Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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»Ich, Chassjad Mirkulan,

bin 1904 in Tschustpap, im Tal von Fergana, geboren. Als ich acht Jahre alt war, wurde ich verschleiert. Mein Vater war Weber, meine Mutter und ich stickten Mützen, meine kleine Schwester half uns beim Aufspulen, mein Bruder arbeitete bei einem Bäcker. Wir waren sehr arm und deshalb war ich noch ledig. Erst als ich vierzehn Jahre alt war, verheiratete man mich.

Wie es war? Meinen zukünftigen Mann kannte ich natürlich nicht, ja, ich hatte überhaupt keine Ahnung davon, daß ich Braut sei. Erst später habe ich erfahren, daß der Onkel meines Bräutigams (er hatte keinen Vater mehr) mit dem Imam (Priester) bei meinem Vater war, um zu fragen, ob er mich schon jemandem versprochen habe. Mein Vater verneinte und sie gingen weg.

Am nächsten Tag kamen sie wieder, meine Mutter buk Flachbrot, kochte Reisfleisch und Tee, und übergab den Gästen eine silbergestickte Mütze für den Bräutigam. Ich wurde zur Nachbarin geschickt und blieb dort von morgens bis Sonnenuntergang. Kein Mädchen darf zu Hause sein, solange die Verwandten ihres zukünftigen Mannes da sind – das ist eine religiöse Vorschrift, aber ich kannte sie nicht, und erriet nicht, warum man mich wegschickte. 184 Nachdem die Gäste gegangen waren, holte man mich, wir aßen den Rest vom Plow, den die Gäste übriggelassen hatten und wuschen das Geschirr.

Als Kaufpreis für mich hatte man ausgemacht: zwei Hammel, vier Pud Weizen, zwei Pferdelasten Holz, drei Pud Reis und eine Kuh, drei Kamelhaardecken, einen Chalat und zwei Kleider. Diese Sachen bekamen wir nie, nur die Decken und die Kleidungsstücke brachte sein Onkel. Meiner Mutter gefielen sie nicht: ›Schäbig! Nicht einmal Seide,‹ sagte sie, und sein Onkel antwortete: ›Wir sind arme Leute.‹

Ein paar Tage später erfuhr ich von meiner Mutter, daß ich heiraten werde. Ich war sehr unglücklich von zu Hause fortzumüssen und meine Freundinnen zwei Jahre lang nicht zu sehen. In den beiden ersten Jahren der Ehe darf eine Frau keine Besuche machen und keine Besuche empfangen. Auch wußte ich nicht, ob mein Bräutigam alt oder jung war und wieviel Frauen er schon hatte. Fragen durfte ich nicht.

Wie die Hochzeit vor sich ging? Drei Wochen nach der Werbung bereiteten wir ein großes Essen vor, die Verwandten kamen, dann der Mullah mit dem Bräutigam. Die Kinder liefen zu mir ins Itschkari, wo ich mit den beiden Töchtern unserer Nachbarin saß.

›Chassjad, wir haben deinen Mann gesehen.‹

Meine Freundinnen fragten (ich hätte so etwas nie gewagt): ›Ist er alt?‹

›Nein, nicht alt und er hat einen seidenen Mantel.‹

›Wie alt ist er denn?‹ fragten meine Freundinnen. Mir war, als müßte ich mich vor Scham in den Brunnen verkriechen.

›Er ist so alt wie Chassjads Bruder.‹ 185

Diese Antwort machte meine Augen froh, denn ich war überzeugt gewesen, man werde mich einem Greis geben, weil wir so arm waren.

Meine Mutter, die bisher beim Herd im Hofe gestanden hatte, befahl mir, die Nägel mit Ch'na (Henna) zu röten, die Augenbrauen mit Usmah-Gras einzureiben und mein gutes Kleid anzuziehen. Nach einer oder zwei Stunden kam sein Onkel zu uns nach hinten und rief: ›Jetzt‹.

Ich legte den Schleier an und ging zur Tür, die geschlossen war. Draußen stand der Mullah, betete und fragte durch die Tür, ob ich einverstanden sei zu heiraten. Meine Mutter gab mir ein Zeichen zu schweigen. Dreimal wiederholte der Mullah die Frage, erst beim viertenmal hatte ich zu antworten: ›Ha‹ (Ja).

Zwei Verwandte meines Mannes traten ein, breiteten einen Teppich aus, und stellten Tee und Gebäck darauf. Hierauf führten sie meinen Mann herein und er setzte sich auf den Tschapan (Teppich). Zum erstenmal waren fremde Männer im Frauengemach, meine Mutter, meine Freundinnen und ich standen verschleiert in der Ecke, das Gesicht der Wand zugekehrt, und weinten.

Dann verließen alle die Stube und ich blieb mit meinem Mann allein. Er rief ›Chassjad‹ und ich setzte mich neben ihn, abgewendet, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Er goß Tee in die Piala und reichte sie mir. Ich schüttelte nur den Kopf, ich konnte nicht trinken, ich zitterte wie eine Saite. Nun trank er den Tee selbst aus und bot mir Gebäck an, aber ich nahm auch kein Gebäck. Wir sprachen kein Wort miteinander. Nach einer Weile klatschte er in die Hände, meine Mutter kam herein, trug Kanne und Tasse fort und verriegelte die Tür von außen. 186

Er näherte sich mir und nahm mir den Schleier ab. Mein Herz schlug wie eine Trommel. Ich schämte mich, mich vor einem fremden Mann zu entblößen, ich fürchtete mich, daß ich ihm nicht gefallen werde.

In dieser Sekunde sahen wir einander zum erstenmal.

Er nickte mir freundlich zu, breitete die Kissen auf dem Teppich zum Schlafen aus, wir lagen bis zum Morgen wie Bruder und Schwester. Nicht einmal geküßt hat er mich.

Drei Tage wohnte er in meinem Vaterhaus, so verlangt es die Sitte, dann zog ich zu ihm. Hier erst erfuhr ich, daß ich seine einzige Frau sei, ihn danach zu fragen hatte ich nicht gewagt.

Wir lebten anderthalb Monate zusammen, ohne daß er mich berührt hätte. Da sagte eines Tages seine Schwester zu ihm: ›Schämst du dich nicht? Du bist schon achtzehn Jahre alt und benimmst dich wie ein Batscha‹ (Lustknabe der Homosexuellen). – ›Sie tut mir leid,‹ antwortete mein Mann, ›sie fürchtet sich so davor.‹ Die Schwester kochte eine Fleischpastete und gab Nascha hinein, eine betäubende Wurzel. Das mußte ich essen und wurde davon besinnungslos. Ich wußte nicht, was mit mir geschah. Am nächsten Tag hatte ich hohes Fieber, fünf Wochen lang lag ich schwer krank und phantasierte.

Mein Mann war Baumwollarbeiter, aber 1919 wurde selbst im Tal von Fergana keine Baumwolle angebaut, deshalb ging er, sechs Monate nachdem wir geheiratet hatten, nach Taschkent, um Arbeit zu suchen. Dort ist er an Lungenentzündung gestorben. Da er keinen Bruder hatte, dem ich als Erbe zufallen konnte, kehrte ich wieder in mein Vaterhaus zurück, saß anderthalb Jahre zu Hause und stickte Mützen.

Eines Abends kam der Bruder meiner Mutter sehr 187 aufgeregt zu uns; er hatte gehört, daß die Bassmatschen im Nachbarort alle Frauen und Mädchen geraubt hatten, und heute nachts unser Dorf überfallen wollen. Ich und meine beiden Kusinen, Obidabi und Sobira, verkleideten uns als alte Frauen und flüchteten in Begleitung meines Onkels zu Fuß über die Berge. Nach zwei Tagen waren wir in Kokand. Dort übergab uns der Onkel einem Ischan, einem Wunderpriester, mit den Worten: ›Das Fleisch ist euer, die Knochen sind unser.‹ Das sollte bedeuten: tu mit ihnen, was du willst, wenn sie tot sind, werden wir sie begraben.

Der Onkel verabschiedete sich von uns, und wir blieben als Dienerinnen im Hause des Rachmatullah Ischan. Der hatte vier Frauen und eine alte Dienerin, die uns herumhetzten. Den ganzen Tag saßen die Muridi im Hause, die Hilfspriester, oder es kamen Gäste, um von Rachmatullah Ratschläge zu erbitten, und sie brachten ihm Geschenke mit. Immerfort mußten wir Zwiebeln schneiden für das Reisfleisch, Tee kochen oder am Arik das Geschirr waschen. Wir arbeiteten und schliefen fünf Monate lang in den Altfrauenkleidern, in denen wir gekommen waren, bekamen keinen Lohn, nur Überbleibsel der Mahlzeiten, oft nur Tee und Brot.

Täglich kam der Murid Hakim-Said, ein verwachsener Greis, den wir nicht leiden konnten. Diesem Gespenst gab der Ischan die Obidabi, die ältere meiner beiden Kusinen, zur Frau, obwohl Hakim-Said schon zwei andere Frauen zu Hause hatte.

Zur Hochzeit traf mein Onkel ein. Er brachte mir die Nachricht, daß mein Vater tot sei. Die Bassmatschen hatten ihn erschlagen, weil sie glaubten, daß er mich vor ihnen 188 versteckt halte. Vor den Augen meiner Mutter haben sie ihm den Kopf mit einem Säbel gespalten.

Der Onkel sagte zu mir: ›Sollte jemand zu uns kommen, um dich zur Frau zu verlangen, so werden wir dich wieder verheiraten, wenn er dich vom heiligen Ischan loskaufen kann.‹ Ich weinte, ich wollte mit ihm nach Hause, aber er lehnte das ab, ich gehöre nicht mehr meiner Mutter, sondern dem Ischan. Zu Hause gäbe es auch nicht viel zu essen. So bat ich ihn, er möge mir wenigstens mein Kleid schicken, und das versprach er.

Einige Tage nach der Hochzeit von Obidabi erkrankte die jüngste Frau von Rachmatullah Ischan, sie spuckte Blut. Man rief den Tabib, den Arztpriester, und der verordnete der Kranken, eine Woche lang täglich Froschsuppe zu essen.

Die alte Dienerin nahm eine Zange und ein Säckchen und ging mit mir zu einem Sumpf, um Frösche zu fangen. Mehrere Male versuchte sie einen Frosch zu packen, aber er hüpfte immer davon. Erst als sie mir die Zange reichte, konnten wir zwei Frösche erwischen und brachten sie im Säckchen nach Hause.

Am nächsten Tag schickte man mich allein. Ich hatte schon einen Frosch gefangen, da hörte ich plötzlich Musik. Ich lief zur Hauptstraße und sah etwas, was ich nie in meinem Leben für möglich gehalten hätte: einen langen Zug von Frauen, die hinter einer Musikkapelle marschierten und sangen. Viele waren unverschleiert! Auf offener Straße! Zwei Frauen trugen Stangen, zwischen denen war ein rotes Tuch mit einer Aufschrift. Einige riefen immerfort etwas, ich ging mit, um zu hören, was sie rufen. Endlich verstand ich es: Jaschasun chotunlar osodleri – es lebe die Befreiung der Frau. 189

Ich ging mit, den Sack mit dem Frosch und die Zange in der Hand. Wir kamen in einen Hof, wo Tische mit Tee, Kuchen und Äpfeln standen. Ich wagte es nicht, mich hinzusetzen. Eine Frau – wie ich später erfuhr, hieß sie Ibrahimowa – trat auf die Rednertribüne und hielt eine Ansprache, sie erzählte von unserem Leben, aber sie sagte, es sei ein Unrecht, daß der Mann die Frau schlagen dürfe, daß die Frauen nichts lernen dürfen und verschleiert gehen müssen ihr Leben lang. ›Heute ist der achte März, das ist der Tag der Frauen. An diesem Tage sollen alle Frauen darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie ebensolche Menschen sind wie die Männer.‹

Ich stand da wie ein Turm. Es wäre ja sehr schön, wenn die Frauen so frei wären wie die Männer, aber hatte das Allah nicht verboten? Das war ja alles Sünde, was diese Frau redete! Nichts als Sünde! Sicherlich wird diese Frau gesteinigt werden, wenn sie zu Ende gesprochen hat. Aber alle riefen nur ›Jaschasun chotunlar osodleri‹ und einige warfen den Schleier von sich.

Noch immer stand ich erstarrt da. Die Ibrahimowa forderte mich auf, mich zu setzen. ›Ich fürchte mich,‹ sagte ich, ›ich wohne bei einem Ischan. Wenn der erfährt, was ich hier angehört habe, wird er mich töten.‹

›Ist der Ischan dein Mann?‹

›Nein, ich bin Dienerin bei ihm.‹

Die Ibrahimowa fragte mich, ob ich einen Mann habe und wo mein Vater sei, und ich antwortete, daß ich Witwe bin und mein Vater nicht mehr lebt.

›Möchtest du gerne lernen?‹

›Lernen? Ich bin doch eine Frau!‹

Und nun erklärte sie mir, es herrsche nicht mehr der 190 Emir, kein Mensch darf jetzt vor den andern ein Vorrecht haben, auch der Bey nicht, alle Menschen sollen lernen, auch die Frauen.

So etwas hatte ich noch nie gehört, und ich sagte: ›Ich möchte gerne etwas lernen. Nehmt mich zu euch, ich kehre nicht mehr zum Ischan zurück, wenn ihr mich aufnehmt.‹

›Gut. Aber trinke zuerst deinen Tee.‹ Ich nahm den Schleier ab und legte ihn links neben mich, rechts die Zange und das Säckchen, in dem der Frosch zuckte. Ich hatte Angst, man könnte mir den Schleier wegnehmen, oder daß der Frosch davonhüpft und alle mich auslachen. Ich schämte mich so sehr wegen des Frosches.

Nachdem ich Tee getrunken hatte, zog ich den Schleier wieder an, nahm meine Sachen und ging mit der Ibrahimowa; unterwegs warf ich Frosch und Zange weg.

Wir kamen in ein großes Haus – es war das Gemeinschaftshaus der Schülerinnen – die Ibrahimowa stellte mich dort einer Frau vor und verabschiedete sich von mir. Ich bekam endlich, endlich ein neues Kleid, und die Frau führte mich ins Badezimmer. Vorher hatte ich niemals eine Wanne gesehen. Zuerst fürchtete ich mich hineinzusteigen, aber dann wäre ich am liebsten darin geblieben. Nachher duschte ich. Im Schlafsaal wohnten elf junge Frauen. Zum erstenmal im Leben legte ich mich in ein Bett, ich glaubte im Djamat-Bihischi zu sein, im Paradies.

Am nächsten Morgen kam ich in den Schulsaal und begann das Alphabet zu lernen. Die anderen kannten schon viele Buchstaben und Ziffern, ich bewunderte sie sehr, aber ziemlich schnell lernte auch ich Lesen, Schreiben und Rechnen.

Wenn ich ausging, trug ich den Schleier. Meine 191 Mitschülerinnen redeten mir zu, doch den Tschadschwan zu Hause zu lassen, aber ich antwortete, jemand aus dem Hause des Ischan könnte mich erkennen, und dann würde man mich wieder holen.

Als ich neun Monate in der Schule war, fragte mich der Wirtschaftsleiter, ob meine Mutter weiß, daß ich hier bin. ›Ich glaube, sie weiß es,‹ antwortete ich, denn ich war überzeugt, daß sich der Ischan meine Flucht mit der Demonstration am Frauentag erklärte. Der Rachmatullah Ischan galt ja als der weiseste Mann des ganzen Kokander Bezirks.

›Ich werde deiner Mutter schreiben, daß du hier bist.‹

Ich fürchtete, meine Mutter würde mich wieder zum Ischan bringen, der Onkel hatte doch gesagt: das Fleisch ist euer, die Knochen sind unser. Deshalb bat ich den Wirtschaftsleiter, nicht zu schreiben. Er sagte nur: ›Ohne Grund werde ich es nicht tun.‹

Einige Tage später, ich war gerade Diensthabende und machte Ordnung im Schlafsaal, da sah ich eine verschleierte Frau an der Tür stehen und hereinlugen.

›Keine Angst, keine Angst,‹ rief ich lachend, ›Sie können hereinkommen, hier sind keine Männer.‹

Die Fremde kam ganz steif auf mich zu, so daß mir angst und bange wurde. Der schwarze Schleier berührte schon mein Gesicht, da schrie die Frau auf:

›Chassjad!‹

Es war meine Mutter. Sie konnte zuerst gar nicht sprechen, sondern betastete mich nur. Dann riß sie mich an sich, küßte mich und weinte und weinte. Inzwischen war auch der Onkel heraufgekommen und starrte mich ebenso fassungslos an.

Nach und nach hörte ich, warum sie so aufgeregt waren: 192 der Onkel war kurz nach der Hochzeit seiner Tochter wieder nach Kokand gekommen, um mir, wie er versprochen, mein Kleid zu bringen. Im Haus des Ischan erfuhr er, daß ich ermordet worden sei. Als ich nämlich von der Froschjagd nicht nach Hause kam, ließ der Ischan eine Wahrsagerin rufen, sie sollte aufklären, wo ich geblieben bin. Die Alte warf eine Baumwollkapsel in heißes Wasser und begann zu erzählen, was sie sah: am Ufer eines Kanals packt mich ein Bassmatsch – er reißt mich aufs Pferd – er reitet mit mir davon. Dann sah sie, wie er mich in ein Gebüsch schleppt. Plötzlich schrie die Wahrsagerin: ›Jetzt brennt ihr Licht nicht mehr.‹ Mit dieser Nachricht von meinem Tode war der Onkel zurückgekehrt, und die Mutter hatte mich lange betrauert . . .

Vor drei Tagen war von der Schule eine Mitteilung eingetroffen, daß ich hier sei, und die Mutter möge nach Kokand kommen. In höchster Aufregung hatte sie sich mit ihrem Bruder aufgemacht, um zu erfahren, was diese Mitteilung bedeutet. Trotz aller Freude, daß ich am Leben war, machte sie mir Vorwürfe: ›Wieso bist du ohne Tschadschwan? Wer hat dich dazu gebracht, eine so schreckliche Sünde zu begehen? Schlechte Menschen haben Einfluß auf dich!‹

Ich schwor, daß ich nur zu Hause und in der Schule unverschleiert bin und niemals auf der Straße, aber sie hielt auch das für sündhaft und schamlos, denn wie leicht kann ein Mann hereinkommen und mich so sehen!

Für den Abend hatte uns der Wirtschaftsleiter eingeladen, ich war verschleiert, obwohl er mich sonst immer ohne Schleier gesehen, und auch seine Frau und seine Schwester unverschleiert dasaßen. Er sprach leise mit meinem Onkel 193 und mit meiner Mutter, dann riefen sie mich und ich erfuhr, warum er nach Hause geschrieben hatte. Ein Lehrer wollte bei meiner Mutter um meine Hand anhalten. ›Nein,‹ sagte ich, ›ich will hierbleiben und weiterlernen.‹ Man ließ den Lehrer holen, er kam und war einverstanden, daß ich auch als seine Frau weiter die Schule besuche.

So haben wir geheiratet. Das war eine andere Hochzeit als meine erste. Wir gingen einfach zum ›Sags‹, dem Sowjet-Standesamt und ließen uns als Mann und Frau eintragen. Die Beamtin war keine andere als die Ibrahimowa. Sie war glücklich, daß ich in der Schule geblieben war, und noch mehr, als ich erzählte, wie gern ich lerne.

Bis 1922 blieb ich in der Schule, dann bekamen wir, mein Mann und ich, die Erlaubnis, in den Rabfak (›Arbeiterfakultät‹ – Vorbereitungsschule für die Universität) von Taschkent einzutreten.

Als Studentin und Frau eines Jungkommunisten konnte ich unmöglich mit dem Tschadschwan ausgehen. Ach, das kann ich gar nicht schildern, wie es war, als ich die ersten Male unverschleiert über die Straße ging; ich hielt mich knapp hinter meinem Mann, so daß mein Gesicht fast an seinen Rücken gedrückt war, dann schielte ich, ob die Vorbeigehenden nicht stehenbleiben und lachen.

Sie müssen bedenken, daß eine Frau nur vor dem Vater und dem Sohn Hände und Gesicht entblößen durfte, das Gesicht konnte man auch vor den eigenen Brüdern und den älteren Brüdern der Mutter zeigen. Ich erinnere mich, daß eines Tages, ich war acht Jahre alt und eben unter den Schleier gekommen, meine Mutter zu mir sagte: ›Mirismon ist heute beschnitten worden.‹ Mirismon war ein Nachbarjunge, ich habe ihn Gehen gelehrt, als ich selbst erst drei 194 oder vier Jahre alt war, fast von seiner Geburt an spielte ich täglich mit ihm. Die Mitteilung meiner Mutter bedeutete, daß er von nun an mein Gesicht nicht mehr sehen durfte.

›Wenn eine Frau hustet, so daß ein Mann es hört, oder wenn ein fremder Mann die Hand einer Frau sieht, so ist das Schmach und Sünde für die ganze Familie.‹ So predigte der Priester sehr oft, das weiß ich, denn jedesmal kam der Vater nach dem Moscheebesuch zu uns ins Itschkari und wiederholte diesen Spruch, den der Mullah aus dem Ktab vorgelesen hatte. Ein Mädchen, das sich nach einem Mann umdreht, galt als Prostituierte.

Ich erzähle das nur, damit Sie verstehen, was das für mich bedeutete, daß ich ohne Schleier durch die Taschkenter Straßen ging und mich umsah, ob nicht jeder stehenbleibt und mich verhöhnt. Bald bemerkte ich, daß niemand stehenbleibt und niemand mich verhöhnt.

Im Jahre 1923 trat ich in den Jugendverband ein. Nachdem ich den Rabfak absolviert hatte, besuchte ich die Universität, ich studierte politische Ökonomie, Revolutionsgeschichte und einige Nebenfächer. Die russische Sprache hatte ich schon auf der Arbeiterfakultät gelernt.

Fünf Jahre blieb ich in Taschkent, wurde Parteimitglied und beendete mein Universitätsstudium. Mein Mann hat ein Jahr vor mir absolviert und war in Kagan bei Buchara tätig, wohin ich nun auch fuhr. Ich wurde dort politische Leiterin des Frauenverbandes, dessen Mitglieder meist Seidenarbeiterinnen waren. Von Kagan kam ich zur Frauensektion nach Stalinabad, das damals noch Djuschambe hieß, und wurde nach einiger Zeit zur stellvertretenden Vorsitzenden des Stadtsowjets (Vizebürgermeisterin) gewählt. Es war 195 die Zeit des Aufbaus, Hunderte neuer Häuser wurden gebaut, die erste Eisenbahn, alles mußte organisiert werden. Ich kam oft tagelang nicht nach Hause.

Mit meinem Mann im gleichen Amt arbeitete eine Russin, und die beiden verliebten sich ineinander; von einer Dienstreise nach Taschkent schrieb er mir, daß er dort auf dem ›Sags‹ war und seinen Austritt aus unserer Ehe eintragen ließ. Er schrieb, er habe nicht den Mut gehabt, mir seinen Entschluß vorher mitzuteilen, ich möge ihm verzeihen. Mir tat die Scheidung sehr weh, aber meine Arbeit ließ mir keine Zeit, mich mit meinem Schmerz zu beschäftigen.

1929 kam ich hierher nach Garm, um einen Bezirksdelegiertentag der Frauen zu organisieren; die Frauen waren hier politisch und wirtschaftlich sehr rückständig. Hammeldreck zu ›Topak‹ zu backen war ihre einzige Tätigkeit, es gab noch Kinderehen und dadurch häufig Fehlgeburten, Vielweiberei war die Regel, Mangel an Hygiene, Mangel an Aufklärung, fast hundertprozentiger Analphabetismus. Ich machte der Partei den Vorschlag, mich hier zu belassen, bis diese Mißstände beseitigt sind, und so bin ich geblieben.

Das ist alles, was ich von meinem Leben zu sagen habe. Ja, richtig, vor einem halben Jahr kam Rafi Aman als Sekretär des Bezirkskomitees nach Garm – dieser Kerl, der da schon wieder hereinkommt, um mich zu fragen, ob ich mit meiner Geschichte noch nicht fertig bin. Dich hätte ich beinahe vergessen! Nun, wir haben uns geheiratet und ich hab' ihn auch ganz gern, obwohl er es nicht verdient . . .

Sie wollen noch wissen, was aus den anderen Personen geworden ist, von denen ich gesprochen habe? Der Ischan Rachmatullah ist in Kokand geblieben, zwei seiner Frauen sind gestorben, aber die, der ich die Frösche nicht gebracht 196 habe, lebt immer noch. Es geht ihm schlecht, wenig Leute kommen zu ihm, um von ihm Wunder zu erbitten. Sein Murid Hakim Said, der verwachsene Greis, den wir nicht leiden konnten, und der meine Kusine Obidabi geheiratet hat, ist schon vor einigen Jahren gestorben und Obidabi hat wieder geheiratet. Die andere Kusine Sobira kehrte nach Tschustpap zurück, sie ist Traktorführerin und ihr Mann ist auch Traktorführer. Mein Bruder ist roter Direktor der Brotfabrik in Fergana, meine Schwester arbeitet in der Samarkander Spinnerei.

Meine Mutter ist Vorsitzende einer Gemüse-Kollektivwirtschaft von 40 Mitgliedern. Sie hat Lesen und Schreiben gelernt, und schreibt mir lange Briefe – die sind aber nicht leicht zu lesen.

Ob sie noch Schleier trägt? Seit sechs Jahren nicht mehr.« 197

 


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