Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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Im Müll.

Erstes Kapitel.

An einem schönen Frühlingsnachmittage wanderte ein junges, bürgerliches Ehepaar durch den anmutigsten westlichen Vorort von Berlin. Die Frau, eine stattliche Blondine, schritt mit einer gewissen soldatenhaften, strammen Haltung am Arme ihres Mannes einher. Auch dieser hatte einen festen Schritt, doch hielt er die eine Schulter leicht emporgezogen und den Kopf, vor dessen Augen eine goldene Brille saß, etwas zur Seite geneigt. Beide lauschten auf das Gezwitscher der Finken und Meisen, das aus allen Gärten herausmusizierte, und wanderten augenscheinlich in leichter, beflügelter Stimmung ihrem eigenen Heim zu.

Auf einmal erblickten sie auf einem Rundplatz mit öffentlichen Anlagen eine Versammlung von schwarzgekleideten Männern. Hier wohnten kleine Bürgersleute, Handwerker, Gewerbtreibende. Die schwarzen Männer waren zum Teil in langärmligen Fräcken oder weitsitzenden, schwarzen Gehröcken und standen ernst beisammen. Etwas abseits vier Mann mit großen Trompeten und Posaunen. Einer, 254 dessen Zylinder etwas schief auf dem Kopfe saß, trug eine große Fahne im Ledergurt vor sich. Die Fahne war mit einem langen, schwarzen Flor verhangen. Alle Männer so ziemlich hatten auf den Brustumschlägen ihrer Röcke und Fräcke militärische Medaillen und sonstige Abzeichen. Da hier augenscheinlich ein Begräbnis stattfinden sollte, konnte man sich wundern, daß viele von den Männern rauchten. Einige hielten sogar Pfeifen im Munde.

Das junge Ehepaar blieb stehen, um zu sehen, was es gäbe. Kinder und Dienstboten hatten sich versammelt. Man wartete auf den Augenblick, wo der Tote in seinem Sarge aus dem Hause herausgetragen werden sollte.

»Wer sind denn die Herren? Es ist wohl ein Verein?« fragte die junge Frau ein kleines Dienstmädchen, das gerade vor ihr stand.

»Jawohl. Es ist ein Berliner Rauchverein und der Verstorbene war der stärkste Raucher von allen.«

In diesem Augenblicke drehten sich alle Köpfe nach links, denn die Totenbettleute brachten den schwarzverhangenen Sarg zur Haustür herausgetragen und schoben ihn in den Bestattungswagen. Der Leichenzug ordnete sich, das Musikkorps stellte sich voran, dann kam der Mann mit der Fahne, dann der Wagen und hinter ihm die Rauchbrüder. An dem Geruch der Pfeifen, welche einzelne rauchten und jetzt ausklopften, bemerkte man auf mehrere Schritte Entfernung, daß die in diesem Verein beliebten Tabaksorten von sehr ätzender 255 Beschaffenheit waren. Sie sind fast alle mit der Ringbahn von Berlin und Rixdorf herausgekommen, flüsterte das Dienstmädchen der jungen Frau mit dem Ausdrucke größter Hochachtung vor der Feierlichkeit der Umstände zu. Er ist ja wohl auch an Herzlähmung infolge von vielen Rauchens gestorben, aber der Präsident hat vorhin, oben in der Wohnung am offenen Sarge gesagt, daß sein Andenken unvergänglich sein würde und der ganze Verein beschlossen habe, ihm die letzte Ehre zu erweisen, weil er in allen Bestrebungen des Clubs, der ihm seine Blüte verdankt, vorangeleuchtet habe.

Tiefer Ernst war auf den Gesichtern all der Männer ausgeprägt, die sich jetzt in Bewegung setzten, um das verstorbene Vorbild ihrer Bestrebungen zur ewigen Ruhe zu geleiten, wo keine Rauchwolke mehr gen Himmel steigt und kein schwedisches Streichhölzchen mehr versagt. Man sah einem jeden an, daß auch er fühlte, einmal das Zeitliche segnen zu müssen, nachdem der stärkste Raucher des Vereins nicht dem allgemeinen Menschenschicksal hatte entgehen können. Die Musik begann einen Trauermarsch zu blasen und der schwarze Fahnenflor blähte sich leise im Frühlingswinde.

»Und es ist doch etwas Bedeutendes um einen jeden Menschen, der in dieser Weise die Ehrungen seiner Mitmenschen erfährt,« sagte nach einer stummen Weile die junge Frau, indem sie den Arm ihres Mannes losließ und mit einem starren Ausdrucke dem abziehenden Leichenzuge nachschaute. 256

»Aber Laura!« warf der junge Ehegatte ein. »Es ist ja ein trauriger Augenblick für die Angehörigen der braven Veteranen, aber, unter uns, denn doch einigermaßen komisch. Wenn die deutsche Vereinsmeierei schon so weit geht . . .«

»Vereine sind die Leitern, auf denen ein richtiger Mann zu Ansehen, Einfluß und Ruhm emporsteigt. Jeder natürlich in seinem Kreise. Ich will natürlich nicht, daß du Vorstand in einem Rauchklub wirst.«

»Und daß sie mich dann in Korpore begraben und um meinetwillen eigens von Berlin und Rixdorf hier herausfahren!« warf der junge Mann ein, der etwa dreißig Jahre zählen mochte. »Es ist immer wieder das alte Lied!«

»Ja, aber warum sind wir denn überhaupt nach Berlin gezogen, warum hast du denn überhaupt diese Stellung als Mädchenoberlehrer angenommen, wenn du gar keinen Ehrgeiz hast? Man geht doch nicht nach Berlin, um unbekannt und ruhmlos einer unter allen zu sein!«

Der Leichenzug hatte sich schon ein beträchtliches Stück von dem jungen Ehepaar entfernt. Jetzt bog er unten nach dem alten Hauptplatze des ursprünglichen, märkischen Dorfes ab, wo die großen, alten Linden und Eichen stehen, die verfallene Kirche und der Kirchhof mit den bemoosten Steinmauern. Die junge Blondine sah mit einem gewissen Ausdruck von stillem Neid den berühmten toten Raucher mit seinem Ruhmesgeleite um die Ecke verschwinden. 257

Eine Weile gingen die jungen Eheleute stumm nebeneinander ihrer Wohnung zu unter doppelten Reihen von eben ergrünenden Rüstern.

»Ich begreife nicht, wie dir auf die Dauer diese Tätigkeit in der Mädchenschule genügen kann!« warf nach einer Weile die junge Frau wieder hin.

»Aber ich fühle mich ja ganz wohl dabei,« entgegnete der Mann etwas schüchtern. »Ich habe nun einmal eine Vorliebe zum selbsterwählten Berufe; ich unterrichte gern und niemand lieber als diese hellen, geweckten, munteren Mädels hierzulande. Ob ich berühmt werde oder nicht, was verschlägt das mir? Mein einziger Ehrgeiz wäre, daß statt eines Haufens solcher Raucher hinter meinem Sarge einmal eine Schar von dankbaren Mädchen und Frauen einherginge, die sich gern ihres Lehrers erinnern. Und dann wollte ich meinetwegen auf ewig vergessen sein.«

»Sehr rührend, aber doch auch ein wenig verdächtig. Wenn es nur nicht ab und zu etwa so eine geweckte Schülerin deinem Herzen antut. Denn welchem Manne kann man noch trauen!«

Sie sagte das in einem scherzhaften Tone, aber man merkte doch, daß so etwas wie eine leise Eifersucht herausklang. Schon daß ihr Mann solch eine Vorliebe für Mädchenunterricht zeigte, schien ihr nicht recht ruhmeswürdig. Wenn es wenigstens stramme Jungen gewesen wären! Es nagte an ihr, daß die geistige Kraft, die sie bereits als Braut 258 in ihrem Manne bemerkt zu haben glaubte, für nichts weiter dienen sollte, als zur Unterrichtung von Mädchen und Halbbackfischen, wie sie in den höheren Töchterschulen der Vororte heranblühten.

Im Weitergehen der Gatten ging aus ihren Gesprächen hervor, daß sie nun schon über ein Jahr verheiratet waren. Eine reiche Erbin, Tochter eines Eisenwarenfabrikanten, den man sehr hoch einschätzte, hatte sie den Oberlehrer geheiratet, der zwar eine auskömmliche Stellung, aber sonstige Mittel nicht besaß. Aber sie hatte sich leidenschaftlich in den Mann verliebt, die Heirat durchgesetzt, zumal Alfred Stern nicht minder herzlich von der schönen, großgewachsenen Blondine gefesselt worden war. Der Brautstand war kurz und leidenschaftlich gewesen. Da die Mittel der reichen Erbin es erlaubten, daß man ganz nach Gefallen leben konnte, so wurde beschlossen, in einem Vorort eine hübsche Villa zu kaufen, wo man sorglos sich sein Nest einzurichten gedachte. Man hatte Berlin mit all seinen Anregungen und Genüssen, seinen Möglichkeiten, dort eine Rolle zu spielen, zur Verfügung, konnte alle zehn Minuten mit dem Eisenbahnzuge nach der Reichshauptstadt hineinfahren und lebte doch idyllisch inmitten reichen Obstsegens, schmucker Gärten und Spaziergänge. Da ein Mann aber seine regelmäßige Beschäftigung nicht aufgibt, so hatte Alfred seine alte Schulstellung gekündigt, trotz der großen Freigebigkeit des Schwiegervaters, um an einer höheren 259 Töchterschule Sprachen und Litteratur zu lehren in einer angenehmern Umgebung.

Dies alles hatte die junge Frau nur als Vorspiel betrachtet, denn sie hatte sich schon als Braut in der Einbildung befestigt, in ihrem Geliebten lägen große, verborgene Talente. Er zeichnete hübsch, musizierte, hatte der Braut auch öfters einen anmutigen Liebesreim geschmiedet, sodaß die heimliche Hoffnung erwachte, er werde in einem von diesen Gebieten sehr bald einen Namen erringen können, wenn sie ihn nur dazu anregte. Sie behauptete, es müsse ein großer Dramatiker in ihm stecken, wovon er indessen nichts wissen wollte. Ihrem Vater hatte sie oft genug mit leiser Prahlerei von den Talenten des Bräutigams vorgeschwärmt, und, auf die berühmte, glänzende Zukunft seiner Tochter hin als Frau eines namhaften Mannes, hatte der Papa bei der Aussteuer und Ausrüstung des jungen Paares ganz besonders tief in die Tasche gegriffen.

Die Flitterwochen waren fröhlich und glücklich vergangen. Auch die ersten weiteren Ehemonate. Als aber nach einem halben Jahre der brave Mädchenpädagog noch gar keine Anstalten machte, seine verborgenen Talente weiter zu entwickeln, ja, eher aufhörte, jene künstlerischen Nebenbeschäftigungen zu üben, begann Laura unruhig zu werden. Sie mahnte ihn öfters, daß er doch etwas tun müsse, um für das Bekanntwerden seines Namens zu sorgen. Man war durch gesellschaftliche 260 Verbindungen in Kreise gekommen, wo Schriftsteller und Künstler mit ihren Frauen verkehrten, auch namhafte Parlamentarier, und Laura fühlte sich bereits ein wenig zurückgesetzt, wenn diese Damen von ihren Männern wie von Leuten sprachen, deren Wert zu kennen jedermanns Pflicht ist. Und da der Pädagog bisher unempfindlich geblieben war, wohl aber bei Tisch statt dessen es liebte, für die Geistesanlagen dieser und jener Schülerin zu schwärmen und allerhand hübsche Züge aus dem Mädchenleben zum besten zu geben, so begann Frau Laura grillig zu werden und jeden Anlaß zu benutzen, um den Mann an seinen höheren Beruf zu mahnen. Und nun hatte sogar das tote Rauchvereinsvorbild dazu herhalten müssen. –

Sie näherten sich ihrem Häuschen. Sie waren in einen Teil des Vororts eingebogen, wo man plötzlich in ein Märchenland oder ein mittelalterliches Nest verschlagen schien. Denn da kreuzten sich Straßen, wo inmitten blühender Gärtchen alte Ritterburgen mit Erkern und Zinnen, Türmen und Spitzbogen stehen. Da sind hochgiebelige Alt-Nürnberger Häuser mit eisernen Hähnen auf den Giebeln, mit Butzenscheibenfenstern und heimlichen, lauschigen Ecken. Tief herablaufende Dächer, wie auf Scheuern, ahmen westfälische, norwegische und andere Bauernhäuser nach, und betritt man diese Straßen, so ist sogleich die Einbildungskraft wie verzaubert, denn man lebt mit einem Male nicht mehr in der nüchternen Zeit des neuen Berlins, 261 sondern ist wie mit einem Zaubermantel weggetragen in Nürnberg, Rothenburg o. d. Tauber oder in einem Idyllenlande, wie man es auf von Schwinds Zeichnungen und Bildern sieht.

»Ach, wie glücklich könnte man sein!« sagte Frau Laura, als sie sich in dieser Umgebung ihrem eisernen Gartentore näherten, das in vielverbogenen, schwarzen Eisenarabesken gar stattlich ausgeführt war. Und ein leiser Seufzer begleitete dieses halbunterdrückte Wort. –

Alfred zog die Klingel. Die Frau erschrak, denn der Verbindungsdraht war ziemlich heftig gerissen worden. Es läutete drinnen im Hause sehr laut.

Merkwürdigerweise aber kam kein Mensch, um zu öffnen.

»Wo bleibt denn die Elise?« fragte der Oberlehrer. »Sie muß doch zu Hause sein.«

Laura nickte stumm. Das laute Klingeln ihres Mannes hatte sie verletzt. Als nach einem zweiten Klingelzuge abermals niemand kam und kein Dienstbote sichtbar wurde, bequemte sich der Oberlehrer, in seine Tasche zu fahren und den Gartenschlüssel zu suchen.

Das Haus schien wie ausgestorben, als sie nach der Öffnung in den Vorsaal eintraten.

»Es ist wahrhaftig niemand da. Ausgeflogen. Wer kann sich noch auf diese Dienstmädchen verlassen!« sagte die junge Frau mit einem beleidigten Ausdrucke, als sei der Oberlehrer selbst das enthuschte Dienstmädchen, dem man Vorwürfe macht. 262

»Vielleicht ist sie doch in ihrem Zimmer, macht Toilette und hat nichts gehört. Ich will doch hinuntersehen.«

Er stieg, als wäre er von einer plötzlichen Vermutung ergriffen, die Treppe ins Erdgeschoß hinab, wo Küche, Weinkeller und die Dienstmädchenstuben sich befinden. Unwillkürlich ging er etwas leiser, während Laura oben auf der Treppe wartete und im stillen ein leises Mißtrauen faßte über das Interesse, welches ihr Mann an den Tag legte über das Schicksal des hübschen Dienstmädchens. –

Unten pochte der Oberlehrer stark an der Tür des Mädchengemachs. Er glaubte etwas wie einen ganz leisen unterdrückten Schreckensruf zu hören. Oder war es nur eine Ohrentäuschung? Dann war alles wieder still.

Er pochte stärker und rief: »Elise! Sind Sie da?!«

Da tönte es von drinnen: »Jawohl, gleich!«

»Was machen Sie denn da? Warum haben Sie nicht geöffnet?!«

Von drinnen: »Ich? Ich habe nichts gehört. Ich mache mir grade die Haare! Ich komme gleich!«

Der Mädchenlehrer stutzte.

»Die Haare?« fragte er sich. »Nachmittags um vier Uhr?« Das war denn doch verdächtig.

Mit lautschallendem Schritt ging er auf dem Steinfließe des Erdgeschosses davon und betonte sozusagen jeden Schritt besonders. Er betrat die erste Stufe der Holztreppe, daß es dröhnte, dann 263 hielt er still und lauschte. Und in diesem Augenblicke war es ihm, als höre er drinnen im Mädchenzimmer einen raschen Flüsterlaut und ein kurzes Knacken der Diele.

Eine Weile wartete er geduldig. Er winkte seiner Frau hinauf, sich still zu verhalten. Diese stand etwas erbleicht da und harrte starr der weitern Entwickelung der Angelegenheit.

Nachdem drinnen die Türe sich nicht geöffnet hatte, schritt der Oberlehrer nach einer Weile wieder mit dröhnendem Schritte zur Tür zurück, als käme er noch einmal von oben. Er pochte stärker an die Tür.

»Sind Sie noch nicht fertig? Die gnädige Frau wünscht Sie sofort zu sprechen. Machen Sie sogleich auf!«

Melodisch erklang drinnen die Stimme: »Aber im Augenblick Herr Stern! Ich muß nur noch eine Nadel ins Haar stecken!«

Ein kurzes Knacken drinnen, eine stumme, atemlose Pause, dann öffnete sich die Tür und der Blondkopf eines rosigen Dienstmädchens mit einer kleinen Stumpfnase schob sich durch die Türspalte.

»Da bin ich schon, gnädiger Herr!« sagte sie ganz unbefangen, indem sie die Tür sehr weit aufmachte und etwas zur Seite trat, sodaß er die ganze Stube übersehen konnte.

Alles war in sauberster Ordnung, das Bett hübsch überzogen und mit der geblümten Decke belegt, welche Frau Laura am letzten Weihnachten 264 dem Mädchen geschenkt hatte. Auf dem Tische lag eine Handarbeit, mit den Sticknadeln dabei, und davor stand, etwas zur Seite gerückt, ein Stuhl. Ein anderer Stuhl aber stand diesem gerade gegenüber, gleichfalls etwas schief dazu gestellt. Elise sah den Herrn so unbefangen und heiter an, als freue sie sich, ihn auch wieder einmal zu sehen nach langer Abwesenheit auf Reisen in fernen Ländern, obwohl er doch nur ein paar Stündchen mit seiner Frau spazieren gewesen war.

Nun müßte der Oberlehrer kein Mädchenpädagog gewesen sein, wenn ihm nicht erstens dieser freudige Blick seines Hausmädchens aufgefallen wäre. Zweitens erregte das weite Öffnen der Tür seine Aufmerksamkeit. Er hatte durch den vielen Verkehr mit Mädchen ein fast weibliches Feingefühl für weibliche Instinkte. Er sagte sich in seiner Mädchenseele, daß, wenn er ein Dienstmädchen in diesem Augenblick wäre, jedenfalls er nicht die Tür seines Schlafgemachs vor dem eigenen Herrn so angelweit aufgemacht hätte. Er würde sie nur mit einer gewissen Zurückhaltung etwa halb aufgemacht haben.

Drittens lenkte er mit weiblicher Unwillkürlichkeit seinen Blick nach dem Waschspiegel. Richtig, dort lag der Kamm sauber und ordentlich da. Aber merkwürdigerweise hing nicht ein einziges Härchen darin. Und eigentlich hätte doch ein ganzes, blondes Büschel darin sein müssen. Für solche blonde Haare besaß er eine Vorliebe, denn auch von seiner eigenen 265 blonden Frau kannte er das und er liebte es in besonders zärtlichen Anwandlungen, aus dem Kamm seiner Frau die blonden Büschel selbst herauszuziehen.

Ein Blick auf die Haartracht des Dienstmädchens also und ein weiterer Blick auf die beiden Stühle wurde der Anlaß, daß er nun doch die Mädchenstube, die ihm so weit geöffnet wurde, betrat.

»Gehen Sie nur immer zu meiner Frau herauf,« sagte er gelassen, während es ihm in Erwartung irgend einer weiteren Entdeckung doch ganz wundersam über die Kopfhaut lief, als wolle sich sein Haar sträuben.

Und als er ein paar Schritte in die Stube hineingegangen war und sich umdrehte, sah er das Dienstmädchen wie angewurzelt draußen auf dem Korridor stehen und ihm mit starren Augen nachblicken.

»Elise,« sagte er plötzlich, »Sie haben doch nicht etwa einen Schatz!«

»O, was denken Sie, mein Herr,« erwiderte Elise mit dem Tone sittlicher Entrüstung.

Der Oberlehrer faßte neuen Mut und durchschritt die Stube vollständig bis zu dem Erdgeschoßfenster hin, das mit hübschen Vorhängen verhangen war. Merkwürdig, diese Vorhänge waren nicht gerafft, sondern hingen lang über die Fensterscheiben herab, sodaß man von draußen nicht ins Zimmer herabsehen konnte. Wieder gings dem 266 Oberlehrer wie eine Gänsehaut unter den Haarwurzeln seines Kopfes hin.

Dabei wendete er langsam den Kopf gegen die Zimmerecke, wo der Mädchenschrank mit den Kleidern darin steht. Und da – da stand zwischen Schrank und Zimmerecke ein dunkler Gegenstand. Der Gegenstand hatte eine Mütze auf, eine Lodenjacke und lange Hosen an, die in die Stiefelschäfte gesteckt waren. Der Gegenstand aber stand so an der Wand, daß er mit dem Rücken gegen den Oberlehrer gerichtet war, während das augenscheinlich damit verbundene Angesicht in die Ecke blickte. Auch drückte der Gegenstand sich ziemlich fest an die Wand.

Herr Alfred hatte auf diese Weise Muße, sich diesen Gegenstand eine Weile ruhig zu betrachten, der wie ein Vogel Strauß keine Ahnung hatte, daß er schon entdeckt war. Endlich sagte der Oberlehrer, indem er gelassen beide Hände in die Hosentaschen steckte: »Also, da wären wir ja. Kommen Sie mal heraus aus der Ecke, junger Romeo. Aber bitte, etwas beschleunigt.«

Langsam hatte sich der Kopf des Gegenstandes jetzt herumgedreht und ein fremdartiges Menschengesicht, das augenscheinlich nur einem Polen gehören konnte, ja, eher etwas finnisch aussah, wendete sich mit dem Ausdruck peinlichster Verlegenheit dem Hausherrn zu. Der Mann sagte kein Wort, sondern zuckte nur bedauernd mit den 267 Achseln, wie, als ob er sagen wollte, er hätte es doch nicht ändern können.

Jetzt wurde der Mädchenerzieher wild.

»Hinaus mit Ihnen!« rief er donnernd. »Und wehe Ihnen, wenn Sie je wieder mein Haus betreten! Mütze herunter! Marsch!«

Der Romeo in der Ecke zog demütig seine Mütze ab, verneigte sich mehrmals furchtsam und ging wie begossen, ohne der blonden Elise auch nur einen Blick zu widmen, an Frau Laura vorüber, die beängstigt durch den Lärm auch herabgekommen war. Diese sah mit einem Angstblick dem Polen nach.

Dann aber wandte sie sich an das Mädchen, das feuerrot geworden war, und sagte:

»Sie packen sofort Ihre Sachen. Binnen einer halben Stunde verlassen Sie das Haus. Liederliche Mädchen kann ich nicht brauchen!«

Man sah, daß die blonde Elise erbleichte. Aber sie brachte kein Wort hervor. Um so heftiger schloß die Hausherrin: »Sogleich, sage ich Ihnen, packen Sie Ihre Sachen, liederliches Ding!«

Der Mädchenerzieher hatte unterdessen noch einmal einen Blick über das ganze Zimmer geworfen. Dann sagte er zu seiner Frau:

»Die Elise ist ein ordentliches Mädchen und soll es bleiben. Melden Sie sich in einer halben Stunde bei mir, Elise, und richten Sie unterdessen den Tisch an!« 268

»Alfred, ich verstehe dich nicht! Du nimmst so ein Wesen auch noch in Schutz!« warf Laura ein.

»Du kennst das weibliche Geschlecht nicht, liebe Frau!« sagte gelassen der Oberlehrer, als er mit seiner Gattin die Treppe hinaufstieg. »Ich werde diese Angelegenheit selbst ordnen.«

Da der Mann so bestimmt sprach, so schwieg die junge Gattin und wartete mit Spannung, was er eigentlich vorhatte. Sonderbar war es freilich, daß er die Partei eines weiblichen Wesens nahm, das er soeben mit seinem Liebhaber ertappt hatte. Infolgedessen wechselte sie zunächst kein weiteres Wort mit ihm. –

Nach einer halben Stunde, während die Gatten beim Nachtisch saßen – denn sie speisten am späten Nachmittag – trat die Elise mit einem tiefen Atemzuge ein, zupfte an ihrer weißen Schürze und blieb, sich meldend, an der Tür stehen.

»Ich habe eben meiner Frau auseinandergesetzt, Elise, daß Sie ein durchaus anständiges Mädchen sind. Sie haben nur eine Unvorsichtigkeit begangen. Sie haben zusammen am Tische gesessen und sich anständig unterhalten, wobei Sie gehäkelt haben. Aber Sie hätten ihn nicht hinter den Schrank stellen, sondern offen vor allen Leuten in der Küche empfangen sollen. Denn ich nehme natürlich an, daß er Sie heiraten will.«

»Ach ja,« sagte Elise, schüchtern, »er hat sich's schon ein paarmal merken lassen –«

»Bloß merken lassen?! Wir müssen diese 269 Angelegenheit ordnen. Sagen Sie ihm, er soll mir noch heute oder morgen in aller Form einen Besuch machen und sich als Ihr Bräutigam vorstellen. Das weitere werde ich dann mit ihm besprechen. Am Heiraten kann ich und meine Frau Sie nicht hindern. Aber sehen Sie, Elise, ein Mädchen muß vorsichtig sein. Kommt er zu mir und macht mir den Besuch, so werden Sie schon daran sehen, ob es ihm Ernst ist. Denn wenn es ihm nicht Ernst ist, so kommt er sicher nicht zu mir. Das müssen Sie doch als Frauenzimmer begreifen. Wenn ich ein Frauenzimmer wäre, ich würde sicher diese Prüfung vornehmen.«

Frau Laura schüttelte den Kopf, Elise aber knixte und, da ihrer Frauenklugheit die Ansicht des pädagogischen Hausherrn außerordentlich einleuchtete, so machte sie ein ganz verschmitztes Gesicht und sagte rasch und errötend: »Ach ja, gnädiger Herr. Ich will's ihm sagen.«

Damit huschte sie zur Tür hinaus.

»Ich werde eine tüchtige Frau aus ihr machen!« sagte der Pädagog, indem er seiner Frau die Hand streichelte.

»Wenn das dein einziger Ehrgeiz ist!« warf sie pikiert ein und entzog ihm ihre Hand.

Am nächsten Vormittag, der ein Sonntag war, pünktlich um zwölf Uhr klingelte es und das Mädchen meldete, der polnische Joseph sei da.

»Führen Sie ihn in den Salon!« befahl der Hausherr. 270

»In meinen Salon?!« konnte sich Laura nicht enthalten zu sagen. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß sie die Unzartheit beging, darauf anzuspielen, daß sie doch die Besitzerin und die reiche Erbin war. Sie erschrak fast selbst darüber, daß es ihr hatte entschlüpfen können.

»Wenn du mir für eine Minute deinen Salon leihweise überlassen willst,« sagte Alfred fast erbleichend und ging hinaus.

In den Salon trat schüchtern der polnische Joseph ein. Er hatte einen schwarzen Rock und schwarze Hosen an, sogar Handschuhe, und sah recht anständig aus. Er verbeugte sich stumm.

Der Hausherr, der wieder seine Ruhe gewonnen hatte, bot ihm einen Sessel an und empfing ihn mit Absicht wie einen feinen Herrn von seinesgleichen.

»Sie haben also die Absicht, unsere Elise zu heiraten und wollen sich mir als ihr Bräutigam vorstellen. Das freut mich. Die Elise ist ein braves Mädchen. Was sind Sie denn, Herr Joseph.«

»Müllräumer, Herr.«

»Ja, können Sie denn heiraten?«

»Sobald wie möglich, Herr. Hoffe bald so viel gespart zu haben, daß ich mir Pferd kaufen kann. Dann selbständig. Dann Elise heiraten. Verdiene schon jetzt genug.«

»Also Aschenräumer! Eine staubige Beschäftigung, was?« 271

»Macht nix, Herr. Wenn nur die Elise haben kann.«

»Na, ich will Ihrem Glücke nicht hinderlich sein. Aber, Herr Joseph, eine Bedingung muß ich machen. Sie müssen den Verkehr regeln mit Ihrer Braut. Bedenken Sie, daß Sie doch auf den guten Ruf Ihrer Braut selbst sehen müssen, da Sie sich als Müllräumer doch auch zu den bessern Ständen rechnen. Sie müssen mir versprechen, die Kammer Ihrer Braut nicht mehr zu betreten. Dafür gebe ich Ihnen hiermit die Erlaubnis, daß Sie jeden Donnerstag sie in der Küche besuchen können. Und wenn Sie mir das versprechen und halten, werden Sie gewiß einmal recht tüchtige Eheleute. Unterdessen kann die Elise ruhig bis zur Hochzeit bei uns im Dienst bleiben.«

»Sehr gütiger Herr, sehr gütiger Herr!« sagte der Pole gerührt. »Verspreche Ihnen. Bin sehr beruhigt, meine Braut in so guten Händen – sehr beruhigt.«

Als der Bursche sein Angesicht erhob, stand ihm eine helle Träne im Auge. Der junge Hausherr reichte ihm seine Hand und sagte: »Na, dann viel Glück, Herr Joseph. Und kommen Sie nur ruhig jeden Donnerstag in die Küche.«

Der Pole machte ein paar linkische Bücklinge und verabschiedete sich dankbar. Kurze Zeit darauf fand der Oberlehrer auf seinem Schreibtisch einen wunderschönen Blumenstrauß von den ersten 272 Frühlingsblüten, dazu aber auch schöne Gewächshausrosen.

Er klingelte nach dem Dienstmädchen. Und da gestand die Elise, der Joseph habe diesen Strauß für den Herrn gebracht, denn des Josephs Bruder sei Gärtner, und weil der Herr so freundlich sei, so habe sich der Joseph mit diesem Strauße bedanken wollen.

»Siehst du,« sagte Alfred, als er mit seiner Frau allein war, »das ist doch auch ein Ruhm, wenn man durch richtige Frauenpädagogik solche freundliche Genugtuung erhält. Auf diesen Joseph kann ich mich nun verlassen. Er wird sein Mädchen und mein Haus besser hüten, als ich selbst könnte.«

»Hoffen wir, daß du dich nicht täuschest. Merkwürdigerweise muß ich dir mitteilen, daß ich die Elise eben beim Besitze dreier silberner Löffel überraschte, die sie in ihre Kommode einschließen wollte. Sie sagte, sie hätte sie von diesem Joseph erhalten. Als ich fragte, wo der sie her habe, wurde sie rot und meinte, das könne sie nicht sagen. Ich habe sofort mein Silberzeug nachgesehen, glücklicherweise stimmt alles. Aber ich halte dein ganzes Beginnen für sehr gewagt. Wer weiß, in wessen Schutz du da mein Silberzeug und meine Habseligkeiten gegeben hast!« 273

 


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