Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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Ein Bezirk am Pamir

Es gab keine Eisenbahn im Gebiet der Sowjetrepublik Tadschikistan, bevor es eine Sowjetrepublik Tadschikistan gab.

Von Garm, einem wirtschaftlich, politisch und strategisch wichtigen Bergbezirk, mußte man acht oder zehn Tage reiten, um zur Eisenbahnstation zu kommen, und dann einen Begleiter mit dem Pferd warten lassen, bis zu dem Tage, da man mit der Eisenbahn wieder nach Fergana oder Termes zurückkehrte. Die Reise nach Buchara, der Hauptstadt, erforderte einen Monat. Das alles bedeutet: man fuhr überhaupt nicht, man war abgeschlossen von der Welt.

Jetzt fliegt täglich zweimal der Aeroplan in 50 Minuten nach Stalinabad, der neuen Hauptstadt (vom Autobusverkehr ganz abgesehen), und von dort kann man überallhin fahren, wohin man Lust, Geld und Paß hat. Liquidierung ewiger Einöde auf ewige Zeit.

Wir flogen von Stalinabad nach Garm, aufrichtig gesagt, nicht wegen der wirtschaftlichen, politischen oder strategischen Wichtigkeit dieses Bergbezirks, sondern weil die Juliglut in den tadschikischen Tälern immer zudringlicher wurde, sogar bei Nacht warf sie sich zu uns ins Bett, riß uns das Hemd vom Leib und umschlang uns brünstig. Fort in die Berge, hinauf in den Schatten des Pamir! 165

Über den Flug ist das zu sagen, was die verflossene Fürstin von Monaco, geborene Heine aus Hamburg (ach, ihr Onkel Heinrich hat ihre Ehe nicht mehr erlebt), mit einem Blick zum Himmel gesagt hat: »Klein ist mein Land, aber hoch!« Die Flugstrecke Stalinabad–Garm ist kaum zweihundert Kilometer lang, aber hoch, dreitausend Meter hoch.

Zuerst bewegt sich der Aeroplan in normalen Sphären über den Fluß Kafirnigan und die Autobusstrecke, immer nordöstlich, über Dörfer und Hügel, auf denen Herden weiden – das Land der Baumwolle ist gleichzeitig das der Schafwolle. Wo wir auch saßen, lagen, gingen oder fuhren, weideten und schnupperten Hammel und Schafe, oft spitznäsige mit gewundenen Hörnern, oft schwarze, oft gelbe, oft schneeweiße, oft schwarze mit weißen Ohren, oft weiße mit schwarzen Ohren, oft solche, die Spitzbärte hatten wie ihre kirgisischen Hirten, alle voneinander verschieden, aber alle, alle mit dem wabbelnden, wackelnden Riesensteiß, der noch grotesker wirkt, wenn der Körper geschoren ist. In viel Schafdreck haben wir uns gelegt, viel Geblök hat uns aus endlichem Schlaf geweckt, aber wir haben uns auch gerächt: viel Plow haben wir gegessen und viel Schaschlik.

Hinter der Stadt Obigarm, die die Hälfte des Weges markiert, zeigt sich der Wachsch, nicht als Strom, sondern als ein schmaler Streifen Stanniol. Hier müssen wir uns schon dem Plafond der Erde nähern, wir schweben über den Wolken, sonst würden wir die Berge anrennen.

Der Zeiger des Höhenmessers rückt schneller vor als ein Sekundenzeiger. Wir fliegen einen Hang hinauf, immerfort in einem Winkel von 45 Grad, immerfort parallel zur Böschung, immerfort schief, graues Geklüft unter uns, dahinein niemand schaute, bevor Flugzeuge hier ihren Weg 166 nahmen; Schichtung und Faser des Felsens sind aber auch das einzige, was zu sehen ist. In den Oasen des Gesteins drängen sich Häuschen, sie sind überhängend gebaut, eines balanciert auf den Schultern des anderen, ein gewölbter Steg führt über den Abgrund; vom schrägen Flugzeug aus wirken die Überschneidungen noch bizarrer.

Die Orgien, zu denen uns die Hitze zwang – Aufspringen – Trinken – Kompressen auf den Kopf – Duschen – Niederlegen – Schwitzen – Schwitzen – ununterbrochene Ejakulation des Schweißes – das alles fühlen wir noch in unseren Gliedern, dieweil wir Schnee sehen, Eisgletscher nah vor uns, so hoch wie wir.

Wir kommen nicht zu ihnen, auf dem Flugplatz von Garm gehen wir nieder. Passagiere warten schon, um einzusteigen und dorthin zu fliegen, woher wir kommen. Wie anderswo Omnibusse vor den Bahnhöfen stehen, warten hier Pferde auf die Ankommenden. Die Uferböschung des Wachsch ist ein senkrechter Felsen mit einem willkürlichen Strich dazwischen: dem Weg. Vom Pferderücken aus ist der Wachsch kein schmaler Stanniolstreifen mehr, er ist ein reißendes Tier, das gierig nach Beute brüllt, nach uns. Wohl sind wir hoch, aber der Fels ist steil und der Weg ist schmal, und Hummeln umschwirren die Pferde, die deshalb um sich schlagen, Sprünge machen, welch ein sicheres Verkehrsmittel ist doch das Flugzeug!

Nun, da ist Garm. Kühl ist es und schön im Juli am Abhang des Pamir, unter dem Dach der Welt. Wir suchen die jungen Tadschiken auf, die wir in Stalinabad kennengelernt und die uns geraten hatten, vor der Hitze zu ihnen zu flüchten. Vor kaum zwei Stunden sind wir im Aeroplan aufgestiegen und hart an die Stratosphäre geraten, sind dann 167 auf tänzelndem, insektenumschwärmtem Roß einen reißend durchströmten Abgrund entlanggeritten, jetzt fluchen wir der Stellung, in der wir vor einem Haus auf dem Marktplatz von Garm nach Landessitte unseren Tee trinken müssen: untergeschlagene Beine sind unbequem für Menschen, deren Embonpoint selbst in den schwülen Sommernächten Mittelasiens nicht ganz verschwand.

»Alles, was du hier an neuen Gebäuden siehst, Genosse, haben die Sowjets gebaut. Und das Sowjetregime besteht hier eigentlich erst seit zwei Jahren.«

»Seit zwei Jahren? Ich dächte, der Emir ist vor elf Jahren geflüchtet, – wer regierte hier in der Zwischenzeit?«

»Stehe nicht, Genosse, sondern füge dich der Landessitte. Setze dich zu uns auf die Erde und höre die Geschichte eines Bezirks am Pamir, bevor du dir ihn ansiehst.«

Die ersten Sowjets wurden hier viel später als anderswo gewählt und sie leiteten alle Angelegenheiten des Bezirks. Wer aber waren die Gewählten und ihre Hilfskräfte? Es waren die ehemaligen Beamten des Emirs und die ehemaligen Tschinowniki des Zaren, – vom heutigen Bezirk Garm gehörte nämlich der größte Teil zum Emirat und wurde von zwei Beys regiert. Sie saßen in Karai-Tagan und Darvas. Ein Teil des Garmer Bezirkes gehörte zu Rußland, zum Pamirgebiet.

Noch nach der Revolution hatten die Machthaber von einst Einfluß genug, um sich oder ihre Vertrauensleute wählen zu lassen. Sie ließen die Großgrundbesitzer schalten und walten, sie übten die Gerichtsbarkeit nicht nach den Sowjetgesetzen aus, sondern nach dem Schariat, sie unterdrückten die arbeitenden Klassen wie früher. 168

Im Frühling des Jahres 1929 kamen von Afghanistan Bassmatschen herüber unter Führung von Fusail Maksum. Sie besetzten alle Orte des Bezirks. Die Kulaken sympathisierten mit ihnen, denn die Kollektivisierungsvorschriften, die ihrer Macht ein Ende bereiten sollten, waren bereits verlautbart. Auch die Mullahs machten mit den Räubern gemeinsame Sache. Nichts konnten die Mittelbauern, die Kleinbauern und die Landarbeiter gegen die Usurpatoren unternehmen, da die Behörden sich »neutral« verhielten und es die »Roten Stöcke« noch nicht gab, die Bauernverbände zur Abwehr des Bassmatschentums. Im Gegenteil, Fusail Maksum hob ungehindert Rekruten aus und verzehnfachte seine Schar.

Erst als er nordwärts über die Grenzen von Garm hinaus gegen Fergana vorrücken wollte, stieß er auf bewaffnete Gegnerschaft, und seine Armee wurde vernichtet. Er selbst flüchtete zunächst nach Chas-Tau, einem in den Bergen gelegenen Dschamagat (Kreis); dort hielt er sich einige Tage auf, reichlich bewirtet, und seine Verfolger wurden von den Gebirgsbewohnern irregeführt. Schließlich floh er nach Afghanistan zurück, – er ist jetzt Besitzer eines Gasthofs mit Karawanserei in einer Vorstadt von Kabul.

Nach Abzug der Bassmatschen wurde nun in Garm Ordnung geschaffen, die alten Machthaber abgesetzt, wirkliche Sowjets gewählt, Partei und Jugendverband reorganisiert.

Anfangs April kamen einige Banden Ibrahim Begs in unsere Gegend. Ihr Führer war Mullah Scherif. Sie waren stärker als Fusail Maksums Banden und viel besser bewaffnet, sogar Handgranaten hatten sie. Zu ihrer Basis machten sie Chas-Tau, das sie aus Fusail Maksums Tagen als bassmatschenfreundlich kannten. Sie brachen die Brücken ab, 169 um vor sowjetistischen Gegnern gesichert zu sein. Aber die Situation hatte sich seit zwei Jahren geändert. Die Bauern schlossen sich zusammen, griffen die Banden an und warfen sie über den Pjandsch zurück, wobei die Hälfte der Bassmatschen ertrank, darunter der Bruder Fusail Maksums und wahrscheinlich auch ihr Führer Mullah Scherif.

Die letzte Bande kam vor drei Wochen hier vorbei, schon nach der Verhaftung Ibrahim Begs, nicht mehr um zu rauben, nicht mehr um zu sengen, nicht mehr um zu stören . . . sie waren auf der Flucht. Acht Tage irrten sie in unserem Bezirk umher, niemand gab ihnen Speise oder Trank, ihre Pferde hatten kein Futter. Sie wagten sich gar nicht ins Kischlak (Dorf), nur wenn sie einen Bauer trafen, befahlen sie, man möge ihnen Nahrungsmittel auf den Berg bringen. Aber statt dessen kamen die »Roten Stöcke« und die Bassmatschen verschwanden. Das ist die Geschichte von Garm.

»Wodurch hat sich die Stimmung der Bevölkerung so geändert?«

»Stehe nicht, Genosse, sondern füge dich der Landessitte, setze dich zu uns auf die Erde und höre über die Wirtschaftslage eines Bezirks am Pamir, bevor du dir ihn ansiehst.«

Vor der Revolution war ein Viertel des Bodens in den Händen des Großgrundbesitzes, fast 5000 Wirtschaften gehörten den Mullahs und den Beamten. Der Emir zahlte ihnen kein Gehalt, im Gegenteil, sie entrichteten Abgaben an ihn. Es bestand eine Art von halber Leibeigenschaft: der Bey oder der Mullah bestimmte eine Reihe von Bauern, die sein Feld bestellen oder in seinem Haus dienen mußten.

Jetzt ist der Boden aufgeteilt, 107.000 Hektar angebaut gegen 10.000 in der vorrevolutionären Zeit. Wohl gibt es 170 noch Kulaken, aber keiner von ihnen hat mehr Land als doppelt soviel wie ein Mittelbauer. Der Viehbestand ist um 40 bis 50 Prozent erhöht und gehört den Bauern, während früher die ganzen Herden den Beys gehörten.

Zur Zeit des Emirs waren jährlich etwa 15.000 Menschen genötigt, aus dem Bezirk auszuwandern, sie gingen nach Fergana, nach Buchara oder Taschkent, wo sie bei den Webern oder auf den Baumwollfeldern arbeiteten. Viele kamen nach einigen Jahren wieder und hatten revolutionäre Ideen kennengelernt. Auch Nasratullah Maksum, der Vorsitzende des ZIK. (Präsident der Republik) stammt aus unserem Bezirk.

Industriewaren gab es damals wenig, fast nur das, was diese Rückwanderer mitbrachten. In Fergana wurde von allen Waren, die zu uns nach Süden gingen, ein Zoll eingehoben. Wir besitzen diese Zollbücher; man kann daraus entnehmen, daß die jährliche Einfuhr an Industriewaren pro Kopf der Bevölkerung einen Rubel bis einen Rubel zehn Kopeken ausmachte. Die während des Sowjetregimes in den Konsumgenossenschaften verkauften Industriewaren entsprechen einem Wert von 65 Rubel auf jeden Bewohner. In diesem Jahr soll die Industrieware pro Kopf auf 100 Rubel Wert erhöht werden, – nur die Transportverhältnisse hindern uns, noch mehr Waren ins Land zu bringen. Früher gab es im ganzen Bezirk zwei Basare, wo man einkaufen konnte, einen in Kalai-Chum, einen hier in Garm. Jetzt haben wir 70 Verkaufsläden, anderthalb per Dorf. Das gesamte Privatvermögen der Bauern beträgt heute fünf Millionen Rubel. Seife und Petroleum kannte man früher nicht, Tee tranken nur 3 Prozent der Bevölkerung. Die Mullahs predigten gegen den Gebrauch des Zuckers, weil man zu seiner Raffinade Mehl verwende, das aus Schweineknochen gewonnen wird. 171

Schirting war in den Ländern am Pamir so selten, wie im 16. Jahrhundert in Europa. In Kalai-Chum gab es Hausweberei. Die ist nun vernichtet, sie konnte der Konkurrenz der Textilfabriken nicht standhalten.

Wenn der Bauer Baumwolle anbaute, so tat er es, um mit der Faser seine Kissen zu füllen, seinen Chalat zu füttern und seine Decken zu wattieren.

Durchschnittlich besitzt heute jeder Bauer zwei Chalate, seine Frau gleichfalls, zwei Steppdecken und 100 bis 200 Meter Manufaktur, also viel mehr als man brauchen kann, aber die Leute lieben es, ihr Geld in Waren anzulegen.

Wo vor knapper Vergangenheit der Kienspan brannte, brennt die Petroleumlampe in einer nur knappen Gegenwart, denn in der knappen Zukunft wird hier elektrisches Licht leuchten.

Man trug Sandalen oder ging barfuß. Zehntausend Paar Galoschen und zehntausend Paar Stiefel wurden in diesem Jahr ausgegeben, viel zu wenig, viel zu wenig!

Für einen Hammel bekam man 20 Pfund Tee, für ein Pud Getreide ein Pfund Tee. Pferde besaßen nur die Reichen. Der Omatsch, der hölzerne Pflug, wurde von Ochsen gezogen. Nun hat fast die Hälfte der Bauern je ein Pferd; als die Grenze offen war, haben sie es in Afghanistan erstanden, indem sie dafür Manufaktur gaben.

Nur 20 Prozent der Bevölkerung zahlen Steuern, die Kleinbauern und die Landarbeiter sind von Steuern befreit.

Unter dem Emir wurde prinzipiell von allen Untertanen Steuer eingehoben; sie machte oft 35 Prozent des Vermögens aus. Ein Zehntel der Ernte mußte als »Uschar« abgeliefert werden, ein Vierzigstel vom Viehbestand jedes Bauern ging als »Zaket« jährlich an den Emir, Schafkäse, Holz 172 und Milch waren abgabepflichtig. Den Tadschiken, die in Fergana arbeiteten, nahm man bei ihrer Rückkehr die Hälfte des Lohnes ab. An den Brücken erhob man Maut für die Herden, die Bewässerungskanäle waren Mittel zur Ausbeutung, zur Erpressung, zur Bestechung.

Eine Tanga, das ist zwanzig Kopeken, mußte jeder Verheiratete für jeden Donnerstag des Jahres als Lustbarkeitssteuer bezahlen; denn an diesem Tage hat der Muselman mit einer seiner Frauen zu schlafen; in Afghanistan wird diese religiöse Abgabe, Kurpa Dschumbani genannt, noch heute erhoben.

Wir sind ein Zuschußland der Sowjetunion. Nur 12 Prozent unseres Ausgabenbudgets können von den Steuern gedeckt werden, 88 Prozent gibt die Unionsregierung zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Nationen her.

Während zur Zeit des Emirs jährlich fünfzehntausend Männer abwandern mußten, weil sie zu Hause hungerten, können wir heute trotz aller Mühe und Agitation kaum sechstausend Leute für die Arbeit in den südlichen Baumwollgebieten anwerben. Für Straßenbau finden wir überhaupt keine Arbeitskräfte, früher zwangen Hunger und Arbeitslosigkeit dazu, jetzt zwingt nichts mehr dazu.

»Können viele Leute lesen?«

»Stehe nicht, Genosse, sondern füge dich der Landessitte, setze dich zu uns auf die Erde und höre über die kulturelle Lage eines Bezirks am Pamir, bevor du dir ihn ansiehst.«

Fünf Prozent der Kinder besuchten die Koranschulen, selbstverständlich kein Mädchen. Jetzt werden von den 5800 schulpflichtigen Kindern in 160 Schulen 80 Prozent der Knaben erfaßt, von den Mädchen erst fünfzehn Prozent. Die 173 allgemeine Schulpflicht ist beschlossen. Allerdings stehen viele Wirtschaften einzeln auf den Bergen des Pamir und selbst in größeren Dörfern gibt es noch Eltern, die erklären, ihr Töchterchen lieber zu töten, als es zur Schule zu schicken. In 70 Analphabetenschulen unterrichten wir 3500 Männer und 1000 Frauen. Die Zahl der Anmeldungen ist viel höher, da fast alle Mitglieder der Kollektivwirtschaften und der Gewerkschaften lesen und schreiben lernen wollen. Aber wir haben weder Räume, noch geschulte Lehrkräfte, noch Verkehrsmittel genug, um in jedem Bergdorf einen Kurs für Analphabeten einzurichten.

Wir haben einen Lehrerbildungskurs mit 105 Hörern, davon ein Viertel Frauen, eine Schule für Sowjet- und Parteiarbeiter, eine landwirtschaftliche Schule für Mitglieder der Kollektivwirtschaften, einen Traktorführerkurs und eine Bauarbeiterschule.

Die religiösen Schulen sind nicht verboten und auch der Mullah ist da, bereit, Schüler aufzunehmen, aber es kommen keine. Viele Mullahs haben sich bei der Volkszählung als Analphabeten bezeichnet, sie können nur die Suren des Korans auswendig, nach denen sie ihren Schülern das »Lesen« beibrachten.

Die Rolle der Moschee hat sich gewandelt. Im Sommer sitzen, an die Holzsäulen vor der Moschee gelehnt, die Greise beisammen, und es ist sicher, daß sie die politische Entwicklung nicht eben mit Wohlwollen glossieren. Im Winter dient nur einer von den beiden Räumen der Moschee als Gebetraum, der andere aber als Versammlungslokal. Dieses wird geheizt und heißt Olla-u-Chana, Haus des Feuers. Dort sitzt man, im Rauch unter berußtem Balkenwerk, die Zeitung wird vorgelesen, abwechselnd legt man Holzscheite auf, die 174 Jungkommunisten kommen hin und diskutieren mit den Verfechtern des Islams, die Kolchose halten dort Versammlungen ab, Deputationen und Agronomen, die aus der Stadt kommen, schlafen dort. Dieser Teil der Moschee ist also Klub, Gasthof und Teehaus zugleich.

Der Gebetraum ist so geblieben, wie er immer war. Nein, doch nicht ganz. Als sich die Kulaken gegen die Kollektivisierung auflehnten, zogen die Mitglieder der Kollektivwirtschaften ihren Feinden den Gebetteppich vom privilegierten Platz nahe der Gebetnische weg und legten ihn an die Hinterwand, wo bisher nur die Armen gekniet hatten. Das war für die frommen Reichen ein schwererer Schlag als es die Entziehung der Bürgerrechte, die Aufteilung ihres Bodens sein konnte. Es kam zu turbulenten Szenen. Der gedemütigte Bey rief Allah um Hilfe und Rache an, und da sie ihm nicht wurde, betrat er die Moschee nie wieder und wurde »Atheist«.

Viele Moscheen sind liquidiert, insbesondere in jenen Dörfern, wo es keine Einzelwirtschaften mehr gibt, alle Bewohner im Kolchos organisiert sind. Im Michrob, der heiligen Nische an der heiligen Wand, die nach Mekka (hier: nach Südwest) gerichtet ist, werden Benzin und Öl für den Traktor, Seile, Maschinenteile und Sicheln aufbewahrt, und dort, wo die Gebetteppiche lagen, stapelt man Getreide auf. Das Olla-u-Chana ist zur Bibliothek und Lenin-Ecke geworden.

»Steh auf, Genosse, und sieh dir an, wie es geworden ist in unserem Bezirk am Pamir.« 175

 


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