Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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V.

Frau Professor Frühauf war eine große Vogelliebhaberin. Nichts bereitete ihr mehr behagliche Genugtuung, als wenn sie in ihrem großen »Berliner Zimmer« mit dem hohen Fenster nach dem stillen Hofraum hinaus vor ihren Vogelbauern sitzen konnte. Da war eine große Vergitterung, in welcher sie einen hübsch buntbetupften Gimpel und einen Dompfaffen hielt neben einer zierlichen Blaumeise und einer großen Drossel, die einen sehr guten Schlag hatte. In einem anderen hängenden Käfig züchtete sie ein Kanarienpärchen und daneben in einem Bauer ein paar muntere Finken, deren Schlag ihr ganz besondere Freude machte. Auch eine Schwarzamsel befand sich unter den gefiederten Sängern und noch ein paar andere Vögel, die immer munter auf ihren Springstangen umherhüpften, abwechselnd ihr Liedchen anschlugen, im Wasser herumplätscherten, sich mit den Schnäbeln hackten oder rasch aufflogen. Da fehlte im Gitter des einen Käfigs nicht ein grünes Salatblättchen, im anderen nicht ein Stück Zucker; Mehlwürmer, Ameiseneier, Hanf und andere gute Dinge waren überall reichlich verteilt; man sah, daß die Professorin das Ihrige wartete. Denn sie hatte ein warmes Herz für die lieben Tierchen, behandelte alle mit gleicher Liebe und gab sogar darauf acht, daß die Kanarienvögel sich nicht durch die Finken ihren Schlag verderben ließen. Vielmehr hatte sie 566 eine Art Musikschule gebildet, in der die besseren Schläger immer die geringeren zu sich emporbildeten. Denn Frau Professor konnte wunderschön pfeifen, und bei ihrem feinen musikalischen Gehör konnte sie auch den Vögeln ihren eigenen Schlag vorzwitschern; manchmal sang sie auch leise an die Käfige hinan und freute sich, wenn die Drossel oder die Kanarienvögel mit geneigtem Kopfe lauschten und von ihr lernten.

Draußen im Nebenzimmer saß Meister Frühauf, schrieb und komponierte; manchmal spielte er wohl auch auf dem Flügel durch, was er eben erdacht hatte. Da saß die Professorin behaglich mit einer Handarbeit und lauschte, und mit ihr lauschten die Vögel, bis der eine oder andere eine Art Wetteifer gegenüber dem Professor in sich spürte und schmetternd seinen Schlag herausschnäbelte, mit wiederkehrenden Motiven und Melodien, gerade als hätte er auch schon den Kontrapunkt studiert und versuche sich in effektvollen Fugen zu ergehen. Die Professorin aber fuhr mit dem Finger an den Kanarienkäfig und sagte gemächlich: »Na, Schröter, das hast du ja wieder gut gemacht, mein lieber Herr Schwiegersohn in spe. Bist zwar immer noch ein bißchen eitel auf deinen Tenor, aber hast ja dein gutes Auskommen, Hanf und alles, was willst du mehr? Ella, was ist das? Du wirst ihn doch nicht hacken? Schickt sich das für eine sittsame Braut? Ja, ja, man kann euch auch keinen Augenblick allein lassen, ich wünschte, die Hochzeit wäre 567 schon vorbei, daß man nicht mehr die Pflichten der dame d'honneur hätte.

Ein Weilchen saß die Frau Professor ruhig, dann strich sie mit ihrer Stricknadel an das Käfiggitter, hinter dem der Gimpel und der Dompfaff hausten, und sagte:

»Na, Hähnel, alter Gimpel, da siehst du nun wohl, was du angerichtet hast! Es ist nie gut, mit solchen kleinen Intriguen und Ränken andere Leute in ihrem Frieden zu stören. Da hast du nun mit deinem Schnabel so lange an Dompfaffens Futternäpfchen herumgewuchtet und herumgedreht, bis dir dein eignes Wassernäpfchen über den Kopf gefallen ist und dich klitschnaß gemacht hat. Nein, Meister Hähnel, diesmal haben wir dich wohl dauernd unschädlich gemacht; aus den Mitwirkungen ist, dank Schröters Einfluß im Chore, nichts geworden. Wir bleiben beisammen, und das kommt davon, daß du eben denn doch ein Gimpel bist und bleibst, du Oberdilettant unter den Singvögeln.«

Frau Professor schwieg wieder; sie glaubte in der Tat, daß alle Gefahren, die dem Chore von seiten der Hähnelschen Partei drohten, abgeschlagen seien. Sie war sehr stolz, das eigentlich alles selbst durchgesetzt zu haben, wenngleich Herr Schröter, nachdem er am anderen Tage um Ellas Hand angehalten hatte, auch sogleich eine große Partei gegen Hähnelsche Bestrebungen organisiert hatte, welche dem Organisten die Mitwirkung versagte. 568 Der Umstand, daß Hähnel als Dirigent »umgeworfen« hatte, genügte vorderhand auch, um kein sonderliches Zutrauen zu irgend einer Veranstaltung zu erwecken, bei der Hähnel etwa dirigieren würde. So schien die Gefahr einer »Sezession«, des Austretens oder fremden Hospitierens der Mitglieder, besiegt, und die Frau Professor konnte ihren Gimpel mit einem gewissen Triumph bespötteln.

Jeder dieser netten Vögel hatte nämlich einen Spitznamen. Der Dompfaff war der »Herr Pastor«, der als neuer, bewährter Freund des Professors besonders fleißig gepflegt wurde, aber infolge dieser Sympathie etwas zu viel Futter erhielt, sodaß er seit einiger Zeit etwas dick und aufgeplustert dasaß. Die Drossel war die »Frau Professor«, und damit meinte die Meisterin sich selbst, weil sie viele Eigenschaften dieser Sängerin mit der schönen Stimme auch an sich zu bemerken glaubte. Leider wurde aber auch dieser Vogel infolge zu üppiger Nahrung etwas zu dick und litt ein wenig an Verdauungsbeschwerden, auch darin seiner menschlichen Doppelgängerin ähnlich. Ein Goldammerweibchen, das in der Mauserung war und wie eine Spätzin aussah, fiel durch sein ärmliches, mageres, verhungertes Aussehen auf; es hatte nämlich schon seit ein paar Wochen den Spitznamen Klärchen Hähnel. Frau Professor war keineswegs so grausam, daß sie irgend einen ihrer Vögel hätte hungern sehen können; aber ganz ohne daß sie es sich selbst 569 zum Bewußtsein brachte, hatte sie dem Ammerweibchen, seit es den Spitznamen bekommen, unwillkürlich die Rationen sehr knapp bemessen, wie es auch völlig in Gedanken und absichtslos sich herausgebildet hatte, daß die »Frau Professor« zu gut gefüttert wurde. Frau Hähnel, das Ammerweibchen, mußte übrigens sehr viele spitze Redensarten in solchen Stunden hören, wenn die Professorin ihrem »Kirchenchor« – denn so nannte sie ihre Vogelzucht – kleine lebhafte Vorträge hielt und Sorgen der Wirklichkeit mit der Beobachtung und Erziehung ihrer Pfleglinge vermischte.

Nun geschah es aber, daß an diesem Tage der Professor ziemlich verstimmt ins Zimmer trat, gerade als seine Frau in solcher lebhaften Unterhaltung mit ihren kleinen Federhelden begriffen war. Es war ihm gar nicht angenehm, daß dieses Spiel so eifrig betrieben wurde; denn die Nachricht davon hatte sich, teils durch eine Neckerei Ellas mit ihrem Bräutigam, teils durch kleine ausforschende Fragen der Frau Hähnel im Chore verbreitet. Es wurde dort erzählt, die Frau Professor hielte sich eine ganze Menagerie von Spottvögeln, an denen sie ihren Hochmut gegenüber den Chormitgliedern ausließe. Fast alle Chormitglieder hätten einen Spitznamen, und es waren schon von verschiedenen Seiten Behauptungen aufgetaucht, daß auch Starmätze, Spatzen und Papageien darunter seien. Und wenn man die Frau Professor besuche, so nenne sie einen Starmatz stets die »Frau Rittmeister« und 570 mache sich so mit dem Besuche über die anderen lustig. Obwohl der Professor wußte, daß das Übertreibung war, sagte er sich, daß es doch dem Chore schaden müsse, seinem Ansehen nicht nütze. Aber er wagte nicht, darüber zu reden. Jetzt aber sagte er:

»Ich muß dir eine sehr fatale Mitteilung machen, Margarete. Infolge der Erklärung des Chors, die ja wohl auf deine Veranlassung zustande kam, daß man in Rebers Konzert nicht mitwirken wolle, hat dieser erklärt, er werde demgemäß nur noch im pflichtgemäßen Gottesdienst die Orgel spielen, aber niemals für ein Kirchenkonzert für uns zu haben sein. Auf diese Weise können wir aber die Orgel überhaupt nicht mehr haben, außer im Gottesdienst, weil er die Verfügung darüber besitzt. Ich kann nun von meinen Kompositionen überhaupt nichts mehr mit dem Chore aufführen, soweit Orgel dabei ist. Meine Meinung, daß man in Rebers Konzert mitwirken müsse, war also sehr begründet.«

Frau Margarete Frühauf war leise zusammengefahren. Sie biß sich an der Lippe herum. Das hatte sie allerdings nicht vorausgesehen. Sie mußte unwillkürlich die Überlegenheit ihres Mannes anerkennen gerade da, wo sie in einer wohlmeinenden Geringschätzung gegen seine Ansicht gewirkt hatte. Dann aber sagte sie, indem sie ihren Finger in den Vogelbauer steckte, sodaß der eine Kanarienvogel mit aufgesperrtem Schnabel darauf loshackte: 571

»Der Piepmatz! – Sollten die Hähnelschen bei dieser Gelegenheit unseren Chor sprengen und zu sich herüberziehen? Nein, ich mußte in deinem Interesse so handeln.«

Frühauf schwieg. Er sagte sich: das muß sie erst verdauen. Dann aber begann er:

»Ich denke oft darüber nach, liebe Margarete, wie es doch in dieser Welt so sonderbar ist, daß man mit all seinem höheren Kunststreben, mit dem Drang, immer das Edelste zu schaffen und das Gemüt schaffender Mitmenschen von allem Kleinlichen zum Großen emporzuführen, daß man hierin nur immer mit dem Allerkleinlichsten zu kämpfen hat. So läuft die Frau Rittmeister nach ihrem Austritt jetzt gemeinsam mit der Frau Hähnel bei Herren und Damen des Chors herum und wirbt sie für ein Kirchenkonzert, das ihr Mann nun erst recht geben will mit unseren Mitgliedern und Leuten, die er anderweit anwirbt –«

»Was? Mein Gimpelchen? Der Dilettant?! Der Umwerfer mit dem Taktierstab in der Havel?«

»Ja,« sagte Frühauf achselzuckend, »er muß doch wohl ein sehr bedeutender Dirigent sein, denn die Frau Rittmeister und Frau Hähnel erzählen überall, mein Chor sei einfach noch nicht reif gewesen für das Hähnelsche Taktieren. Und bei einigen wirkt das bereits. Sie werden neugierig und wollen die höhere Kunst Hähnels kennen lernen. Hierin ist nun für die Rittmeisterin das Ausschlaggebende, daß sie den Platz der Frau Graf 572 seinerzeit nicht erhielt und daß in deinem Chor hier ein Starmatz ihren Namen führt!«

Frau Professor Frühauf war eine sehr gebildete, sehr kluge Frau. Sofern sie aber in der letzten Wendung etwas empfand, was ihr eigentlich die Schuld an den neuen Umständen zuschob, fühlte sie sich selbst in die Kleinlichkeiten mit inbegriffen, die in dieser Welt dem hohen Kunststreben und dem Leben im Einfach-Großen entgegenwirken, und sie sagte daher sehr gelassen: »Das wahrhaft Große empfindet in dieser Welt überhaupt gar nicht diese kleinen Ursachen und Wirkungen, sondern geht nachtwandlerisch durch all diese kleinen Schattierungen in den Seelen der Mitmenschen durch.«

Es war ihr aber etwas unheimlich dabei zu Mute, denn die Tatsachen waren doch bedenklich. Wenn der Chor allmählich auseinanderging, weil die Orgel fehlte?! Wenn er in einer Anzahl absprang zur Hähnelpartei, weil die Summe all dieser kleinen Empfindlichkeiten zuletzt auch einen Stein der Anhänglichkeit allmählich wie die Wassertropfen höhlen mußten? Sie fühlte mit wahrer Verstimmung, wie dieser Dilettantismus des Herrn Ingenieurs einfach nicht tot zu kriegen war, sondern gleich einer Katze, die man rücklings vom Dache wirft, immer wieder auf die Beine kam. Und wie sie die Welt kannte, mußte er sogar dabei noch zu Erfolg kommen.

»Von Mister Schreiner, dem Amerikaner, ist 573 auch eine Austrittserklärung an mich gekommen,« nahm der Professor wieder das Wort. »Er erklärt merkwürdigerweise, er sei ein Gegner des Tremolierens in der Musik, und da neuerdings diese Stimmbehandlung im Chore geduldet werde, so wolle er es vorziehen, einem anderen eventuell zu gründenden Chore, dem auch die Frau Rittmeister beitrete, sich anzuschließen. Dies ist nun freilich ein Erfolg der Hähnelpartei.«

»Still doch, Schröter!« rief die Frau Professor in der unangenehmsten Laune, denn der so benannte Kanarienvogel hatte so laut zu schmettern angefangen, daß man kaum ein Wort verstehen konnte. Denn jetzt empfand auch Frau Margarete die ganze Kleinlichkeit und Liliputanerhaftigkeit ihrer Mitmenschenseelen. Das war ja klar, warum der Mister Schreiner austrat. Sie rümpfte die Nase, indem sie aber mitempfand, daß daran nun doch wieder auch der Herr Schröter schuld war, fühlte sie eine augenblickliche ungnädige Regung gegen diesen, sodaß ihr infolgedessen wieder der Kanarienvogel unleidlich war. Der Professor aber zuckte die Achseln, als er den Namen seines Schwiegersohnes in dieser Weise von neuem profaniert sah. Es war doch ein rechtes Kreuz, daß seine Kompositionslust und Kunststimmung, seine Neigung zum Tiefen und Erhabenen selbst in den harmlosen Liebhabereien seiner Lebensgefährtin durchkreuzt wurde. Er schwieg.

Auch Frau Margarete schwieg. Sie wollte nicht 574 so kleinlich sein, ihren Mann auch noch in die wahren Gründe des Amerikaners einzuweihen. Sie wollte überlegen, wie man mit einem Schlage all diese drohenden Intriguen überwinden könne. Nach einer Weile erklärte sie ebenso gelassen wie vornehm:

»Man muß etwas tun, woran der ganze Chor und die Gegenpartei sieht, daß wir die Orgel überhaupt nicht nötig haben außer dem Gottesdienst.«

»Du meinst Orchesterkonzerte? Das ist zu teuer –«

»Nicht doch,« entgegnete Frau Margarete, indem sie mit dem Gefühle einer leisen Überlegenheit mit den Achseln zuckte. »Das Gegenteil. Ich meine Konzerte a capella. Gesangs-Konzerte ohne irgend ein Instrument, nur die menschliche Stimme. Wiederbelebung alter Musik Palestrinas. Du hast selber so viel schönes a capella geschrieben, daß man nie in Verlegenheit um gute Tonstücke kommen wird. Und wie vieles von anderen gibt es, von Mendelssohn, Beethoven! Die menschliche Stimme bleibt doch das schönste und klangreichste von allen Instrumenten. Du beweisest damit, daß wir Herrn Professor Reber nicht brauchen, sondern ihn samt seiner Orgel entbehren können; der Chor aber wird von einem neuen Ehrgeiz beseelt, der ihn von selbst zusammenhält. Hähnel aber, der ja gerade a capella umwarf, kann hier nicht konkurrieren, denn wenn er vielleicht mit Orgel, wo das Instrument ihn leitet, feste, stehende Sachen 575 dirigieren könnte, so würde er doch jedenfalls ganz unfähig sein, Aufführungen herauszuarbeiten, wo nur die Stimmen als solche wirken. Natürlich werde ich sorgen, daß man im Chor sich für diese neue und feinste Kunst begeistert! Alle diejenigen, die bessere Stimmen haben, werden besonders dafür sein, weil man sie ja auch selbständiger hört. Und wenn dann selbst einige bei Hähnel hospitieren sollten, so werden sie uns doch nicht untreu werden, weil sie bei uns einfach Kaviar haben gegen Wurst bei der Sezession.«

»Da hast du wahrhaftig recht!« sagte nach einer überlegsamen Pause der Meister. »Das ist eine Idee, die mich künstlerisch geradezu aufregt. Die reine Schönheit der Menschenstimmen und den musikalischen Kunstlaut der instrumentfreien Stimmführung auszubilden, das ist ja zuletzt das höchste Ideal überhaupt, und wenn ich den Chor dahin führen könnte, so wäre allerdings ein Kunstziel vor uns, das eigentlich jeden begeistern müßte. O – ich freue mich herzlich auf die schönen Sachen, die man da bieten kann. Und mein Freund, der Pfarrer, wird sich auch freuen, denn er hat einen feinen Geschmack.«

Frau Margarete lächelte zu diesen Worten ganz leise und überlegen, ganz leise und mit der allerzartesten Geringschätzung. Kein Wort der Anerkennung hatte der Mann für die Klugheit ihres Gedankens gegenüber den Intriguen der Gegner! Daß man Reber seine Entbehrlichkeit bewies, daß 576 die Hähnelpartei kalt gestellt würde – kein Wort hatte er für das Erfinderische dieser Gedanken! Statt dessen vergaß er im Feuer seiner Kunstbegeisterung gänzlich, daß er überhaupt Gegner und Wühler gegen sich hatte, und erfaßte nur die künstlerische Seite der Sache. Für diese hatte sie selbst ja auch Sinn, sie regte es ja an, aber dieses vollständige Vergessen der begleitenden Umstände und der Geistesgegenwart seiner Frau zeigte doch wohl, daß auch der gescheiteste Mann immer etwas hinter der großen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis einer erfahrenen Frau – was man nun doch einmal war – zurückblieb.

Und in der Tat vergaß Frühauf vollständig die begleitenden Nebenumstände. Mit der ihm eignen künstlerischen Energie ging er sofort an die Verwirklichung der Sache. Ihm schien der Zufall, daß er infolge der kleinlichen Stänkereien im Chor die Orgel entbehren mußte, nur eine Art Glücksereignis, welches die schöne Nötigung auferlegte, nunmehr nur die Menschenstimme rein walten zu lassen als wahren Ausdruck aller geistigen Schönheit und alles geistigen Gehalts der Musik im künstlerisch verklärten und geistig tönend durchzitterten Menschenleibe. Er entwarf ein Programm aus Palestrina, aus alten Meistern wie Bach und Händel, das sofort für ein bald zu gebendes Konzert einzustudieren war. Auch eine eigne Komposition fehlte nicht. Er wußte, daß er seinen Chor schon so weit hatte, daß er es wagen konnte, bei fleißigen 577 Proben ein reingestimmtes Orchester der bloßen Menschenstimmen zu schaffen, das auch weitere Kreise von gewählten Musikkennern und Kunstfreunden in die Kirche locken müsse zur Freude seines Freundes, des Pastors, dem er, trotz seiner freieren Anschauungen, nun erst recht volle Kirchen zu schaffen hoffte. Es wurden Briefe geschrieben, Inserate, Voranzeigen aufgegeben, es wurden die Proben angesetzt, an der Mitbegeisterung des Chores war nicht zu zweifeln. Ja, der alte Meister fühlte sich schon von der bloßen Idee wie verjüngt, seine Kräfte gehoben, seinen Lebensmut befeuert. Und er freute sich, der Kirche des Hauptpredigers, den er still als seinen Freund immer mehr schätzte, durch die a-capella-Musik gewissermaßen ein besonderes Relief religiös-künstlerischer Weihe zu verleihen.

Unterdessen wiegte sich Frau Margarete in der angenehmen Gewißheit, daß sie nun wohl endgültig alle Ranke der Hähnelschen Dilettantenpartei besiegen würde und daß die Gefahr des Austritts der Mitglieder gänzlich abgeschlagen sei. Und sie würde auch wohl mit dieser Siegeshoffnung recht behalten haben, wenn sie nicht selbst durch besonders waltende Schicksalsmächte dazu ausersehen gewesen wäre, eine Katastrophe herbeizuführen, die sie selbst am wenigsten beabsichtigt hatte. –

Es war ein schöner, sonniger Sonntagnachmittag, als Meister Frühauf mit seiner Lebensgefährtin sich aufmachte, zur Kirche zu gehen, wo das erste 578 Konzert a capella mit dem festgesetzten Programm stattfinden sollte. Beide Gatten waren sehr fröhlich und zuversichtlich gestimmt, denn der Kartenverkauf war glänzend gewesen nach den Berichten des Küsters und der Herren vom Komitee, in dem Herr Schröter in bereits bekannt gemachter Bräutigamswürde umsichtig waltete. Die Frau Professor wußte, daß sie in einer dichtgefüllten Kirche singen würde, sie fühlte, daß sie gut bei Stimme war. Ihr Gedanke des Gesangs ohne Instrumente hatte also im Publikum eingeschlagen; ihr Selbstgefühl war erhöht, ihr Anteil an dem bevorstehenden Erfolg konnte nicht in Abrede gestellt werden. So kam es, daß die warmen, lichten Nachmittagssonnenstrahlen, die zwischen den Laubkronen der alten Straßenallee, die zur Kirche führt, niederleuchteten, auch im Innern der beiden älteren Leute einen Nachstrahl des Sonnenscheins vergangener Tage erweckten, vergangener Wehmut, vergeblichen Ringens und stillen Glücks, daß nun im Alter noch Anerkennung und gutes Wirken beschieden schien. In dieser Stimmung gingen sie eine Weile stillzufrieden nebeneinander hin mit sonntäglicher Feierlichkeit. Denn die Läden der Häuser hinter der Allee waren geschlossen, der Wochentagslärm des Verkehrs mit dem tollen Durcheinander des Wagengedränges war verstummt. Nur geputzte, friedlicher gestimmte Menschen gingen auf den Straßen und Plätzen gemächlich einher; viele schienen auch die Richtung zur Kirche einzuschlagen, 579 und alle waren in einen flimmernden Goldschimmer des nachmittäglichen Lichtes getaucht, in das man mit bunten Sonntagsfarben zart umdunstet einzugehen schien. Es war freundliche Menschenliebe, die Ahnung stiller Gottesgefühle in den Seelen.

Als nun die Frau Meisterin in solcher Stimmung vor sich auf den Erdboden des Mittelbaumgangs in der breiten, reinlichen Straßenflucht sah, während eben von der Kirche her das Vesperläuten erklang und traumhaft durch die Wipfelkronen wogte, erblickte sie von ungefähr unter einer alten Linde etwas, das sich ängstlich auf dem Boden zu regen schien. Im Näherkommen erblickte sie einen kleinen, nestflüggen Vogel, der ängstlich am Boden saß, heftig zitternd sein Bäuchlein auf und nieder bewegte, aber sich nicht vom Fleck zu bewegen wußte, als sie an ihn herankam. Da bückte sie sich mitleidig und versuchte das Vöglein mit der Hand zu fangen. Der Professor stand dabei und sah teilnehmend dem Vorfall zu.

»Sieh nur, es ist ein junger Finke, der ist wohl aus dem Nest gefallen. Aber eigentlich ist er schon flügge. Vielleicht ist irgendwo der Flügel beschädigt.«

Die Professorin fühlte, wie das warme Körperchen in ihrer Hand zitterte und das kleine Vogelherzchen heftig pupperte. Sie suchte den Vogel zu beruhigen, indem sie mit ihrem Munde dem Schnabel nahekam und zärtliche Laute von sich gab.

»Das arme Tierchen!« sagte sie. »Und würde 580 gewiß ein recht guter Sänger werden, wenn es nicht zu grunde gehen müßte. Weißt du, lieber Professor, ich kann das nicht mit ansehen; aber ich werde das Tierchen pflegen und in meine Zucht nehmen. Wie bringe ich es nur schnell noch nach Hause?«

Der Professor sah auf die Turmuhr am Ende des Baumgangs und sagte: »Es ist die höchste Zeit, Margarete. Wir müssen zum Konzert. Die Zeit ist eigentlich schon um. Wir können uns mit dem Vogel deshalb nicht weiter aufhalten.«

»Nein, auf keinen Fall werde ich das Tierchen hier liegen lassen. Wenn es die Katzen oder rohe Menschen töteten! Weißt du was, ich werde es einfach mitnehmen. Es wird schon ganz ruhig in meiner Hand. Und wenn ich's zu Hause zu meinen alten Finken dann hineinsetze, so ziehe ich es noch groß, und es wird eine kleine männliche Primadonna in meinem Chore. Greif mir doch einmal in meine Tasche und gib mir mein Taschentuch heraus!«

Der Professor griff in anbetracht der drängenden Zeit, und weil er auch ein pietätvolles Herz hatte, in die Tasche der Gattin und gab ihr das Taschentüchlein heraus. Sie hielt das Tierchen behutsam in der linken Handhöhle, sprach ihm nochmals tröstend zu und legte dann das Taschentuch über ihre Hand mit dem Vogel, damit er sich nicht ängstigte und auch die Leute nichts weiter sähen. 581

Sie gingen nun eiliger auf die Kirche zu, nur mit ihren Gedanken an das Konzert beschäftigt. Erst vor der Freitreppe zu dem Hauptkirchenportal, wo die letzten Besuchsnachzügler sich hinauf in die Kirche drängten, blieb der Professor stehen und sagte:

»Aber, sage mal, Margarete – den Vogel, den Vogel kannst du doch nicht mit ins Konzert nehmen!«

Sie hielt still und verschnaufte etwas.

»Warum nicht? Es sieht ja doch kein Mensch etwas, und aus der Hand kann ich ihn nicht geben. Er wird schon hübsch still sein. Das Herzchen pocht schon ganz regelmäßig. Die Handwärme tut ihm augenscheinlich wohl. Da darf ich ihn nicht mehr aussetzen. Gehe nur voran, ich werd's schon machen.«

Damit schob sie den Professor leise vorwärts. Er sah keine Möglichkeit, der Gattin zu widersprechen, wenn ihn auch ein dumpfes, unbehagliches Gefühl der Sorge drückte, daß irgend etwas Unangenehmes sich ereignen könnte. Er dachte indessen, die Frau Professor würde den Vogel irgendwo unterbringen, und eilte die Stufen nach dem Chore hinan, während sie etwas langsamer nachfolgte.

Ehe nun der Professor sich nach dem Dirigentenplatz an der Balustrade der Chorempore verfügte, war eben etwas eingetreten, was die Erinnerung vieler Damen und Herren des Chores auf die eigentümliche Vogelzucht der Frau Professor zurückgelenkt 582 hatte. Frau Hähnel hatte unter den bereits versammelten Damen zunächst nämlich das Gespräch auf die Spitznamen gebracht, welche die Professorin einzelnen Vögeln anhängen sollte. Die Gattin des Ingenieurs hatte eingesehen, daß seit den Proben a capella jedes offene Wühlen gegen die Einheit des Chores nur ihr selbst und ihrem Manne schaden müsse. Sie hatte vielmehr gute Miene zu dem Spiele gemacht und sich selbst hierbei zur Verfügung gestellt, um lieber durch kleine persönliche Verstimmungen zu wirken, bis etwa andere Umstände den günstigen Augenblick für eine Sezession auf ihres Mannes Seite mit sich bringen würden. An diesem Nachmittage hatte sie es nun aber doch nicht lassen können, sich an die dicke Frau Graf heranzumachen, schon weil sie, wegen der Äußerungen über das Drama ihres Mannes, in einer etwas gespannten Stimmung gegen die Dame lebte. Der Dichter hatte auch mit diesem Drama kein Glück gehabt; es war bei mehreren Theatern herumgewandert, aber bedauernd abgelehnt worden. Die komische Oper war wegen technischer Schwierigkeiten, wie Hähnel glaubte, abgesetzt vom Spielplan, auf dem sie nie gestanden hatte. Das afrikanische Projekt hatte sich nicht verwirklicht, da es in der Hauptsache auch nur in seiner Einbildung bestanden hatte. Dagegen schien sich die Ofensache zu entwickeln, denn Hähnel hatte den Plan fallen lassen, damit einen Druck auf den Kohlengroßhandel auszuüben, und sich auf die einfache 583 Ausnützung einer Verbesserung beschränkt, die im Begriff war, ein Patent zu erhalten. Es blieb also nur die Musikliebhaberei und die neue Chorbegründung, auf die alle Kraft gelegt werden sollte.

Es ist unbedingt notwendig, diese Umstände alle zu erwähnen, denn sie wirkten zusammen, in Frau Hähnels Seele jene etwas gespannte Stimmung gerade gegen die dicke Frau Graf zu erzeugen. Wenn durch jene Umstände die geistige Größe Hähnels gelitten hatte und noch unerkannt blieb, so war es eben das Urteil der Frau Graf gewesen über das Drama, welches die Empfindung dieses Mangels an Größe und des Unverständnisses der Menschen wechselnd in Frau Hähnels Seele zuerst aufgeregt hatte. Diese ihre Seele, die auch wie ein mauseriger Vogel sozusagen aus ihrem Neste gefallen war, flatterte unsicher in neuen Zweifeln. Das Ergebnis war eine dumpfe Vergeltungssucht gegen Frau Graf.

»Na, wissen Sie es denn schon, Frau Graf, daß Sie auch in der Menagerie der Frau Professor eine wichtige Stelle einnehmen?« fragte Frau Hähnel ziemlich laut von oben durch mehrere Zwischenreihen hinunter, sodaß es sehr viele hörten.

»Ach, wie so!« sagte Frau Graf gelassen. »Wer glaubt so etwas?«

»Wenn ich Ihnen sage! Sie hat eine alte Wachtel, und seit diese am Pieps leidet, nennt sie sie nur immer die dicke Graf.« 584

Mehrere lachten leise, und viel mehr dieser Umstand als der Glaube, die Professorin könne eine solche Unfeinheit gegen sie begehen, trieb sichtbar den etwas dicken Hals der Frau Graf schwellend auf und das Blut in ihren Kopf. Sie hatte eine sehr gepfefferte Antwort auf der Zunge, besann sich aber, daß unten und auf der Empore des Kirchenraumes alles schon dicht besetzt war mit Zuhörern, und daß sie es nicht sein wollte, die den Frieden im Hause störte. Sie schluckte daher ihre Bemerkung hinunter und zuckte mit den Achseln.

In diesem Augenblicke trat die Frau Professor von einem Seiteneingang her, wo es weniger auffällig war, auf den Chor, vorn bei der Brüstung. Die Brüstung deckte sie genügend gegen den Kirchenraum, so daß unten niemand sehen konnte, daß sie ihre linke Hand, über der ein weißes Tuch lag, möglichst tief hielt. Da sie mehrere Soli zu singen hatte, so mußte sie sowieso vorn sitzen, was aber die Folge hatte, daß der ganze pyramidenförmig aufgebaute Chor jede ihrer Bewegungen sehen konnte. Als sie daher so vorsichtig hereinkam, wendeten sich aller Blicke unwillkürlich auf sie, und man wunderte sich über das weiße Tuch auf ihrer Hand. Einige glaubten, sie habe sich in den Finger geschnitten oder sonst einen Schaden an der Hand gelitten. Andere wunderten sich nur schlechthin, ohne sich irgend etwas dabei zu denken. Es geschah aber, daß die Professorin ihren Platz 585 unmittelbar neben Frau Graf nahm, sodaß die natürlicherweise sagte:

»Na, was haben Sie denn gemacht, Frau Professor, daß Sie die Hand im Taschentuch halten?«

»Pst!« sagte die Meisterin ganz leise. »Sagen Sie nur nichts, denn es braucht es ja niemand zu wissen. Es ist auch besser, ich nehme das Tuch weg, denn sonst fällt es zu sehr auf.«

Damit zog sie leise das Tuch weg und steckte es ein. Sie lüftete ihre Handhöhle ein wenig, sodaß das Köpfchen und der Schnabel des Vogels etwas herauslauschten. Sie hatte nicht bemerkt, daß man auch weiter oben mit gespannter Neugier zugesehen hatte.

Kaum hatte Frau Graf den Vogel erkannt, als sie mit einer sehr erschrockenen und gleichzeitig sehr verbissenen Miene halblaut zurückrief:

»Also doch! Ein Vogel!«

»Ein Vogel!« wiederholte oben Frau Hähnel. Und mit einem höchst schadenfrohen Tone: »Ein Vogel! Nein, so was!«

Man muß sich in die Seele seiner Mitmenschen und in das Vorangegangene versetzen, um zu begreifen, daß sich nicht nur der Frau Graf, sondern auch des ganzen Chores der allerschwärzeste Verdacht bemächtigte. Es war so viel von der Spottvogelzucht der Frau Professor geredet worden, daß jedermann, selbst die Treuesten der Treuen, im stillen folgerten, dieser Vogel habe irgend eine besondere Bedeutung. Und diese Bedeutung konnte 586 nur eine spottvolle sein. Die Frau Professor hatte augenscheinlich eine besondere Absicht, denn wie kam sie dazu, einen Vogel in der hohlen Hand mit ins Konzert zu bringen? Noch dazu als Solosängerin, an deren Gesang der ganze Erfolg des Konzertes hing! War das ein Affront gegen den ganzen Chor? Sollte der Vogel etwas gegen die Frau Graf bedeuten? Ungeheure Spannung bemächtigte sich der Gemüter, selbst die Herren, Schröter voran, fühlten sich verwirrt und unruhig. Er verzieh es seiner künftigen Schwiegermutter gern, daß sie ihren Kanarienvogel Schröter nannte, aber was sie nun hier im Schilde führte, das schien denn doch das Maß des Erlaubten zu übersteigen.

Und nun trat der Professor auf und schritt geraden Wegs zum Dirigentenpult, um das Zeichen zum Anfang des Konzerts zu geben. Er war feierlich bang gestimmt; es war ja das erste Konzert ohne Kapelle, ohne Begleitung, alles kam auf die Schönheit des ersten Einsatzes an, auf die volle Sammlung der Mitglieder. Er gab das Klopfzeichen. Lautlose Stille trat unten im Kirchenraum, auf den Emporen ein.

Und nun wendete der Professor das Antlitz seiner Gattin zu, die ja den ersten Einsatz zu leiten hatte. Da sah er, daß diese die linke Hand noch immer gehöhlt hielt und ebenso sorgsam auf das kleine Schnäbelchen blickte, aus dem ein Zünglein ängstlich herauszitterte. Er hatte schon den Arm zum ersten 587 Anschlag erhoben, da kam ihm zum Bewußtsein, was die Frau, augenscheinlich in einem Anfall von Schwäche, in ihrem Mitleid tat. Die lautlose Stille wurde noch tiefer. Der Professor hielt den Taktierarm eine lange Weile regungslos erhoben. Mehreren Chormitgliedern schwamm es vor den Augen vor Aufregung. Die Frau Professor versuchte die Hand mit dem Vogel ganz langsam unter einer Rockfalte zu decken. Dann aber blickte sie sich gemessen um und erwartete die Armbewegung des Meisters.

Energisch zuckte endlich der Taktierstab. Da begann zart und leise das vollkommenste Piano des ersten Einsatzes, das man jemals in einer Kirche gehört hatte. Die leise Beklemmung der Frau Professor selbst, die heimliche, jähe Angst und Spannung, die der ganze Chor über den Vogel und seine Bedeutung, sein Schicksal empfand, sie setzte sich um in eine geistige Spannung, welche auch das Piano durchdrang und wie mit vorbereitender Ahnung das allmähliche Anschwellen des Tones bewirkte. Herrn Schröter stand der Angstschweiß auf der Stirn, die Professorin selbst, welche eine Ahnung überlief, daß man ihr das Mitbringen des Vögelchens verdenken möchte, brachte ihre Töne nur befangen heraus, und der Professor selbst mußte all seine Energie zusammennehmen, um nicht an den Vogel zu denken und die Störungen, die er verursachen würde, wenn er etwa entschlüpfte oder sonst ein Unglück geschah. Aber diese Sorge 588 dämpfte in wunderbarer Weise auch seine Armbewegungen.

Unten saß der Pastor Körner wieder beim Altar und wiegte zustimmend und wohlwollend das Haupt. Einen so reinen Einsatz, noch dazu ohne jedes Instrument, hatte er noch nie gehört. Es war geradezu geisterhaft, nur die menschliche Stimme zu hören, wo alles ein Strom tiefer, zarter Seelenregung schien, welche von Takt zu Takt anschwoll und wuchs, und wo man fühlte, daß jeder Sänger oben mit tiefster Seele dabei war. Dieses Geisterhafte wirkte wie ein Schauer, ein Schauer von Stimmen aus dem Jenseits auf ihn ein. Denn es hielt an, es steigerte sich, es wuchs. Als der erste Satz des Palestrinawerkes vorüber war, atmete er erleichtert auf im Sinne seines Freundes, des Professors. Der Versuch mit Musik ohne Orgel, nur a capella, schien gelungen. Die Kirche selbst mußte dadurch gewinnen. Und bedeutungsvoll, mit hochgezogenen Brauen, nickte er ein paar Amtsgenossen zu, die in seiner Nähe saßen und gleichfalls sehr zufriedengestellt und erbaut sich wieder neigten. Alle Zuhörer schienen aufs tiefste gefesselt von dem schönen Einklang der Stimmen.

Nur ganz kurz war die Pause. Da begann auf einmal eine einzelne Frauenstimme von der Höhe zu erklingen, so wunderbar beseelt, so eigentümlich duftig, daß aller Augen sich hinaufwendeten. Es war die Frau Professor, die, ganz allein, ohne Instrument und Begleitung, nur in der Rechten die 589 Noten, während Frühauf ganz wenig taktierte, eine Marienarie von den Leiden der Mutter Gottes sang. Angstvoll fühlte sie den Herzschlag des Vögelchens in ihrer Hand. Angstvoll hielt sie die Hand darum, damit er ihr nicht entschlüpfe, sie ihm aber auch kein Weh antat! Im Singen ging ihr durch den Kopf, daß sie wohl besser getan hätte, den Vogel beim Küster zu lassen, aber daran hatte sie nun zu spät gedacht. Sie hatte sich die Sache einfacher vorgestellt, als sie war; sie hatte ja nur ihre Handwärme dem Tierchen dauernd erhalten wollen, und auf der Treppe zum Chore konnte sie es nicht absetzen. Jetzt aber mischte sich eine Art von Todesangst, daß etwas passieren könnte, was mit der Reinlichkeit des Vögelchens zusammenhing, mit dem tiefen Gefühle mütterlichen Mitleids. Sie sang und wußte kaum mehr, was sie sang. Aber diese Sorge, diese Angst stieg ihr in ihre Stimme hinauf, und jeder Herzschlag des kleinen, warmen Vogels, den sie in ihrer Handfläche spürte, machte ihre Seele mütterlich-gütig erzittern, sodaß sie allmählich wieder an die Muttersorgen der Erlösermutter dachte und im Gefühle des innigen Mitleids mit aller Kreatur auch das ewige Mitleid der Muttergottesschmerzen mit inbegriff. Und das alles hauchte sie anfangs unbewußt, zuletzt mit steigender künstlerischer Selbstbeherrschung in ihre Gesangstöne hinein, und sie fühlte, daß die Wirkung von unendlicher Schönheit sein müßte, denn rings auf den Emporen sah sie die Zuhörer mit dem Ausdruck 590 tiefer Ergriffenheit sitzen, man hörte unten ein leises Schluchzen im Schiffe, man hörte jenes gerührte Räuspern, welches der eignen Ergriffenheit des Hörers vorbeugen möchte und doch Zeugnis ablegt von dem, was das Herz bewegt. Wohl war der Professorin der Angstschweiß ausgebrochen, und sie endete einer Ohnmacht nahe, aber als der letzte Ton verklungen war, ging ein geheimnisvolles Rauschen der tiefsten Kunstbefriedigung aller Hörer durch den weiten Kirchenraum.

Die Strahlen der Spätnachmittagssonne fielen durch die bunten Glasfenster des Doms ins Innere. Die Rosette leuchtete in tiefgoldigen, purpurnen und dunkelblauen Farben. Wie jenseitige Traumbilder schimmerten die Fensterbilder vom Kindlein in der Krippe mit den goldigen Ringen der Heiligenscheine, das Bild von der Himmelfahrt, wo sich die Glorie des Himmels öffnet. Ein Abglanz von diesen durchscheinenden, purpurnen Glasmalereien fiel auch in den Kirchenraum auf die Zuhörerschaft und stahl sich in die Winkel unter die Emporen, überall trauliches Geisterlicht verbreitend, in das die gerührten Menschenseelen sahen, deren Herzen selbst wie durchsichtige Glasbilder innerlich aufleuchteten in dem Schönen, das sie eben erlauscht hatten.

Nur in der Seele der Frau Hähnel und in den Seelen der Chorsänger spielten andre Farben der Erwartung und der Beklemmung. Denn je schöner die Professorin gesungen hatte, desto weniger verstand man bei der Voreingenommenheit der 591 Gemüter, was sie nun eigentlich mit dem Vogel in der Hand bezweckte. Wollte sie etwa das ganze Konzert profanieren? War es ein Ausdruck der Freigeisterei, war es die Absicht, Frau Graf oder alle zu ärgern? Oder wollte sie in ihrem künstlerischen Hochmut zeigen, daß sie unter allen Umständen schön zu singen wisse? Jedenfalls fand man es allgemein ungehörig. Diese Stimmung kam mehr in Mienen und stillen Gebärden, leisen Äußerungen während der Pausen zum Ausdruck. Um aber zu beweisen, daß man sich durch solche Dinge in keiner Weise vom rechten Wege abbringen lasse, erfaßte ein allgemeiner Ehrgeiz den ganzen Chor, daß er mit der peinlichsten Aufmerksamkeit nun weiter sang, zumal alle fühlten, daß auch der Professor selbst jede Ablenkung der Aufmerksamkeit mit größter Anstrengung vermied. Die Folge war, daß die Einheitlichkeit der Leistungen von jedem Musikstück zum nächsten wuchs und der Professor selbst allmählich der Harmlosigkeit der Situation und der Geistesstärke seiner Gattin in dieser gefahrvollen Lage zu trauen begann. Zürnen konnte und durfte er ja nicht, ihn hatte vielmehr eine heimliche Rührung über die menschliche Gutherzigkeit seiner Frau ergriffen, und er wünschte nur, daß die Geschichte ein gutes Ende nehmen möchte, denn wenn der Vogel etwa durch einen Zufall ins Fliegen kam, so stand allerdings vieles auf dem Spiele angesichts der versammelten Zuhörer und der Geistlichkeit.

Dieser Gedanke aber hatte auch allmählich die 592 Frau Hähnel erfaßt. Sie fühlte, wenn so etwas geschähe, so konnte mit einem Schlage die »Sezession« geschehen und endlich ihr Mann unter seinem Zepter womöglich den ganzen Chor vereinigen. Jetzt faßte sie eine gar sinnlose Lust, wenigstens das zu bewirken. Eifrig hatte sie beobachtet, mit wie großer Ängstlichkeit die Professorin das Vögelchen in der Hand hütete und deshalb nur die Noten mit der rechten Hand halten konnte, die sie sich schon vorher heimlich auf dem Schoße zurechtgelegt hatte. Wenn sie im Stehen und Singen hätte umblättern müssen, war gar nicht abzusehen, was mit dem Vogel geschehen mußte, weil sie die Linke benutzen würde. Und darauf baute Frau Hähnel ihren Plan.

Es war eine größere Pause, ehe ein a capella-Chor Frühaufs selbst zur Aufführung kam, wo der Chor abwechselte mit dem Sopransolo der Professorin. Es war ein schwieriges Musikstück, besonders auch für die Sängerin. Frau Margarete hatte mit tiefgehaltener Hand ihr Vögelchen Frau Graf nochmals gezeigt und ihr erklärt, daß sie es auf der Straße gefunden habe, wodurch die behäbige Dame schon versöhnt war und auch nur noch einige Sorge äußerte, daß nichts Unpassendes sich ereignen möchte. Da trat auf einmal mit sehr zuvorkommender Miene Frau Hähnel heran, brachte, während ihr Mann Noten verteilte, der Professorin ihre Solonoten und sagte:

»Ihre Noten, Frau Professor. Ich habe sie 593 gleich richtig eingeknickt, damit sie sich leichter wenden, was Ihnen ja wohl bequemer sein wird. Ei, ei, was ist denn das schon wieder für ein Spottvögelchen?!«

Damit huschte sie wieder auf ihren Platz zurück, bleich vor Erwartung, was sich nun entwickeln werde, denn sie hatte die Noten absichtlich falsch durcheinander gelegt, sodaß auf alle Fälle die Professorin beide Hände brauchen mußte und zwar auch noch mitten im Singen.

Und das große Ereignis näherte sich. Frau Margarete hatte, mit der Sorge um das kleine Geschöpfchen erfüllt, vertrauensvoll die Noten genommen. Die Chorgesänge begannen, sie sang dazwischen allein mit unentwegt schöner Stimme. Da merkte sie auf einmal beim Umwenden, daß sie auf eine falsche Seite geraten war. Sie konnte ohne Noten nicht weiter singen, sie fühlte, daß man ihr einen wahren Höllenstreich gespielt, während sie gerade die Worte zu singen hatte: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?!« Die Empfindung steigerte sich so, daß sie noch eine Weile in dramatischer Aufregung mitsingen konnte und mit schneidend großartiger Stimme die Fragen stellte, sodaß die Zuhörer nicht nur, sondern auch Frau Hähnel ein Schauder überlief, ein Schauder, den Frau Hähnel Zeit ihres Lebens nicht wieder vergessen hat. Aber nun fühlte die Professorin auch, daß wenn sie nicht eilig die linke Hand zur Hilfe nehmen konnte, um das folgende Notenblatt 594 herauszunehmen, alles verloren war, die Komposition ihres Mannes, ihr Sängerruf, der Ruf des Chores. Was opfern? Den Vogel oder die Komposition?!

Da hoffte sie sich mit einem Kunstgriff aus der gefährlichsten aller Lagen zu retten, indem sie die Hand auf ihren Busen legte, einen Kleidknopf löste und versuchte, das Vöglein schnell in ihren Busen zu schieben, wo es gewiß warm gesessen hätte. Sie hielt das Notenblatt hoch vor sich, damit von den Zuhörern niemand etwas bemerken könnte. Mit zitternder Hand brachte sie endlich das Tierchen in die Kleidlücke auf der Brust und gewann im letzten Augenblick die Linke frei, um die Noten mit beiden Händen zu fassen und schnell herumlegen zu können. Und während sie dies tat, erschauderten unten die Seelen der Zuhörer vor der dramatischen Wucht ihres Gesanges, bis der Chorgesang allmählich von dem Triumph über die Hölle in alte Psalmenworte überging, welche das Halleluja über die Himmel anstimmten. Hingerissen lauschte der Pastor und die Gemeinde diesem Halleluja, vor dem die Säulen der Kirche selbst zu wanken schienen. Begeistert stimmte auch die Professorin mit ein, während sie das Tierchen über ihrem Busen fühlte, froh, auch diese Gefahr überstanden zu haben.

Aber beim nächsten Eingreifen des Chors brach sie, da sie eine kleine Pause hatte, fast erschöpft in sich zusammen. Es war zu viel gewesen bei ihrem 595 Alter, ihrer Wohlbeleibtheit. Sie mußte sich einen Augenblick setzen.

Und da geschah das Unglück. Indem sie sich niederneigte, schlüpfte und fiel zugleich das Vögelchen aus ihrem Busen heraus, zunächst auf ihren Schoß und dann auf den Fußboden. Langsam, ängstlich hüpfte es davon.

Der ganze Chor sah diesen Vorgang mit allgemeinem Entsetzen, während die Stimmführungen und Fugenläufe des Halleluja von allen Seiten übereinanderstürmten. Noch wollte die Professorin rasch das Vöglein ergreifen, aber in diesem Augenblick hatte sie einen neuen Einsatz des Halleluja, wo ihre Stimme alle anderen übertönen mußte. Sie stand auf und fiel mit ihrem Gesang ein, mit ängstlichen Blicken das Hüpfen des Vogels verfolgend. Auch der Professor hatte das Unheil gesehen. Aber er kämpfte wie ein Mann gegen die Verwirrung, die sich im letzten Augenblick des Chores bemächtigen wollte, er brachte ein paar entgleiste Takte, ohne daß man es unten merkte, durch das Herausholen eines anderen Einsatzes wieder ins Gleiche. Der Chor, der dies merkte, ging nochmals mit gesteigerter Energie in die Töne, der Satz war gerettet, denn auch die Professorin führte empört und begeistert zugleich das Halleluja bis zum Schlusse.

Niemand unter den Hörern hat etwas geahnt von dem Vöglein, das heimlich oben auf der Chordiele saß und gewiß auch wie ein lebendiger heiliger 596 Geist aufgeflattert wäre nach den hohen Wölbungen des Domes, wenn sein Flügelein nicht gelähmt gewesen wäre. Niemand hat etwas von diesem heiligen Geiste geahnt, der doch die Ursache des ergreifenden Gelingens dieses Konzertes war und abermals aus allen Peinlichkeiten und Tücken der Menschenseele ein Halleluja der hingerissenen Begeisterung schuf, der Aufhebung aller Lichtbrechungen und Zwischenschimmer des Lebens in einen großen Strahl des reinen Sonnenlichtes. Er festigte fürs Leben die Freundschaft zwischen dem Meister und dem braven Pastor Körner, er festigte von nun an auch die ehrliche Freundschaft zwischen dem Meister und seiner lieben Gattin, denn er hatte gesehen, daß sie wie eine Heldin um ihr Halleluja und seine Rettung gerungen hatte in der Gefahr, welche ihr die Menschenfreundlichkeit gegenüber dem nestentfallenen jungen Finkenkind gebracht hatte.

Der Chor ist aber still und sehr entrüstet auseinander gegangen, als am Schlusse die Professorin nichts anderes zu tun hatte, als schnell ihren kleinen Vogel wieder zu fangen und nun sicherer an ihrem Busen zu verwahren. Sogar Herr Schröter mit seiner Braut erlaubte sich, ihr einige leise Vorwürfe zu machen. Der Professor selbst sagte gar nichts, denn in seinem Inneren klang leise das Halleluja seiner eigenen Töne nach. –

Am anderen Morgen und im Laufe des Tages liefen mehr als sechzig Briefe und Karten ein. 597 Es waren lauter Austrittserklärungen der Chormitglieder. An der Spitze erklärten Herr und Frau Hähnel ihr Ausscheiden. Die Begründung war überall dieselbe. Man wünschte nicht der Gegenstand gewisser Spottvogelscherze zu sein. Man fand die Würde des Chors beeinträchtigt. Und es wurde erklärt, daß man statt dessen sich unter die Leitung des Herrn Hähnel begeben würde, um schon binnen vierzehn Tagen, als neuer Hähnelscher Stamm, in einer anderen Kirche zu wirken. Die Partei Hähnel hatte vollständig gesiegt.

Da wurde Frau Margarete nun doch von einer tiefen Niedergeschlagenheit, ja völliger Verzweiflung ergriffen. Sie begann leise zu weinen und sagte zu ihrem Manne:

»Ach, Frühauf, was fangen wir nun mit den Trümmern unseres Chores an! Wir können ja nicht einmal den Gottesdienst genügend besetzen. Daß das alles so kommen mußte! Daß die kleinliche Niedertracht siegt und daß ich daran schuld bin, wenn wir nun von allen verlassen sitzen! Woher neue Chormitglieder nehmen?«

Frühauf setzte sich tröstend neben seine Frau, nahm ihre Hand in die seine und sagte ganz ruhig:

»Liebe Grete, wir wohnen ja in Berlin, in unserer großen, menschenreichen, sängerreichen Reichshauptstadt. Das kostet nur ein einfaches Inserat, eine Zeitungsanzeige in ein paar von unseren großen Blättern, und übermorgen laufen uns hundert Leute 598 das Haus ein. So haben wir ja auch diesen augenblicklich amortisierten Chor zusammen gebracht. Und bei dem Erfolg des Konzerts a capella, zu dem uns auch alle Ausgetretenen haben helfen müssen, wird der Andrang eher zu stark sein. Dem Hähnel ist es zu gönnen, daß er nun genötigt wird, sein unseliges Dilettieren einzuschränken und etwas Ordentliches allmählich zu leisten. Was Feines wird es zwar nie werden, aber jetzt muß er wenigstens in einem Punkte, und das wird, sowie er etwas Mittelmäßiges fertig bringt, auch zum Nutzen seiner armen, ziellosen Frau sein. Die Ränke und Kleinlichkeiten werden auch bei diesem Paare allmählich seltener werden, wenn der ärgste Dilettantismus überwunden ist. So viel hat er ja gelernt, daß er mit den geschulten Sängern von uns zunächst etwas Bescheidenes leisten kann. Seien wir froh, daß wir ihn los sind. Die neuen Mitglieder, die übermorgen kommen werden, habe ich bald geschult, und wir werden noch viele gute Konzerte geben. Wenn uns die Kleinlichkeiten und kleinen Scherereien des Lebens auch gelegentlich ängstigen, liebe Frau, sie zehren sich ja doch in sich selbst auf, und das beste ist dann ein edler Humor, der uns wieder zu allem Guten und Großen zurückführt, besonders wenn wir das Kleine im Großen zu vergessen eine glückliche Anlage haben. Deinen kleinen, geretteten Finken aber hüte mir gut, denn ich hoffe, das wird noch ein ganz besonders feiner und fröhlicher Sänger, der sein 599 Halleluja noch oft uns und unseren Enkeln – so Gott will! – in die Ohren schmettern soll.«

So sagte der Meister, indem er sanft seiner Frau die linke Hand küßte, die Hand, die so menschlich und milde gewesen war. Und genau so, wie der Meister gesagt hatte, ist es auch fernerhin gekommen nach Gesetzen dieser Welt, die zu belauschen wir in dieser Geschichte sinnige Gelegenheit gehabt haben. 603

 


 


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