaj, ein grüner Kautabak, der nicht gekaut, sondern unter der Zunge gehalten und unausgesetzt bespeichelt wird. Der Händler hat eine Wage und Steinchen, die die Gewichte sind. Wer kaufen will, zeigt auf die Ware und auf jenen Stein, der das Maß seines Bedarfs sein soll. Ein während des Wachstums abgebundener polierter Kürbis ist der Tabakbehälter; er heißt Kadu und man trägt ihn am Eselsattel oder am Gürtel.

Kamele werden nicht nach Gewicht verkauft, wir prüfen jedes mit Kennerblicken, bevor wir seinen Besitzer nach dem Preis fragen, und hören, daß es 350 Rubel kostet. Also stehen entweder alle Kamele gleich hoch im Preis oder es sind gerade jene, die unserem Kamelgeschmack entsprechen, gleich gut oder gleich schlecht. Ein Esel ist ein Drittel eines Kameles wert, doch sind nur wenige am Markt – wer trennt sich so leicht von seinem Eselchen? – Hammel können wir in Hülle und Fülle kaufen zu 75 Rubel per Stück, Hammel mit fettem, wabbelndem Steiß.

Pferde gibt's in allen Lebens- und Preislagen und in fast allen Couleurs. Ein Rappenhengst schien uns für 700 Rubel besonders preiswert, wir kauften ihn nicht, man wird uns schon ein Pferd borgen.

Man borgte uns ein Pferd, und wir ritten in die Baumwolle hinaus. Nach Tagen im Auto auf Straßen, die nicht 154 dafür gebaut waren, freut man sich, auf dem Pferd zu sitzen. Auch dieses stoppt an den Kanälen, aber nur um zu tanken; zwar macht braunes salzhaltiges Wasser noch durstiger als man war, dennoch lockt es, und kein Zerren am Zügel bringt das Pferdemaul davon los.

Am Rand eines Baumwollfeldes steht eine Statue aus Bronze und Silber: ein graubärtiger Usbeke auf seine Harke gestützt. »Ist hier ein Kolchos,« fragen wir, und die Statue erwacht zum Leben. Ja, hier sei ein Kolchos. »Können wir ihn ansehen, wir sind aus Deutschland, aus Europa.« »Aus Europa?« Er erstarrt wieder zur Statue. Groß sehen uns seine Augen an. Es dauert lange, bevor er uns einlädt abzusteigen. Er ruft etwas nach hinten, wo die Hütten sind, eine Botschaft, die von den Frauen vermittels der Kinder an die Herolde und von diesen an die Männerschaft weitergeleitet wird.

Es kommen nämlich zwei Burschen mit drei Meter langen Trompeten aus getriebenem Metall herbei. Einst riefen diese Instrumente, »Karnaj« genannt, den Stamm zum Kampf zusammen, jetzt sind sie, o Dekadenz, das Signal zur Arbeit oder zur Beratung. Zwei gedehnte Tubatöne geben die Bläser von sich, dann folgt ein kurzer Stoß, und schließlich ein langer, unheimlicher, wie Wiehern der Kamele.

Und zwischen den Stauden tauchen Männer auf mit verschiedenfarbigen Mänteln und verschiedenfarbigen Schärpen, aber alle mit gleichfarbigem, gleichgemustertem Käppi. An diesem, der Tjubetejka erkennt man Bezirk und Stamm, und man erkennt auch den Grad der Liebe, mit der sie gewebt wurde. Es gibt teppichartig gewebte Mützen, es gibt im Bezirk von Kaschkadaria rote mit Goldstickerei, es gibt solche aus dunkelblauem Filz mit vier rotgelb gestickten Kreisen, 155 es gibt (in Taschkent) solche aus kirschrotem Samt mit Rosen, es gibt (in Samarkand) brokatene, es gibt die turkmenischen (in Kerki) mit verschlungenen Ornamenten, es gibt schwarze, die tragen die Juden von Buchara. Die Mützchen derer, die jetzt zwischen den Stauden mit geschulterter Harke herbeiströmen, sind aus hellvioletter Seide; in die vier, von Mäandern eingesäumten Segmente ist je eine stilisierte Frucht gestickt, oder vielleicht keine Frucht, sondern eine kurze Tabakspfeife, so genau läßt sich das nicht erkennen.

Die Männer sind also, die Mütze sagt es, aus dem Bezirk Fergana, der in Usbekistan liegt. Aber was ist Usbekistan für ein Ausland gegen das Ausland, dem wir entstammen, ein Besuch, exotisch vom Kopf bis zur Sohle, ohne Chalat (langer, bunter Mantel) und ohne Tjubetejka!

»Wir kommen aus Europa und möchten euren Kolchos anschauen.« Offenbar fassen sie den Zusammenhang zwischen den beiden Teilen dieses Satzes kausal, statt temporal auf, und wundern sich (nicht ohne daß dieses Erstaunen mit Mißtrauen gemischt wäre), für Europa ein Reiseziel zu sein. Staunen und Mißtrauen verfliegen bald, man freundet sich immer rasch an mit den Tadschiken und Usbeken, je kriegerischer die Tradition eines Volkes, desto friedlicher ist es in seinem Gemüt.

Wir setzen uns unter ein Flugdach, das vor dem direkten Aufschlag der Sonne bewahrt, mitnichten aber ist es imstande, vor der Hitze zu schützen. Ebensowenig gibt die braune Pfütze am Rand der Laube irgendwelche Kühle her. Man schöpft Wasser daraus für den Tee. Blumen werden uns gebracht von Kindern, die die gleiche Tjubetejka tragen wie die Alten. Wassermelonen stillen unseren Durst, ehe der grüne Tee fertig ist und von uns allen getrunken wird aus 156 einer einzigen henkellosen Schale, der Piala. Der lehmige Rest, der darin zurückbleibt, wird ausgeschüttet, bevor man dem nächsten Mann einschenkt.

Unsere Wirte sind aus Namangan, Wilajet Fergana, dort haben sie dreiviertel bis höchstens einen Hektar Land; das ist sehr wenig. Da kamen die Werber, sie suchten Baumwollbauern für Tadschikistan, um dort Kolchose zu gründen; sie versprachen, daß die Dorfbewohner beisammenbleiben könnten, daß auf jeden drei bis dreieinhalb Hektar Land entfallen, daß per Mann 600 Rubel unverzinslicher Kredit auf zehn Jahre gewährt und Traktoren zur Verfügung gestellt werden. Jeder behält sein Feld in der Heimat drei Jahre lang, er kann jährlich nach Abschluß der Ernte nach Hause fahren (unentgeltlich, nach Stalinabad mit dem Auto, von dort mit der Bahn) und nach drei Jahren, ohne Rückgabe des Vorschusses endgültig zurückkehren, wenn es ihm nicht gefällt.

So sind sie hergefahren, nur den Bey, die Kulaken, den Mullah und die Müßiggänger zurücklassend. So sind sie, 190 Baumwollbauern aus dem Ferganaer Bezirk, mit Pferd und Wagen und Bratpfannen für den Plow über die Berge nach dem Süden gezogen. Fünfzehn sind nach der ersten Ernte von ihrem Heimurlaub nicht zurückgekehrt, aus Angst vor den Bassmatschen oder weil es ihnen hier unten nicht gefiel. Die übrigen ließen Frauen und Kinder und Hühner und Hausrat nachkommen.

Die 190 Familien haben vier Kolchose gegründet, nach den Dörfern benannt, die sie in Fergana bewohnt haben; der, auf dem wir sind, heißt Ksyl-Juldus, und 28 Familien gehören ihm an.

Wenn man die Bauern fragt, ob es ihnen hier gut geht, 157 so antworten sie so, wie die Bauern in aller Welt, wenn man sie fragt, ob es ihnen gut geht. Das Leben sei schwer. Viel Arbeit, viel Arbeit. Etwas Schlimmeres als Baumwolle anzubauen, gäbe es nicht. Und wenn es etwas Schlimmeres gäbe, so sei es dieses: ein neues Baumwollfeld anzubauen.

Nur in einem Punkt seien neue Baumwollfelder günstiger, nämlich darin, daß sich die Insekten noch nicht eingewöhnt haben. In der Umgebung alter Plantagen nisten sie oder zumindest ihre Eier, und bevor die Insekten von neuen ergiebigen Gebieten erfahren, vergeht geraume Zeit.

»Aber neue Baumwollanlagen zu bauen! Kanäle, Reihen, Isolierfelder . . . Dazu die Feldarbeit, häufeln, jäten, ernten . . . schwer, schwer . . . und die Kolchosdisziplin, früher tat ja keiner etwas anderes, als wozu er eben Laune hatte . . . Jetzt muß jeder seine Aufgabe erfüllen . . .«

Der Vorsitzende des Kolchos, der Usbeke Halmat Bojmat eilt davon, um die Buchführung zu holen. Ein dickes Heft mit Rubriken und Ziffern, die er selbst geschrieben hat, was er wiederholt hervorhebt. Das Heft ist in drei Kategorien eingeteilt. Schwere Arbeit: säen, häufeln, jäten, Kanalbau. Mittlere Arbeit: pflügen, ackern, eggen, zweite Jätung und zweites Häufeln. Leichte Arbeit: Pferde tränken, Vieh weiden, Brot holen, am Basar einkaufen, kochen.

Die Normen: ein Mann hat vier Kubikmeter Erde für den Kanal auszugraben, ein Mann mit zwei Pferden und zwei Eggen hat zwei Hektar zu bearbeiten, ein Mann, zwei Pferde und ein Pflug mit zwei Pflugscharen haben dreiviertel Hektar zu ackern, zwei Männer mit einem Pferd oder ein Mann mit der Saatmaschine »Banner« haben einen Hektar innerhalb von zehn Stunden auszusäen. »Bis zum Juni hat nur 158 die Hälfte der Mitglieder die Leistung eines Normalarbeitstages täglich erzielt, aber von da an stiegen die Leistungsziffern bis zu drei Arbeitstagen pro Mann und Tag.«

»Wenn jemand mehr als die Norm macht, Halmat Bojmat?« Wir fragen das, weil die »urawnilowka«, die »radikale« Gleichmacherei der Löhne als ein großes Hindernis für die Wirtschaftsentwicklung gegeißelt wird.

»Hm,« antwortet Halmat Bojmat und sieht sich im Kreise um. »Du fragst, ob jemand mehr bekommt, wenn er mehr als die Norm macht? Hm. Wenn jemand doppelte Norm macht, so bekommt er doppeltes Geld. Natürlich. Aber wir verdienen lieber alle gleich. Wenn wir bei der Ablieferung der Ernte mehr Erlös haben, so teilen wir es zu gleichen Teilen auf . . .«

»Das ist aber nicht richtig. Da bekommt doch der Faule soviel wie der Fleißige?«

»Nicht ganz. Denn wer faul ist, erfüllt ja sein Pensum nicht. Aber immerhin, es ließe sich besser abstufen. Nur ist die Berechnung für mich sehr schwer, ich kann nur Ziffern schreiben und weiß, in welche Rubriken sie gehören. Meine Eintragungen stimmen auch immer mit denen überein, die sich jedes Mitglied notiert. Mehr kann ich nicht machen. Im Winter soll ich in einen Kurs gehen, wo man lernt, wie auf dem Kolchos gerechnet werden muß. So richtig werde ich das wohl niemals können. Unsere Burschen, die eher. Die lernen ja jetzt die vertracktesten Sachen. Aber die jungen Leute genießen keine Autorität. Viele sind auch Hitzköpfe.«

Wir erfahren, daß am Kurban-Beiram die Kolchos-Mitglieder vertraglich frei haben. Früher hat niemals ein Mohammedaner an diesen heiligen Tagen gearbeitet. Nun, und 159 was geschieht hier? Die Jugend geht aufs Feld und fordert einander – ostentativ – zum sozialistischen Wettbewerb heraus.

Im vorigen Jahr arbeitete der Kolchos am 1. Mai, in diesem Jahr zogen alle mit einem Banner, den beiden Monstretrompeten und zwei Trommeln nach Aral zur Versammlung. Bei der letzten Ernte halfen zum erstenmal Frauen mit.

Zur Zeit des Häufelns werden Saisonarbeiter aufgenommen, es fanden sich kaum fünfhundert, obwohl man anderthalbtausend gebraucht hätte. Der Grundlohn dieser Hilfskräfte beträgt 2 Rubel 50 Kopeken für acht Stunden, aber da sie fast immer länger arbeiten, verdienen sie durchschnittlich 4 Rubel; sie bekommen ein Pud (16,38 kg) Mehl im Monat zum Preis von 1,50 Rubel oder täglich 800 Gramm Brot für 12 Kopeken, und nach Abschluß der Arbeit fünf Meter Stoff.

Jedem Mitglied des Kolchos werden täglich zwei Pfund Brot geliefert, die man nach der Ernte verrechnet. Für ein Pud Baumwolle zahlt die Einkaufsstelle 4 Rubel 50 Kopeken. Manufaktur (40 Kopeken per Meter) und verschiedene Industriewaren, wie Stiefel und Mäntel, werden der Kooperative zugewiesen. Wer krank wird, erhält Normalarbeitslohn, gleichgültig, ob er im Spital liegt oder zu Hause.

Das erzählen die Bauern und trinken Tee dabei, aber dann stehen sie auf, sie müssen – kein Besuch aus Europa kann sie daran hindern – auf das Feld hinaus. Wir gehen mit, so angenehm es war unter dem Flugdach, das wie ein Schutzschild über uns lag, uns vor den Flammenwerfern der Sonne barg. Wir gehen mit, denn wir wollen endlich die Baumwolle in natura sehen.

Voll sind in diesen Breiten die Zeitungen mit Berichten 160 von der Baumwollfront, mit Telegrammen von Siegen und Niederlagen, mit Leitartikeln über Insektenbekämpfung, mit Feuilletons über Baumwollkreuzungen, mit Sportmeldungen über Wettbewerbe, mit Personalnachrichten über Stoßbrigadiere, die versetzt oder prämiiert werden, mit Gerichtssaalberichten über jene Komplizen des Schädlings Ramsin, die sich im Abschnitt Baumwolle betätigten.

Für unseren Besuch der Baumwollbezirke haben wir uns in Taschkent vorbereitet, indem wir das NICHI besuchten, das großzügige Forschungs- und Versuchsinstitut für Baumwollkultur. Hunderte von Wasserbau-Ingenieuren, Studenten und Praktikern nehmen dort Materialprüfungen vor, setzen Steine dem Druck aus, behandeln Sand und Löß chemisch, führen Holzmodelle von Kanälen durch die Laboratoriumssäle. An einem 115 Meter langen Probekanal und an einem Rundbassin von 14 Meter Durchmesser wird im Hof mit Wasserkreisel und Sekundometer das Gefälle gemessen. Pumpen und Regulatoren werden konstruiert, Pläne gezeichnet für mächtige Hydrostationen und Bewässerung der Felder. Fabriken in Philadelphia, Pa., in Schaffhausen und in Berlin haben die Materialprüfungsmaschinen geliefert, Zement wird unter Druck von 30 Atmosphären gesetzt, Stein dreht sich gegen Stein, Preßluft wird durch Kupferröhren in das zu prüfende Material eingelassen.

Solches sahen wir in einem einzigen Gebäude des Baumwollforschungsinstituts. Aber wir sahen noch andere Abteilungen. In der agronomischen wird durch Experimente der Bewässerungsbedarf der Pflanze und der Einfluß der unterschiedlichen Feldarbeiten und Düngemittel festgestellt, man versucht auch unterirdische Bewässerung und künstlichen Regen, – Wolken lenkbar zu machen und an 161 gewünschter Stelle zu verflüssigen. Welch ein Problem! Was wäre damit alles gelöst, insbesondere unter diesem Himmelsstrich, wo Wüste und Steppe, Gebiete, so groß wie Europa, zu urbarem Lande würden. Noch ist's nicht so weit.

Inzwischen werden in der Selektionsanstalt ägyptische Sorten mit amerikanischen gekreuzt, schnellreifende mit langfaserigen, starkkapslige mit Trockenheit ertragenden, da paaren sich die pflanzlichen Kinder Afrikas mit denen Amerikas, und die Folgen dieser Rassenvermischung wachsen heran, übertreffen die Eltern an Kraft und Fruchtbarkeit, bald wird es Stauden geben, die nicht mehr dreißig Früchte tragen, sondern vierhundert.

Die um die Autarkie der Sowjetunion kämpfende Wirtschaftsarmee stürzt die Baumwollbörsen von Washington, Liverpool und Bremen und den Federal Farmers Board of USA aus einer Panik in die andere. In Taschkent haben wir das Generalstabsquartier dieser Armee besucht. Wie aber sieht es an der Front aus? Nun sind wir an der Front . . .

Die Eisenharke, den »Kitmin«, geschultert, zieht die Kolonne aus dem Unterstand in die Schützengräben. Entlang der rosagelben Blüten, Pflanzen, die nicht anders aussehen als Kartoffelstauden. Entlang der Kanäle; in ihnen staut sich braunes Wasser, das den Boden, aber leider keineswegs die Luft befeuchtet. Und die Maulbeerbäume, jung, geben noch keinen Schatten.

Jüngere Mitglieder des Kollektivs marschieren dicht neben uns; sie haben in der Schule gelernt, daß es ein Deutschland gibt, und schmiegen sich nun an uns, diesen leibhaftigen Beweis von der Richtigkeit der Theorie . . . Sie möchten etwas über dieses Land, überhaupt etwas über den 162 Kapitalismus hören, wir hingegen möchten etwas über die Baumwolle hören.

Aber gerade die Jungen haben wenig Zeit, sie sind Stoßbrigadiere und die Arbeit harrt ihrer. Sie ziehen die Sandalen aus, krempeln die Hosen auf, stellen sich in die Kanäle (im Hauptkanal reicht ihnen das Wasser bis an die Knie, in den Maschen des Wassernetzes nur bis an die Knöchel) und schaufeln den Schlamm heraus und klatschen den Damm fest. Andere entfernen das Unkraut von den Stauden. All das geschieht mit dem gleichen Instrument, der Harke.

Wahrlich, hätten wir die chemischen und physikalischen und agronomischen Laboratorien nicht gesehen, so würden wir die Schaffung von Baumwolle für eine zwar mühselige, aber dennoch primitive Sache halten. Die Bauern wissen wohl auch noch nicht viel davon, daß sich die Gelehrten in Taschkent über ihre Arbeit die Köpfe zerbrechen, und noch weniger ahnen sie, daß ihre Arbeit den Herren vom Federal Farm Board in Washington und von den Börsen in Liverpool und Bremen Leibschmerzen verursachen. Sie schwingen die Harke.

Wir werden fröhlich aufgefordert mitzuarbeiten. In den Arik steigen wir nicht hinab, so angenehm es vielleicht wäre, bis zu den Knien im Schlamm, bis zum Nabel im Wasser zu stehen. Wir beteiligen uns nur am Werk des Jätens, was uns leichter erscheint, aber es bilden sich Blasen auf unserer Handfläche. Das erweckt ein Bedauern der Bauern, das ohne Zweifel mit Genugtuung gemischt ist: nicht jeder kann so schwere Arbeit tun . . .

Sieh dich um, Fremdling, das alles haben wir geschaffen. Diesen großen Garten von rosagelben Blüten . . . 163 Und weißt du, daß hier vor ein paar Jahren noch Tiger wohnten? Jetzt wohnen wir hier, wir!

Aber wir wohnen noch nicht gut, das sollst du wissen. Die Wohnhäuser sollen im Winter fertig sein, aber sie werden nicht für alle Familien ausreichen. Und man bewilligt keine neuen Baukredite, solange die alten nicht abgezahlt sind! Die neuen Traktoren und das Bauholz sind noch nicht eingetroffen. Mit dem Tee und dem Zucker kommt man nicht aus, auch mehr Kautabak müßte geliefert werden, denn oft genug gibt es keinen auf dem Basar in Aral zu kaufen.

»Und die Zeitung kommt unregelmäßig,« ruft ein Bursch aus dem Wasser des Kanals heraus.

»War es im vorigen Jahr besser?« fragen wir den Usbeken Halmat Bojmat.

»O nein. Im vorigen Jahr hatten wir zu wenig Brot und Fleisch, jetzt haben wir genug. Es gibt viele neue Straßen und neue Kanäle und wir können jetzt auch mit den Maschinen umgehen. Im nächsten Jahr soll es noch besser werden, die Straßen führen schon bis zur Insel, die Fähren sind da, die Waren werden rascher eintreffen. Aber jetzt haben wir zu wenig Tee, Zucker und Tabak. Die Bolschewiken haben die Traktoren erfunden und die Kolchose – das ist gut, aber die Bolschewiken geben uns zu wenig Waren und zu wenig Maschinen – das ist schlecht.«

»Die Bolschewiken? Sind denn unter euch keine Bolschewiken?«

»Nur die jungen Leute.« 164

 


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