Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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Viertes Kapitel.

Laura hatte eine schlaflose Nacht. Mit offenen Augen lag sie in ihrem Bette und starrte in das Dunkel des Schlafgemachs. Ein dauerndes Gefühl innerer Unbefriedigung steigerte sich öfters dermaßen, daß es ihr schlaflose Nächte brachte. Bei Tage hatte sie, um sich zu betäuben, stundenlang Klavier gespielt. Es mochte die Frage sein, ob das für die Ohren etwaiger Mitbewohner angenehm gewesen wäre. Aber sie waren ja allein in ihrer Villa. Während Alfred in seinem Arbeitszimmer die Hefte seiner Schülerinnen korrigierte und die Ansichten der heranblühenden Mädchen über das Schicksal des Manschettenknopfes im Müll mit 326 großem Interesse verfolgte, hatte Laura mit ihren Händen über die Tasten ihres Bechsteinflügels stundenlang hingerast. Chopin, Beethoven, Brahms waren erörtert worden, zuletzt hatte sie zitternd und erschöpft an allen Nerven abgebrochen und hatte dann in einer zerfahrenen Stimmung in Küche und Haus herumgegeistert. Das neue Dienstmädchen war von der ziellosen Aufregung seiner Herrin selbst in einen etwas zerfahrenen Zustand geraten; die beiden weiblichen Wesen fuhren in Küche und Stuben umeinander herum wie zwei verlaufene Hennen auf einem fremden Hühnerhof. Mit einer gewissen peinlichen Aufregung war das Abendessen aufgetragen worden, und je ruhiger und befriedigter von seiner Arbeit Alfred genoß, desto appetitloser sah ihm Laura zu, desto gespreizter und zerfahrener wurde ihre Stimmung.

Und nun lag der Oberlehrer in tiefem Schlafe in seinem Bette neben dem ihren und schnarchte in abgemessenen Zeiträumen mit dem Ausdruck einer tiefen Sattheit der Tongebung. Sie glaubte eine unerträgliche Selbstzufriedenheit und Selbstbehaglichkeit aus diesen Skalen herauszuhören. Und je überreizter und schlafloser es in ihrem Kopfe ihr zu Mute war, desto mehr nagte der Gedanke an ihr, daß sie mit diesem Manne gesellschaftlich so ganz und gar nicht etwas zu bedeuten hatte. Seit dem mißglückten Vortrage, bei dem ja auch verschiedene ihrer eingeladenen Jugendfreundinnen zugehört hatten, war es auffällig still um sie 327 geworden. Gewisse Besuche kamen seltener, einige gar nicht mehr. In den litterarischen Verein hatte nichts mehr sie hingebracht. Warum hatte sie nicht einen Offizier, einen Künstler, einen Schriftsteller geheiratet! Sie hätte sie ja zu Dutzenden haben können. Warum war sie dieser törichten Liebe und Leidenschaft zu einem Manne gefolgt, von dem sie so großes erwartet und der sie so grausam enttäuscht hatte! Wenn sie daran dachte, daß sie mit einem solchen unbedeutenden Pädagogen nun ihr ganzes Leben in einer geistigen Subalternenrolle zubringen sollte, daß ihr Bedürfnis nach Geltung und Ansehen in der Welt nie Befriedigung finden würde, so hätte sie wünschen können, überhaupt von diesem Manne loszukommen. Aber auch dieser Gedanke war schrecklich, aufregend, entsetzlich! Denn sie liebte ihn ja, das fühlte sie, und wer hätte ihn auch bei so vielen echt menschlichen, liebevollen Eigenschaften nicht wiederlieben müssen. Und nun schnarchte er wieder ganz laut und selbstzufrieden auf. Sie drückte ihren schlaflosen Kopf ins Kissen und zerdrückte gereizte Tränen in die weichen Eiderdaunen. – So war sie im Gefühle innerer Leere allmählich doch eingedämmert, und wer als ungesehener Belauscher das Ehepaar hätte beobachten können, würde erschrocken gewesen sein über das laute Schnarchen, mit dem auch auf einmal das schlaflose Weib die entsprechende Tätigkeit ihres Mannes begleitete. Aber bei ihr klang es mehr wie ein Schnarchen der Rache, wie das 328 Schnarchen der Erinnyen, der Rachegöttinnen des ehemals berühmten Dichters Äschylus.

Auf einmal aber wurde sie ganz still. Im selben Augenblicke wachte sie plötzlich auf. Hatte sie etwas geträumt? War irgend etwas geschehen, das sie erweckte?

Indem sie erwachte, war es auch ihr gleichzeitig, als fahre ein Schauer ihr über ihren Kopf und durch alle Haarwurzeln. Sie starrte beklommen ins Stockdunkle. War es denn nicht, als wäre irgend etwas ganz dicht neben ihr oder über ihr gewesen? War es denn nicht vor ihren dunklen Augen, als hebe sich etwas durch die Finsternis von ihr weg?

Sie lauschte. Aber sie vernahm keinen Laut. Nur ihres Mannes Atemzüge, die aus dem früheren Fortissimo jetzt in ein behaglich gedämpftes Röcheln übergegangen waren. Eben deshalb vermochte sie mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit nicht zu unterscheiden, ob das, was in ihrer Nähe zu sein schien, überhaupt da war. Und doch hatte sie die Empfindung, als wären es fremde, leise Atemzüge, die nicht weit schienen. Sie lag starr ausgestreckt im Bette, wagte nicht sich zu erheben, da es wie eine Ahnung über sie wegging, als könnte sie irgend etwas plötzlich an der Kehle fassen und würgen, wenn sie sich auch nur im mindesten rührte. Sie suchte den hellen Schein zu gewinnen mit ihren Augen, der vom Fenster herkommen mußte, aber die Läden waren heruntergelassen. Sie sah dort 329 nur etwas wie ein grauschimmerndes Gespenst, das der Vorhang oder einer ihrer weißen Unterröcke sein mußte. Plötzlich war es ihr, als knackte etwas. Sie fuhr unwillkürlich zusammen und tiefer unter die Decke. Auch das Schnarchen ihres Mannes brach plötzlich ab, auch der Schlafende mußte unbewußt durch dies Knacken gestört worden sein. Und wieder war es ihr, als hebe sich irgendwo über ihr oder nicht weit von ihr etwas Unbestimmtes, Atmendes, Unsichtbares durch das Zimmer. Mit erneuter Kraft lauschte sie von neuem, daß ihr innerlich die Ohrnerven sich weit aufzuspannen schienen, als sollte sie mit den Ohren sehen, wo die Augen nicht sehen konnten. Langsam wendete sie den Kopf herum nach der Seite, von wo sie das Knacken gehört zu haben glaubte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in diese Richtung. Da war es ihr, als sähe sie dort, wo die Tür sein mußte, eine Art Loch in der Dunkelheit, wo die Dunkelheit nicht ganz so dunkel war wie sonst. Es wirkte wie ein Schleier. Und in diesem Schleier saß ein matter Lichtpunkt.

Sie dachte nach, was das für ein Lichtpunkt sein konnte. Sie entsann sich, daß sie ihn auch früher schon gesehen hatte. Wann hatte sie ihn doch gesehen?

Die Tür mußte offen sein, welche ins Speisezimmer nebenan führte. Der Lichtpunkt mußte ein matter Schein der brennenden Straßenlaterne draußen vor dem Garten sein, der da, wo der 330 herabgelassene Laden des Speisezimmerfensters nicht ganz auf das Fenstersims schloß, durch einen Spalt ins Zimmer sich hereinstahl. Hatte sie denn vor dem Zubettgehen diese Zimmertür aufstehen lassen?.

Eine Weile starrte sie in den matten, unbestimmten Lichthauch. Nichts war mehr zu hören. Der schlafende Ehegatte war ganz still geworden. Man hörte kaum noch einen Atemzug von ihm. Nur ganz dicht neben sich, so dicht, als wäre es in ihrem Kopfkissen, hörte sie jetzt unregelmäßige Atemzüge. Entsetzt wollte sie schon auffahren, als sie am Emporheben ihrer Brust merkte, daß es ihre eigenen Atemzüge sein mußten, und daß das, was im Kopfkissen so wundersam rauschte und hämmerte, der Blutumlauf in ihrem Halse und in ihren Ohren selbst war. Schon wollte sie beruhigter das Lauschen aufgeben und sich auf die andere Seite legen in dem Glauben, es seien alles nur Sinnestäuschungen von ihrer Schlaflosigkeit, als etwas Unheimliches eintrat.

Der matte Lichtschimmer, der vom Laden her in ihren Augen lag, schwand auf einmal ganz allmählich weg. Hatte der Laternenmann etwa draußen die Straßenlaterne ausgelöscht? Und als ganz leise dieser Schein verschwunden war, schien es, als ob etwas Großes, Dunkles gerade da sich aufbaute, wo der Türeingang das Loch in der allerschwärzesten Finsternis schien. Es wurde da auf einmal ganz pechschwarz und dunkel. Und nach 331 einem weiteren Augenblick war auf einmal das Licht des Ladens wieder da, wie erst. Gleich darauf hörte sie draußen wieder das leise Knacken, das aus der Diele kommen mußte.

Sie fuhr mit einer jähen Gebärde im Bette empor und tat einen lauten Schrei.

»Alfred! Zu Hilfe! Einbrecher!«

Der Schrei verklang tonlos zwischen den geschlossenen Läden. Sie saß starr aufgerichtet. Sie glaubte draußen ein huschendes Geräusch zu vernehmen. Dann aber hörte sie ganz deutlich aus weiterer Ferne eine Tür gehen. Und dann war alles wieder totenstill.

»Alfred! So wach doch auf! Hörst du nicht?« sagte sie jetzt mit halberstickter Stimme, indem sie den Mann an der Schulter faßte.

In diesem Augenblick fuhr auch der Oberlehrer verstört empor und starrte ins Dunkle.

»Was ist's, was gibt's!« fragte er erschreckt.

»Alfred, es muß jemand in der Wohnung sein. Mach doch Licht! Ich habe ganz deutlich eine Tür gehen hören!«

»Halloh« rief der Oberlehrer, förmlich vergnügt, daß ihm auch einmal so ein Abenteuer passieren sollte, und griff nach dem Revolver, der immer bereit neben ihm auf dem Nachttisch lag. Mit einem Satz war er aus dem Bette und hatte gleichzeitig den Knopf der elektrischen Glühlampe aufgedreht, die im Augenblick die Kammer erhellte. 332

Mit prüfendem Blicke durchmusterte er das Schlafgemach. Hier schien alles in Ordnung.

Mit einem weiteren Satze war er in seine Hosen hineingefahren, worauf er mit gespanntem Revolver nach dem Speisezimmer schritt, dessen Tür in der Tat offen war. Rasch hatte unterdessen Laura ein Stearinlicht angezündet, das sie ihm angstvoll reichte. Er nahm's und verschwand im Speisezimmer mit seinem Revolver.

Lange hörte sie ihn draußen alle Zimmer und den Korridor durchsuchen. Sie hörte ihn die Vorsaaltür aufschließen und die Vortreppe hinuntersteigen. Jetzt schien er sogar im Garten zu sein.

Erst nach geraumer Weile kehrte er zurück, legte stumm den Revolver ab und sah sich nochmals im Zimmer um. Er öffnete den großen Kleiderschrank und sah hinein. Dann kniete er vor ihrem Bette nieder und leuchtete darunter.

»Da unten liegt er auch nicht. Es muß doch wohl eine Täuschung gewesen sein. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, dem Kerl eine Bohne in die Waden zu jagen, aber ich habe nichts gefunden. Gestohlen scheinen sie auch nichts zu haben, denn alle Schränke und Fächer waren in Ordnung. Du wirst wahrscheinlich geträumt haben, liebe Laura!«

»Geträumt?!« entgegnete sie gereizt. »Wenn ich das geträumt habe, dann habe ich jedenfalls auch nur geträumt, daß du wieder einmal aufs unanständigste geschnarcht hast. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Du solltest doch noch 333 einmal nachsehen, denn man weiß nie, wohin so ein Einbrecher sich versteckt haben kann.«

Alfred erhob sich mit einem Seufzer vom Boden. Er hatte sogar mit einem Rohrstock unter dem Bett herumgefahren, um sich zu überzeugen, daß kein nächtlicher Einbrecher darunter lag. Er ergriff das Licht und ging nochmals, um seine Frau zu beruhigen, durch die ganze Wohnung. Nirgends wollte ihm etwas Verdächtiges auffallen. Die Türen sämtlicher Zimmer standen zwar auf, aber das konnte eigene Nachlässigkeit vor dem Zubettegehen bewirkt haben. Er weckte endlich das Dienstmädchen, indem er ins Kellergeschoß hinabstieg und fragte, ob die etwas gehört habe. Aber die hatte fest geschlafen wie ein Dachs und wußte von gar nichts. Indem er wieder heraufstieg, sagte er sich, seine Frau müsse doch wohl nur geträumt haben und ihre große Aufregung müsse daran schuld sein. Er blieb auf der Kellertreppe stehen und hielt eine Weile sein Licht ganz regungslos in der Hand, indem ihm einfiel, daß dieser sonderbare Zustand seiner Frau ohne Frage seit dem verunglückten Vortrage datierte. Er fühlte aufs tiefste, daß er selbst die Schuld an solcherlei Halluzinationen trug, und er sagte sich, er müsse irgend etwas tun, um diese Zustände der Gattin zu heilen.

Alfred tat einen weiteren Schritt die Treppe hinauf. Ja, er mußte auf irgend eine Weise versuchen, zu Namen und Ansehen zu kommen. Eher würde seine Frau doch nicht zufrieden und glücklich 334 werden. Und hatte er denn nicht die Pflicht, ein Wesen, das ihn aus Liebe geheiratet hatte, glücklich zu machen? Mußte er nicht alles tun, um ihr ein befriedigtes Herz und einen besseren Schlaf zu schaffen?

Er ging wieder einige Schritte. Auf einmal aber, als er auf den oberen Flur trat, fühlte er einen Luftzug, das Licht flackerte zur Seite und im selben Augenblicke war es auch schon erloschen.

Unangenehmer Weise hatte er vergessen, Streichhölzchen mitzunehmen. Er mußte sich daher im Dunkeln weitertasten und überzeugte sich, daß das Flurfenster aufstand. Unter diesen Umständen wäre es allerdings möglich gewesen, daß jemand hätte einsteigen können. Aber deshalb war er ja noch nicht in der Wohnung. Die hätte er aufschließen oder mit einem Dietrich aufmachen müssen.

Er machte im Dunkeln das Fenster zu. Der Himmel war sehr finster, trotzdem es doch schon gegen morgen sein mußte. Dann tappte er im Dunkeln durch den Flur in die Wohnung hinein.

Als er nun so von Finsternis umgeben zunächst in seinem Zimmer stand, fragte er sich, was er tun könnte, um, neben seinem Amt, schnell zu einem gewissen Rufe zu kommen. Als Vortragskünstler hatte er kein Glück gehabt. Aber er hatte doch andere Talente. Er hatte doch als Bräutigam sogar gedichtet. Wenn er die besten von diesen Gedichten sammelte und noch einiges dazu reimte? Man konnte das doch drucken lassen, und wenn 335 ein paar Berliner Zeitungen dann darüber Rezensionen brachten, so mußte Laura hieran doch eine Befriedigung finden! Zwar war noch nie etwas von seinen Versuchen gedruckt worden. Einmal hatte er an eine Dichterzeitung ein Liebesgedicht an seine damalige Braut geschickt in der Hoffnung, es gedruckt zu sehen. Er hatte sie damit zu überraschen gehofft. Aber vierzehn Tage später las er im Briefkasten, statt des Gedichtes, eine Notiz: »Sehr unreif. Leider nur für unseren Papierkorb geeignet. Abonnieren Sie recht fleißig auf unser Blatt, um sich an guten Vorbildern zu schulen. Vielleicht gelingt es Ihnen noch einmal.«

Dieses kleine Mißgeschick hatte er natürlich seiner Braut verschwiegen. Aber er hatte auch nie wieder einen Versuch gemacht, etwas drucken zu lassen, und allmählich hatte er überhaupt nicht mehr gedichtet.

Jetzt aber, durch die bedenkliche Schlaflosigkeit seiner Frau besorgt, fühlte er, daß etwas geschehen müsse. »Vielleicht gelingt es Ihnen noch einmal!« Dieses Wort stand plötzlich vor seiner Einbildungskraft in der ihn umgebenden Finsternis so deutlich da, als wäre es mit feuriger Geisterhand auf die Wand seines Schreibzimmers geschrieben.

Und im selben Augenblicke glaubte er auch schon einen Stoff zu haben. Im Dunkeln! Welch ein Vorwurf für ein lyrisches Gedicht. War nicht das ganze Leben ein geheimmsvolles Dunkel, wie es ihn soeben umgab? Unwillkürlich merkte er, wie 336 sich in seinem Geiste die Reime zusammenfanden. »Wir tappen ewig durch das Dunkel, wir sehn selbst nicht das Sterngefunkel, wenn Wolkennacht es eingehüllt!«

Das war doch wie eine höhere Eingebung plötzlich über ihn gekommen.

In diesem Augenblicke hörte er aus der Ferne Lauras Stimme, die ihn rief. Er schloß die Augen, um so besser mit vorgestreckten Händen nach dem Schlafgemach sich durch die anderen Zimmer durchtasten zu können. Und wieder ging es ihm durch den Kopf: Wir tappen ewig durch das Dunkel –. In diesem Augenblick rannte er indessen gegen einen Stuhl, und als er davon zurückprallte und unter Umgehung desselben in der Finsternis ins nächste Zimmer kommen wollte, schlug er mit der Stirn an irgend etwas anderes, es mochte wohl der offene Türflügel sein. Im Salon entstand einiger Aufenthalt, weil er dort die Tür nicht finden konnte, sondern mit den Händen an irgend einer Wand herauf- und heruntertasten mußte. Laura rief widerholt. Er wäre gern zu ihr geeilt, aber er fühlte die vollständige Unmöglichkeit, durch die Wand selbst hindurch zu gehen, solange er nicht die Gegend abgetastet hatte, wo die Türöffnung sein mußte. Die Fensterläden schlossen hier ganz ausgezeichnet, es war in der Tat eine Finsternis, die nicht einmal von der ägyptischen zu übertreffen war. 337

»Jawohl, jawohl, liebe Laura,« rief er, »ich komme gleich! Ich muß nur erst . . .«

Er faßte verschiedene Gegenstände an und aus ihrer Beschaffenheit schloß er, daß er sich die Richtung falsch vorgestellt haben mußte und an einer Wand herumfingerte, die überhaupt keine Tür hatte. Da er viele Nippsachen und Ziergegenstände im Salon stehen hatte, so war besondere Vorsicht geboten. Er überlegte sich, daß die richtigste Methode wäre, einfach an dieser Wand bis in die Ecke weiterzutasten und dann die Ecke selbst mitzunehmen. Auf diese Weise mußte er ja doch zuletzt an die Tür kommen. Vorsichtig und still fingernd war er so allmählich um die Ecke herumgekommen, als er Laura sehr erregt rufen hörte:

»Aber Alfred, du kommst ja nicht! Es ist doch eine Rücksichtslosigkeit, mich so lange allein zu lassen, wo man nicht weiß, was jeden Augenblick passieren kann. Ich habe vorhin ganz deutlich ein paar Tritte im Garten gehört! Alfred, komm doch!«

Wie gern wäre er gekommen! Endlich, er fühlte es, hatte er einen Türpfosten erwischt. Mit raschem Schritte und vorgehaltenen Händen ging er durch. Das mußte das Speisezimmer sein. »Ich komme schon, Laura.«

»Ach, wie gut ist das!«

Was war denn das? Ihre Stimme klang doch auf einmal weiter entfernt und aus einer ganz anderen Richtung. Das war doch nicht das 338 Speisezimmer. Richtig, er fühlte etwas an, was ihm zunächst stand. Und das war sein Arbeitsstuhl und folglich war er wieder in seinem Arbeitszimmer.

Dieser sanfte und wohlgebildete Mädchenlehrer konnte sich nicht enthalten, bei dieser Entdeckung in der Finsternis einen sehr unsanften Fluch auszustoßen. Indessen, er wußte, daß auf seinem Schreibtisch Streichhölzchen standen, und da er in dessen nächsten Nähe sein mußte, so sagte er sich, es wäre das beste, den Leuchter gleich hier anzuzünden.

Leider hatte er ihn nicht mehr in der Hand. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er ihn gerade in dem Augenblicke, als ihm der Reim einfiel: »Wir tappen ewig durch das Dunkel« irgendwo abgesetzt hatte, um sich mit beiden Händen schneller vorwärts zu tasten. Augenscheinlich hatte er bei diesem plötzlichen Reimgedanken auch das Richtungsgefühl verwechselt, sodaß er dann den geraden Weg mit einem anderen vertauscht hatte. Einen Augenblick war es ihm, als sollte er in seinem Leben nicht mehr aus diesem Labyrinth der Finsternisse herausfinden.

»Aber Alfred, was machst du nur! Ist dir etwas zugestoßen?« hörte er jetzt von neuem die entfernte Stimme der Gattin rufen.

Ein Gefühl von Todesverachtung kam über ihn. Und wenn er sich den Schädel eingerannt hätte, er mußte sich doch mit raschen Schritten nach seinem Schlafgemach zurückfinden können. 339

Kurz entschlossen ging er jetzt gerade darauf los, indem er sich noch einmal die Richtungsverhältnisse genau vergegenwärtigte. Und merkwürdigerweise ging es jetzt ohne jeden Anstoß. Nur im Salon rannte er einmal gegen einen Sessel und dann war er im Speisezimmer und sah den Lichtspalt der angelehnten Schlafgemachtür. Als er öffnete und in das hellerleuchtete Zimmer trat, fühlte er sich stark geblendet.

»Gott sei Dank, daß du da bist!« sagte Laura erleichtert, als sie ihn erblickte. »Hast du etwas gesehen?«

»Gesehen?« sagte er kleinlaut. »Nein, gesehen habe ich eigentlich gar nichts. Mein Licht war mir aus Versehen ausgegangen.«

Er verschwieg, daß er das Flurfenster offen gefunden, um Lauras Aufregung nicht noch zu vergrößern. Er suchte sie zu beruhigen und stieg dann wieder ins Bett. Das elektrische Licht mußte aber hell bleiben, weil Laura erklärte, sonst vor Angst nicht mehr schlafen zu können. Allmählich wurden die Gatten still. In seinem Geiste rannen noch mehr Reime zusammen, während er mit geschlossenen Augen dalag. Erst nach einer längeren Pause wandte er sein Haupt gegen die Gattin hin und fragte leise für den Fall, daß sie schon schlafen sollte: »Laura, glaubst du, daß ich ein Dichter bin?«

Da hörte er an einem dunkeln, schweren Atemzuge, daß die Geliebte seines Herzens doch wieder eingeschlummert war, und er fühlte, daß er in dieser 340 Nacht nun nicht mehr erfahren werde, ob er ein Dichter sei. –

Alfred Stern mußte am kommenden Morgen schon früh um sieben Uhr in seiner Mädchenschule sein. Deshalb erhob er sich bereits um sechs Uhr, während er das Dienstmädchen schon in der Küche den Kaffee mahlen hörte, drückte seiner Frau einen Morgenkuß auf den Mund, der zugleich die besten während der Nacht gefaßten Vorsätze besiegeln sollte, und begab sich in seine Schule. Laura schlief noch ein paar Stündchen weiter.

Um neun Uhr erwachte sie jäh. Sofort fiel ihr das Abenteuer der Nacht ein. Sie stand schleunigst auf, fuhr in ihren Morgenrock und ging nach ihrem Silberschrank. Hastig durchsuchte sie all ihre Pretiosen und Silbersachen, zählte die goldenen Kaffeelöffel und die goldenen Nachtischmesserchen und mußte sich mit einem gewissen Gefühle der Enttäuschung gestehen, daß alles da war. Dabei fiel ihr auch ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket in die Hand, das sie nur anfühlte, um sich zu überzeugen, daß auch darin Messer und Gabeln sein mußten. Sie machte es gar nicht erst auf, da sie doch alle Wertsachen in Ordnung fand. Sie öffnete dann die Kleiderschränke, aber auch hier war alles vollzählig da. Ein flüchtiger Blick in die Wäscheschränke lehrte, daß auch hier augenscheinlich nichts Verdächtiges geschehen war.

Beruhigter setzte sie sich zum Frühstück. Sie konnte doch nur geträumt haben. 341

Aber nun fing sie an, sich ernstliche Sorge darüber zu machen, daß sie überhaupt so lebhaft hatte träumen können. Ja, mit offenen Augen mußte sie Halluzinationen gehabt haben. Ach, sie fühlte tief, wie es mit ihr stand. Das waren alles nur Folgen davon, daß sie eine unbedeutende Frau bleiben sollte. Und von neuem bemächtigte sich ihrer ein stiller Groll gegen ihren Mann.

Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloß sie, Toilette zu machen. Sie begab sich in ihr Schlafgemach und wusch sich. Darauf ging sie an ihr Toilettentischchen, suchte das duftende Mundwasser und die zarten Fläschchen mit Rosenöl und Veilchengerüchen, mit denen sie sich nach dem Zahnreinigen zu parfümieren pflegte. Sie hatte eine ganze kleine Apotheke von solchen Toilettenmitteln in Gebrauch, nicht weil sie eitel war, sondern weil sie sich in ihrer Einsamkeit des Vormittags nicht gut anders die Zeit zu vertreiben wußte. Sie goß das Mundwasser ins Glas, machte es duftig und ätherisch und roch vergnügt daran. Nach ihrer Gewohnheit griff sie dann in ihre Zahnbürstenschale, ein schönes Stück aus echtem Meißner Porzellan mit goldiger Umrandung des Deckels und einem allerliebsten Rokokobildchen darauf. Es war in der Manier von Lancret und Watteau bemalt; Rokokodämchen lagerten im grünen Grase, Herren mit langen Spazierstöcken in Perücken reichten den Damen Erfrischungen und allerliebste Amoretten umschwebten diese Liebespaare. Behutsam hob sie 342 den kostbaren Deckel ab und nahm ihre Zahnbürste heraus.

Schon hatte sie dieselbe ins Mundwasser gesteckt, zog sie heraus und wollte sie an ihre Zähne führen, wobei sie in den Spiegel sah. Denn ihre Zähne, die wie eine Schnur von edeln Opalsteinen neben einander standen, waren ihre Freude. Sie sah sie gar zu gern an. Sie zog ihre Lippen auseinander und beschaute im Spiegel ihr wundervolles Gebiß. Welcher berühmte Bildhauer oder Maler oder dramatische Dichter hätte nicht stolz sein müssen, eine Frau mit solchen tadellosen Zähnen zu besitzen! Wenn sie im Theater bei einer Berliner Première saß im neuesten Lustspiel und lachte, welche Frau hätte sie nicht um diese Zähne beneidet! Alle Operngucker mußten ja darauf, statt auf das Stück selbst sich richten! Und nun, mit diesem Manne! Schon wollte sie mit der Bürste in den Mund über diese schönen Zähne fahren, als ihr bei einem letzten Blick in den Spiegel auf einmal diese Bürste fremdartig vorkam, sie wußte nicht warum. Sie setzte schnell ab und betrachtete sich die Bürste genauer.

Sonderbar! Sie hatte ja fast gar keine Haare mehr. Sie sah ja wahrhaft schäbig aus. Solche Bürsten hatte sie doch nicht in Gebrauch! Der Rücken war ganz zersplittert, obwohl er aussah, als wenn es echtes Elfenbein wäre. Sie betrachtete ihn sich genauer und glaubte am Stielende ein verwaschenes Monogramm zu erkennen. Es schien eine Rose zu sein und um diese im Kreise in ganz kleinen 343 Buchstaben ein Name. Sie entzifferte und las »Emilie v. B.« Aber sonderbar schmutzig waren die übrig gebliebenen Haare der Bürste. So schmutzig, daß sie sich schüttelte bei dem Gedanken, sie hätte damit in ihren Mund und über ihre schönen, weißen Zähne fahren können.

Sie klingelte dem Dienstmädchen heftig erregt. Sofort erschien das neue Mädchen, das sehr lang und groß war, fast einen halben Kopf größer als seine Herrin, und eben deshalb etwas ungelenk in Gebärden und Haltung.

»Sie wünschen, Madame?«

»Was haben Sie mir denn da für eine abscheuliche Zahnbürste in meine Schale gelegt! Das ist doch nicht meine Bürste! Sehen Sie sich das Ding doch einmal an!«

Erschrocken nahm die lange Emilie das kleine Monstrum in die Hand, sah es an und sagte mit etwas dummem Gesicht: »Ja, warum soll denn das nicht Ihre Bürste sein, gnädige Frau?«

»Warum? Na, ich dächte denn doch! Wie können Sie denn so eine Frage stellen, Emilie?«

Emilie! In diesem Augenblick kam ihr zum Bewußtsein, daß das Mädchen ja selbst Emilie hieß, wie der Name auf der Bürste.

»Emilie heißen Sie doch, nicht wahr? Das werden Sie doch zugeben!«

Dies sagte sie ziemlich gereizt und inquisitorisch.

»Ach, Jotte doch, ja, gnädige Frau, so heiße ick ja wohl!« 344

»Nun, dann sehen Sie sich gefälligst das Monogramm hier einmal an! Sie haben mir in Ihrer Gedankenlosigkeit, die ich schon seit einiger Zeit an Ihnen bemerke, diese Ihre Bürste in mein Kästchen gelegt. Haben Sie etwa einen Schatz, daß Sie Ihre Gedanken nicht mehr zusammenhalten können?!«

»Meine Bürste, gnädige Frau?! Aber ick putze mir ja meine Zähne gar nie. Die sind ja schon von Natur blank und ick spüle mir deshalb nur!«

»Das sagen Sie nur so in Ihrer Verlegenheit. Nehmen Sie das Ding da weg. Es steht ja Ihr Name darauf. Ich werde Ihnen eine neue Bürste kaufen, denn so ein altes, zerschabtes, unsauberes Ding dulde ich in meinem Hause auf keinen Fall, und selbst wenn's im Keller wäre. Schmeißen Sie das alte Ding sofort in den Müll!«

Die lange Emilie sah ihre Herrin wie geistesabwesend an. Sie fühlte sich tief gekränkt, daß sie so sehr verkannt wurde, gehorchte aber stillschweigend, ging hinaus und warf die Bürste in den Müll. Sie erschrak, als kurz darauf von neuem heftig geklingelt wurde.

Eilig lief sie wieder mit ihren langen Beinen, mit denen sie sehr große Schritte zu machen pflegte, zu ihrer Herrin.

»Machen Sie mir nun die Haare!« befahl Laura, die sich unterdessen in frischem Mundwasser mit ihrer eigenen Bürste, die unversehrt in der Porzellanschale gelegen hatte, gereinigt hatte. 345

Sie setzte sich vor den Toilettentisch, löste die Nadeln ihrer Haare und ließ die blonden, starken Flechten über Schulter und Nacken herunterfallen. Zitternd und zagend löste die lange Emilie diese Zöpfe allmählich auf, bis sie ganz frei herunterwallten. Laura mußte bei ihrem Anblick im Spiegel gestehen, daß sie denn doch eine schöne Frau sei. Die Haare waren nicht minder üppig und kräftig wie die Zähne weiß und regelmäßig sich ausnahmen. Ein Dichter, der dieses alles besungen hätte, müßte schon dadurch berühmt werden! Warum dichtete ihr Mann nicht mehr?!

»Sagen Sie, sind Sie eigentlich von irgend einer Seite von adeliger Abkunft, Emilie?« fragte auf einmal die Herrin, während das Mädchen eben die Haare vollständig löste und auf dem Nacken ausgebreitet auflegte, um mit dem Kamm dann besser hindurch fahren zu können.

»Von adeliger Abkunft? Ich, gnädige Frau?! Ach nein, das glauben Sie selber nicht!«

»Nun, mir gegenüber können Sie ja offen sein. Für Sie wäre das doch keine Schande. Das Kind trägt ja immer den Namen der Mutter. Und was kommt nicht alles auch im Adel so einer Millionenstadt vor! Wie gesagt, mir gegenüber können Sie ganz offen sein!«

Die lange Emilie blickte ganz erstarrt in den Spiegel, um in diesem ihr eigenes Gesicht und das Gesicht ihrer Herrin zu sehen. Aber dieses Gesicht der blonden Dame unter ihren Händen sah doch 346 ganz vernünftig heraus. Verwirrt griff sie in den Kammkasten, nahm Staubkamm und Haarkamm heraus und glotzte von neuem in den Spiegel auf das Gesicht ihrer Herrin.

Laura schloß aus dem Schweigen des Mädchens, daß sie recht geraten hatte. Wie anders konnte auch das Monogramm mit dem kleinen Zeichen »von« auf die Zahnbürste geraten sein! Als eine diskrete Frau wollte sie nicht weiter in das Mädchen dringen, da dieses augenscheinlich nicht recht mit der Sprache heraus wollte. Aber als die lange Emilie ihr jetzt mit dem Kamm in die Haare fuhr und dann die üppige Fülle langsam durchzukämmen versuchte, war es ihr doch ein eigentümliches Gefühl, daß der natürliche Sprößling irgend eines alten Adelsgeschlechtes hier augenscheinlich im Begriff war, einer Fabrikantentochter diesen Dienst zu erweisen. Laura fand in gewissem Sinne etwas Erhebendes, Schmeichelhaftes darin.

Eine Weile währte dieses Stillleben der Gefühle und der Tätigkeit, bis Emilie den Staubkamm vorn bei der Stirn auf das schöne Haupt ihrer Herrin setzte, um einige Schuppen herauszukämmen. Mit einer jähen Bewegung fuhr da auf einmal Laura zurück und fragte ganz unvermittelt und entsetzt: »Aber, Emilie, was haben Sie denn da nun wieder für einen Kamm in der Hand?«

»Ich, gnädige Frau?!«

Erst jetzt sah die Emilie die beiden Kamme genauer an, die sie in der Hand hielt. Der große 347 Haarkamm war überhaupt nur ein halber Kamm, ein Hornkamm, in dessen Zinken die blonden ausgegangenen Haare der Frau Oberlehrerin saßen. Der Staubkamm aber war auch an mehreren Stellen ausgebrochen und so staubig, wie sich bei näherer Besichtigung herausstellte, daß er in der Tat den Namen eines Staubkammes mit vollem Rechte verdiente.

Erschrocken sah Emilie diese beiden Dinger an. Und ganz kleinlaut sagte sie: »Aber haben Sie denn solche Kämme, gnädige Frau?«

»Na, das nehmen Sie mir nun nicht übel, Emilie! Und wenn Sie zehnmal von irgend einem adeligen Mädchen oder Frau herstammen, daß Sie mir deshalb Ihre alten Kämme in Ihrer Gedankenlosigkeit in meinen Kasten legen und mir auch noch damit meine Haare mißhandeln, das geht denn doch zu weit!«

Jetzt erst verstand die Emilie ihre Herrin vollständig! Und mit einem wahrhaft furienhaften Ausdruck, der diesem langen Mädchen ganz sonderbar stand, warf sie die beiden Kämme aufs Bett und rief: »Für wat halten Sie mir in Ihrem eigenen Leichtsinn?! So eine wäre meine Mutter gewesen? Mein Vater war ein ehrsamer Schneidermeister und meine Mutter seine ehrsame rechtschaffene Frau und ick habe nichts von Adel an mir und weiß jar nicht, wie Sie mir so herabsetzen können. Wenn Sie so liederlich sind und selber solche alte Kämme und Zahnbürsten in Ihre Kommoden haben, so kann 348 ick doch dafür nischt, und hiermit kündige ich Ihnen auf den nächsten Monat, denn dazu hat mir mein Vater nicht in de Welt jesetzt, det ick Ihre schlechten, heimlichen Angewohnheiten auf mir nehmen soll! So'ne jebildete Frau und solche alte Kämme! Ick jraule mir ja!«

Laura wußte im ersten Augenblicke nichts zu entgegnen. Daß ein Dienstbote ihr kündigte, war ihr überaus peinlich; sie empfand es als eine persönliche Demütigung. Erst nach einer Weile brachte sie die Worte heraus: »Damit imponieren Sie mir nicht im mindesten! Ich hätte Ihnen natürlich meinerseits gekündigt, wenn Sie es nicht vorgezogen hätten, sich auf diese Weise eine Hintertür zu schaffen. Aber Sie können es gerade so ansehen, als ob ich Ihnen gekündigt hätte! Nehmen Sie Ihre abscheulichen Kämme weg da vom Bette.«

»Ich werde mir hüten! Det sind nicht meine Kämme! Gehn Sie doch in meine Kammer, da werden Sie die richtigen schon finden! Ick jraule mir ja vor so wat!«

»Reden Sie nicht und verfügen Sie sich in Ihre Küche!«

Laura war so empört, daß sie selbst ihre Haare zu machen beschloß. Und als sie den Kammkasten aufmachte, sah sie auch ihre gewöhnlichen Kämme in schönster Ordnung daliegen. Um so mehr befestigte sie sich in der Überzeugung, daß das neue Mädchen irgendwie ihre alten Kämme bei ihr abgeladen hatte. Mit spitzen Fingern faßte sie diese 349 an, da ihr doch nichts anderes übrig blieb, und warf sie wütend zum Fenster hinaus.

Gegen Mittag, nachdem die beiden weiblichen Wesen kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten in gegenseitiger Empörung, befahl Laura: »Decken Sie den Tisch; der Herr Doktor wünscht heute eher zu speisen. Nehmen Sie das gewöhnliche Tischzeug; es ist gewöhnlich in Papier eingewickelt im Silberschrank. Wir brauchen heute kein anderes.«

Eine gewisse Verstimmung gegen ihren Mann machte sich damit Luft. Sie hatte sein nächtliches Benehmen nicht so befriedigend finden können. Und so sollten nur die einfachsten Bestecke die Mittagstafel zieren.

Die lange Emilie gehorchte und ging. Als sie vom Decken aus dem Speisezimmer zurückkam, glaubte die Herrin einen sonderbar erstarrten Ausdruck in Emiliens Antlitz zu bemerken.

Der Doktor kam vergnügt aus der Schule heim. Man setzte sich zu Tische. Eben wollten beide Ehegatten ihre Löffel in die Suppe tauchen, als sie beide gleichzeitig zurückfuhren. Und Laura rief: »Nein, diese Unverschämtheit übersteigt denn doch alle Grenzen!«

»Aber liebe Laura, seit wann haben wir denn solche verrosteten alten Blechlöffel? Und mein Messer! Meine Gabel! Das ist ja lauter altes Eisen! Und in deiner Gabel sind sogar die Zinken herausgebrochen!« 350

»O – diese Person!« stöhnte Laura. »Das Dienstmädchen will mir einen Possen spielen, weil ich ihr kündigen mußte. Aber es wäre gänzlich unter unserer Würde, wenn ich auch nur so täte, als hatten wir es bemerkt. Solche Leute muß man einfach ignorieren.«

Sie biß sich auf die Lippen, aber sie nahm die alten, rostigen Sachen weg und warf sie zum Fenster hinaus. Sie ging zum Silberschrank, um die besseren Bestecke herauszunehmen. Ganz entsetzt aber fuhr sie von da zurück. Die aufgemachten Papierhüllen waren gleichfalls ganz mit alten verrosteten Kaffeelöffeln, Messern und Gabeln gefüllt.

»Abscheulich!« sagte sie indigniert.

Aber sie beschloß sich zu beherrschen und diese augenscheinliche neue Frechheit des Dienstmädchens gar nicht zu bemerken. Wo die nur all dieses alte Zeug herhatte? Und mit einem Ruck flog auch das Eisenzeug zum Fenster hinaus in die Müllgrube, die gleich in der Nähe lag.

Alfred war sehr erstaunt, doch da Laura sehr ungnädig war, so weihte sie ihn weiter gar nicht in die unangenehme Angelegenheit ein, zumal allmählich ein dunkles Gefühl in ihr auftauchte, daß sie dem Dienstmädchen vielleicht doch unrecht getan haben könnte und hier vielleicht irgend etwas anderes spielte, was ihr nur noch dunkel und unerklärlich war. Es wurde daher stillschweigend zu Mittag gegessen.

Das Dienstmädchen erschien und deckte den Tisch 351 ab. Als es die guten Löffel und Messer gewahrte, welche die Herrin unterdessen aufgelegt hatte, und das alte rostige Zeug vermißte, welches die Dame ihr befohlen hatte aufzulegen, machte sie ein ganz perplexes Gesicht. Sie verstand nun vollends nicht diese ganz unheimliche Situation. Hatte die Dame sie vielleicht ärgern wollen, daß sie ihre verdorbenen Löffelstücke, mit denen kein Bettelmann mehr hätte essen mögen, durch ihre Hände geben ließ!

Ein kurzes, herausgestoßenes Hä! und ein Achselzucken war alles, was sie zur Entgegnung darauf hatte.

Es wurde von seiten Lauras mit einem gleichen überlegenen Achselzucken beantwortet. Aber irgend ein Wort noch miteinander zu wechseln, dazu war man sich beiderseits zu gut. Man hatte sich ja gegenseitig gekündigt. –

Am Nachmittage saß Alfred äußerst fleißig an seinem Schreibtisch. Laura bemerkte, daß irgend ein neues Bestreben über ihn gekommen sein müßte. Sie war sehr gespannt darauf, was das sein könnte.

Nach dem Abendessen druckste er etwas herum. Dann sagte er verlegen: »Laura, darf ich dir vielleicht heute mein neuestes Gedicht vorlesen?«

Sie wurde ganz blaß vor Erregung. »Ach, bitte!« sagte sie mit einem plötzlichen Hoffnungsausdruck.

Er las: 352

Wir tappen ewig durch das Dunkel,
Wir sehn selbst nicht das Sterngefunkel,
Wenn Wolkennacht den Mond verhüllt,
Unsicher ist der Pfad des Lebens
Und alle Ziele unsres Strebens
Sie werden oftmals nicht erfüllt.

Das Gedicht hatte noch mehrere Strophen. Es gefiel Laura ausgezeichnet. Sie sagte rasch:

»Alfred, das müssen wir drucken lassen!«

Beim Zubettgehen erhielt er zum erstenmal seit längerer Zeit wieder einen feurigen Kuß, er fühlte es. Laura wollte noch etwas aufbleiben. Er war müde und ging daher voran. Als sie das Schlafgemach betrat, schlief er schon. Sie sah sich wohlwollend den Schläfer an. Es konnte doch noch etwas aus ihm werden.

Sie zog sich aus und legte allmählich ihre Kkeidungsstücke ab. Zuletzt setzte sie sich auf den Bettrand und löste ihre Strumpfbänder. Sie war eben im Begriff, sie auf ihr Nachtschränkchen neben sich zu legen, als sie auf einmal diese beiden Bänder gegen das Licht zu halten sich veranlaßt fühlte. Es waren schöne, seidene Bänder mit netten Seidenfransen, nur daß sie an mehreren Stellen ausgerissen waren. Auch die Schnallen waren etwas abgerieben. Aber das waren doch nicht die ihrigen!

Sie betrachtete sie näher. Recht nett! Sie mußten sogar einer sehr feinen Dame gehört haben, wenn sie auch etwas theatermäßig aussahen. Solche 353 trugen ja wohl auch die Damen in den Café chantants von Berlin. Wie kam sie zu diesen Strumpfbändern? Und sie besann sich doch, daß sie am Morgen sie in aller Eile von ihrem Nachttisch weggenommen hatte.

Sie riß ihren Kasten auf. Unbeschädigt lagen die ihrigen darin. Ein schrecklicher Gedanke stieg in ihr auf.

Sollte ihr Mann –?! Sollte er solche Andenken besitzen? Und sollte er aus Versehen –?!

Sie warf einen scheuen Blick auf den Schläfer. Dann aber wickelte sie die Bänder zusammen und schloß sie mit einem Ausdruck in ihr Kästchen ein, welcher für die Zukunft die allerbedenklichsten Verwicklungen für Herrn Alfred Stern befürchten ließ.

»Und ich mußte diese Bänder selber tragen!« sagte Laura ganz laut mit einem hohnvollen Lächeln, als sie in ihr Bett stieg. »Aber warten Sie, mein Herr, wir werden Sie zu beobachten wissen!« –

 


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