Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Besichtigung der Stadt Garm

Gut. Sehen wir uns diesen Bezirk am Pamir an. Von den »Zar Peter«-Bergen blinkt Schnee, die Wasserstrudel des Wachsch ventilieren die Luft. Absolut genommen, mag das Wetter frühlingshaft warm sein, aber was ist »absolut?« – uns fröstelt, denn wir haben uns seit Wochen an eine Luft gewöhnt, die über 40 Grad im Schatten zeigt.

Zwischen den europäischen Bauten klaffen Lücken. Menschenansammlung auf dem Marktplatz vor einem weißen Häuschen, dem Rundfunkgebäude. Ein Zimmer, dessen Fenster geöffnet sind, ist nichts geringeres als der Senderaum. Wer in seiner Hütte keinen Empfangsapparat hat, geht hierher und hört die Radiovorträge nicht nur, sondern sieht sie auch. Eben spritzt ein tadschikischer Volkssänger Witze in den Äther, und die Horcher draußen bedenken ihn mit Zwischenrufen; selbst wenn drinnen eine transparent aufleuchtende Tafel »Ruhe! Vorführung!!« hinge, was kümmerte das die Außenstehenden, Schwarzhörer und Schwarzseher?

Der junge tadschikische Rundfunkleiter sieht uns aus Europa heranschlendern, er bittet uns eindringlich, laut und unbekümmert um die diskretesten Pointen, die der 176 Volkssänger eben dem Mikrophon zuraunt, wir möchten doch »Gegenwart und Zukunft Europas« in einem Radiovortrag behandeln.

»Wann?«

»Sofort. Komm' herein. Macht Platz, rafikon.« (Genossen.)

Uns bleibt die Spucke weg. Wir sind von anderen Weltteilen her gewöhnt, unsere Radiovorträge, selbst unpolitische, Wochen vorher der Zensur vorzulegen. Und so aus dem Stegreif zu sprechen? Wir wenden ein, daß unsere Kenntnis des Tadschikischen ungenügend ist.

»Macht nichts,« ruft der braune Funkleiter, »macht nichts. Du sprichst russisch und wir übersetzen es.«

Er läßt einen Pfiff ertönen, den man – was »Ruhe im Senderaum!«, was »Vorführung!« – jetzt in den Berghütten der Pamirschen Hochebene, drüben jenseits der Grenze in den Kasernen des indischen Grenzkorridors, in den Wachtstuben Persiens, Chinas und Afghanistans hören wird, und der rafik Fedja kommt aus seinem Haus, gern bereit, zu übersetzen.

»Achtung! Achtung! Achtung! Ein garantiert echter Europäer spricht jetzt persönlich über die politische und wirtschaftliche Lage Europas und ihre zukünftige Gestaltung!« Das ist zum Glück ein Thema, das man in zwanzig Minuten bequem erschöpfen kann, und während unsere Worte noch in den Antennen auf dem Dach der Welt nachschwingen, während ganz Asien der Übersetzung unserer Ausführungen lauscht, sind wir schon fort aus dem Rundfunk und wieder auf unserem Rundgang.

Was uns zunächst auffällt, sind dunkle Scheiben an den Wänden der Lehmhütten, nebeneinander, übereinander 177 aufgepappt. Soll das ornamentalen Zwecken dienen? Erst im weiteren Verlauf unseres Spaziergangs erkennen wir die Tätigkeit einiger Frauen als den Produktionsprozeß dieser Rundkuchen. Wir agnoszieren (mit unserer Nase) das Rohmaterial und erfahren, welchem Zweck das Fertigprodukt dient. »Vor dem Haus wird Hammelmist mit Wasser und Häcksel angemacht, auf dem Vorbau mit der tierisch stinkenden Masse »backe, backe Kuchen« gespielt. Keusch verschleiert sind die Frauen bei dieser Arbeit, duldet doch der liebende Gatte mitnichten, daß durch Blicke fremder Männer die Blume seines Harems geschändet werde, während sie Mist zu Scheiben knetet. Der Fladen, der einer war und einer ist, wird auf die Lehmwand geklatscht, damit er trockne und im Winter als Heizmaterial diene.

Beileibe nicht alle Frauen von Garm tragen den Schleier, mehr als ein Drittel hat ihn bereits abgelegt, beileibe nicht aller Frauen Tätigkeit beschränkt sich darauf, aus nassem Hammelmist »Topak« zu backen. Wir sehen ins Fenster eines großen Hauses. Eine Frau kommt heraus und fragt uns, ob wir etwas suchen. »Oh, nichts, wir gehen zufällig hier vorbei, wollten sehen, was drinnen für Maschinen klappern.« »Wir sind ein Artjel (Produktionsgenossenschaft) von Näherinnen. Bitte, treten Sie ein.«

So geraten wir in die Kooperative der Weißnäherinnen. Vierzig Frauen, alle unverschleiert, einige sitzen sogar auf Stühlen, denn sie arbeiten an der Nähmaschine, andere hocken nähend auf dem Teppich, Kinder spielen neben ihnen, das Haar der kleinen Mädchen ist in fünfzehn dünne Zöpfe geflochten, an deren Enden Bändchen baumeln.

Laken, Polsterbezüge, Leibwäsche werden hier genäht, 178 und gleichzeitig Vorträge gehalten, Konzerte gegeben, am Abend finden Kurse statt, hauptsächlich Lesen, Schreiben und Rechnen.

»Was sagen eure Männer dazu?«

»Anfangs waren sie dagegen, daß wir hierhergehen, jetzt sind sie zufrieden, weil wir Geld verdienen. Wir konnten uns zu Hause Radio einrichten und statt mit Topak, heizen wir mit Holz, das Leben ist besser geworden, auch für unsere Männer.«

»Wieviel verdient ihr?«

»Die Leiterin bekommt 285 Rubel monatlich festes Gehalt, die Mitglieder teilen den Gewinn auf, eine Weißnäherin verdient etwa 120 Rubel, eine Fertigmacherin 100 Rubel.«

Porträts von Rosa Luxemburg, Krupskaja und Clara Zetkin dominieren an der Wand. Von Männerbildnissen die des Staatspräsidenten von Tadschikistan Nasratullah Maksum, Lenins und Stalins.

»Wissen Sie, wer Lenin war?«

»Ja,« sagt die Befragte, eine Frau von fünfzig, »er war ein Russe und hat uns Frauen vom Schleier befreit. Sein Name sei gelobt.«

In der Ecke raucht der Samowar, Tassen mit Tee werden umhergetragen. Mehrere Dojra (Tamburine) lehnen an den Holzsäulen, die die Decke tragen. Die Leiterin richtet an die Frauen die Frage, ob sie dem Fremden einen Tanz zeigen wollen. Einige kichern. Tanzen vor einem Mann, der nicht der Gatte ist?

Da tritt eine kleine schmale Greisin vor und beginnt zu trippeln und ihre Hände beginnen zu flattern, und die Tamburine beginnen zu schwingen, und die Alte wird immer 179 jünger und lebhafter, ohne daß durch die Beschleunigung der Bewegungen etwas von dem verlorenginge, was der Tanz versinnbildlichen will: Zurückhaltung, Entgleiten, Sich-Versagen, Sich-Hingeben. Manchmal schlagen die Spielerinnen staccato mit dem Handgelenk auf das von kleinen Schellen umringte Trommelfell, dann läßt die Tänzerin den Hals vor- und rückwärts schnellen; auch die Oulednails in Afrika haben diese Tanzfigur, sie scheint die Bewegungen eines Vogels nachzuahmen.

Noch hat die Alte nicht geendet, als schon Junge antreten, um sich tanzend Bewunderung zu erwerben. Die Etagen der Ohrgehänge klirren aneinander. Hände, die sonst der lange Ärmel des grellseidenen Parandscha solcherart verhüllt, daß sich auch kein Fingerspitzchen offenbart, Hände entblößen sich bis zum Knöchel. Fuß vor Fuß setzen die Tanzenden, schweben in koketter Flucht vor einem imaginären Partner davon, schaukeln sich im Kreis, der Alten aber tut es an Grazie keine gleich.

Aus der Nachbarschaft sind Frauen gekommen, wir mögen auch ihre Betriebsgenossenschaft mit unserem Besuch erfreuen. Nun, wir erfreuen den Wäscherei-Artjel mit unserem Besuch.

»Vor einem Monat kam eine Abteilung Rotarmisten hierher, um die Schäden zu beseitigen, die der Lehmsturz aus den Bergen verursacht hat. Wir haben Stoßbrigaden organisiert, acht Tage und acht Nächte für sie gewaschen und geflickt, Leibwäsche, Schlafsäcke und Laken. Weil wir von ihnen selbstverständlich keine Bezahlung nehmen wollten, haben sie uns 600 Rubel für die Anschaffung einer Dampfwaschmaschine gestiftet.«

Wir ziehen weiter. Im Frauen-Ambulatorium amtiert eine 180 robuste russische Ärztin und zeigt uns ihr Ordinationsbuch. Achtzehn bis zwanzig Fälle im Tag, meist gynäkologische. »Ab.-Kom.« ist neben dem Befund eingetragen, ohne Beschluß der Abortus-Kommission, die nach medizinischen und sozialen Gründen entscheidet, darf keine Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen werden. Anfangs gab es fast vierzig Prozent Fehlgeburten, weil die Mütter zu jung waren, jetzt noch immer fünf Prozent. Ekzeme kamen häufig vor infolge mangelnder Hygiene, aber durch die Aufklärungsarbeit vermindert sich ihre Zahl. Medikamente kriegt man unentgeltlich in der Apotheke gegen Vorweisung des Rezepts.

»Sie sehen, ich ordiniere täglich,« sagt Anna Michailowna Orlowa. »Gesetzlich habe ich jeden fünften Tag frei, aber da die Patientinnen von weither kommen und mich auch in meiner Wohnung aufsuchen, hab' ich darauf verzichtet.«

»Da werden Sie wohl froh sein, Anna Michailowna, wenn Sie von hier abgelöst werden!«

»Wissen Sie, bis zur Revolution war ich gewöhnliche Krankenpflegerin im Marienspital in Moskau, – Sie kennen es wahrscheinlich, das Haus, wo Dostojewskij geboren wurde. Nach der Revolution bot man mir die Möglichkeit zu studieren. Ich war so froh über dieses große, niemals erträumte Glück, daß ich aus Dankbarkeit im entlegensten Winkel der Sowjetunion arbeiten wollte. So habe ich mich verpflichtet auf drei Jahre hierherzugehen.«

»Nun, Anna Michailowna, drei Jahre gehen schnell vorbei.«

»Sind schon vorbei. Aber wissen Sie, es hat sich herausgestellt, daß mein Opfer gar kein Opfer war, meine Arbeit ist erfolgreich, jetzt habe ich mir meine medizinischen 181 Bücher aus Moskau schicken lassen, fünfzehn Pud, ich gehe nicht mehr fort von hier.«

Wenn man die Russen hier fragt, wieso sie in diesen Winkel Asiens geraten sind, so bekommt man oft die Antwort: ich habe mich hierher gemeldet, um für den Sozialismus im tiefsten Dickicht des Sowjetlandes eine Zeitlang zu arbeiten. Nicht immer schenke man dieser Angabe Glauben! Gar mancher, der sich zu Hause durch Schädlingsarbeit unmöglich gemacht, und gar mancher enteignete Großbauer wanderte nach Asien aus (wo schon vor drei Jahren die Arbeitskräfte nicht ausreichten), um sich die Qualifikation eines Arbeiters, die Mitgliedschaft der Gewerkschaft und vielleicht sogar eine öffentliche Funktion zu erwerben.

Andere pirschten sich aus trüberen Motiven heran, insbesondere damals als die NÖP in ihrer Sünden Maienblüte stand, versuchten sie Kolonialgeschäfte zu betreiben, handelten mit Karakul, Schafwolle, Reis, Schmuggel und Spionage.

Neben diesen, deren Zeit längst um ist, gingen viele hierher, um aus politischer Überzeugung wirtschaftliche Arbeit zu leisten, jener Typ neuer Menschen, die Stoßbrigadiere heißen.

Fast alle diese neuen Menschen kamen mit der Absicht, nur kurze Zeit zu bleiben, und fast alle sind geblieben oder wiedergekehrt. An die heroischen Landschaften Mittelasiens ist man gekettet, wie eine Mutter an ihre Kinder.

Die frühere Krankenpflegerin und jetzige Ärztin Anna Michailowna Orlowa ist keine Ausnahme, sondern der Typus der aus Innerrußland eingetroffenen Sowjetarbeiter. Jedermann fühlt sich hier als Bringer der Kultur, wenn nicht gar als Städtegründer. Jedermann zeigt dir, was er geschaffen, erzählt dir, wie entsetzt er war, als er ankam, 182 wie glücklich er ist, daß er bleiben kann. Sie erzählen dir ihr Leben, in dem ihr Eintreffen in Tadschikistan die Peripetie bedeutet hat.

Anders ist es, wenn man mit Einheimischen spricht. Sie waren Partei in dem Prozeß, der in anderen Ländern tausend Jahre währte und hier innerhalb von zehn Jahren entschieden wurde. Sie sind im schwersten Sklavenkerker und in düsterer Bigotterie aufgewachsen, viele haben sich gegen die neue Zeit gestemmt und haben ihr Damaskus erlebt, nicht alle in der gleichen Stunde.

Hier in Garm erzählt uns Chassjad Mirkulan, eine junge Tadschikin in europäischer Kleidung, ihre Lebensgeschichte. Von Zeit zu Zeit kommt Rafi Aman in die Stube, ihr junger, bronzefarbener Mann, um lächelnd zu fragen, ob er noch immer nicht bleiben dürfe. Auch sie lächelt ihm freundlich zu, »nein, ich bin noch nicht zu Ende«. Sie schämt sich, vor ihm das alles zu erzählen.

Uns aber erzählt Chassjad Mirkulan, wie aus einem Stück Ware eine freie Frau wurde, eine der tausendundeinen wahren Geschichten aus der Sowjetrepublik Tadschikistan. 183

 


 << zurück weiter >>