Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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Fünftes Kapitel.

In einer reizenden, rotfarbigen Backsteinvilla, die außen ganz mit grünem Efeu bewachsen war, saß Alfred Stern und hielt Schulunterricht. Vor ihm saßen seine Mädchen sittsam nebeneinander auf den Klassenbänken und blickten mit ihren hellen, 354 geweckten Gesichtern zu dem Meister auf, der auf dem Katheder sich niedergelassen hatte, einen Stoß von Heften vor sich auf dem Pult.

Die Sonnenstrahlen fielen von der Seite durch die Efeuranken, die draußen vor dem Fenster schwankten, ins Schulzimmer und durchleuchteten die Haare der zahlreichen, kleinen Blondinen. Einige hatten nur kurze, noch unentwickelte Zöpfe, sogenannte Rattenschwänze, aber andere trugen nach englischer Weise schon lange, offene Haare und hatten sie mit bunten Schleifen aufgebunden, die nun im Sonnenstrahle, der mit dem Efeuschatten auf die holden Gesichtchen fiel, gar farbig und seidenglänzend aufleuchteten. Einige trugen saubere Schulschürzen über ihren Kleidchen, und weil Sommerszeit war, hatten sie alle weiße und rosaleichte Flügelkleidchen an. Die eine stützte ihr Gesicht mit dem Arm in die Hände und schaute ihrem Lehrer gedankenvoll ins Gesicht, die andere saß kerzengerade da und legte ihre Hände vor sich auf die Schultafel. Und indem der Lehrer diese Gesichterchen von oben überblickte mit ihren dunkeln und hellen Haarschleiern und ihren natürlichen Lockenköpfen, in den Schmetterlingskleidchen mit den weiten Krausen und Ärmelfittigen, war es ihm ganz, als hätte er eine Versammlung von heranwachsenden Engelsmädchen vor sich, die soeben mit den Sonnenstrahlen vom Himmel herniedergeflattert waren, um sich bei ihm über die Verhältnisse auf dieser Erde im allgemeinen und 355 in der Reichshauptstadt Berlin im besonderen nähern Aufschluß zu holen.

Diese selben Mädchen, die bei anderen Lehrerinnen und Lehrern sehr ausgelassen und übermütig sein konnten, saßen doch in Gegenwart ihres jungen Lieblingslehrers musterhaft ruhig da, denn jede Stunde brachte einen neuen Einfall, ein neues Sinnwort dieses trefflichen Mädchenkenners, mit dem er ihnen den Beruf der Frau und die Aufgaben des Lebens im Hause und in der Welt interessant zu machen wußte. Er aber, indem der gütige Sonnenstrahl, ins Grün des reifenden Sommerlebens draußen getaucht, über die bunten Schmetterlingsgestalten der werdenden Menschenkinder vor ihm fiel, dachte an das schöne Wort des Weisen: »Lasset die Kindlein, und hindert sie nicht, zu mir zu kommen.«

Im Nachbarhofe hatte ein Leiermann seine musikalische Familienunterhaltung begonnen, denn es war Leiertag, an welchem in ganz Berlin und auch in den Vororten jeder wandernde Musikhausierer seine Drehorgel rühren durfte. Sonst war es draußen ganz still auf der Straße. Kein Wagenlärm, kein Weltgetöse kam hier heran. Nur die Sonnenstrahlen wanderten draußen lautlos unter den Bäumen hin und schienen auf einmal stehen zu bleiben, um auch zuzuhören bei dem wehmütig-weichen Klange des Leierkastens. Auch in der Schulstube wurde es still. Eine Weile horchten sie alle, der Lehrer und die Schülerinnen. Ein Lied, 356 das weither stammte aus dem sonnigen Süden, wo die Orangen am blauen Meere reifen und sonnige Inseln in weiten Buchten schlummern, das Lied von der Santa Lucia, drang mit den Sonnenstrahlen ins Lernheim der Mädchen. Da war es allen einen Augenblick, als würde auch der blaßblaue Himmel über dem märkischen Sande draußen, von dem sie die sandverschüttete Gletschermoräne eben durch ihren Lehrer erkennen gelernt hatten, dunkelblauer und farbiger. Wie eine Ahnung von Schönerem, weit Entferntem kam es über alle. Keines wußte auszusprechen, was es fühlte und was ihm fehlte, aber daß irgend etwas fehlte in der geliebten Heimat, in die sich diese Germanentöchterchen versetzt sahen, das konnte der Lehrer an dem Augenausdrucke erkennen, der sich leicht elegisch um die Stirnen der Kinderchen legte. Und die Mutwilligsten gerade neigten die Köpfchen mit einer absichtslosen, etwas wehmütig-sanften Gebärde, wie es eben nur halbflügge Mädchen vermögen, die schon Vorahnungen des Lebens haben und auch merken lassen wollen, daß sie wissen, es sei manches Wehmütige in diesem Leben im besondern und allgemeinen vorhanden. Und doch wissen sie es wieder nicht und man sieht ihren unbeschriebenen Stirnen auch an, daß sie nichts wissen.

Der Leierkastenmann drehte immer weiter, der Lehrer sah ein, daß er die Aufmerksamkeit seiner Schülerinnen auf das Klassenthema nicht so schnell erreichen werde, ehe der Mann draußen 357 fortgezogen war. Und er wollte ihn auch nicht vertreiben. Er wußte, daß es für ihn und seine Schülerinnen der poetischste aller Berliner Augenblicke war, wenn die Drehorgel erklang. Er wußte, daß drinnen in den zahllosen Gehöften der Millionenstadt, wo die Bureaus aller menschlichen Tätigkeit, die Rückräume der Prachtläden in den großen Kaufstraßen, die Druckereien, die mit Maschinen aller Industrien vollgestopften und menschengestopften Räume ihre Hoffenster hatten, fast jedes arbeitende, überhetzte, überanstrengte Gemüt unter all diesen überbürdeten Menschen für einen Augenblick innerlich ausruhte, wenn der Leierkastenton durch die Gehöfte erklang. Und wenn's der verstimmteste, alte Kasten war, wenn er der Menschheit ganzen Jammer in entstellten Oktaven anstimmte, die verstocktesten Seelen wurden doch gelöst und unter der Arbeit ging ein heimliches Träumen und verhaltenes Lauschen sekundenlang, minutenlang durch das ganze, endlose Labyrinth der Stadtgehöfte. Warum sollten sie hier draußen in der Vorortstille nicht auch einen Augenblick lauschen? Und weiter drehte der Leierkastenmann, und indem der Lehrer die wehmütig geneigten Köpfchen seiner Schülerinnen betrachtete, fiel ihm ein, daß er jenen Ausdruck einer Stimmung, der etwas fehlt, der wie etwas Entferntes im Herzen anklingt, oft auch gerade in den entschlossensten Frauengesichtern beobachtet hatte, wenn er in Frauenversammlungen, Konzerten, Theatern der 358 Reichshauptstadt sie massenhaft beisammen gesehen hatte. Er war viel gereist und hatte viel beobachtet. Und er glaubte anderweit nicht in dem Maße eine Erscheinung bemerkt zu haben, die ihm jetzt auf einmal auch im Antlitz seiner kleinen Schülerinnen wie eine leise Andeutung entgegentrat. Diese vielfach so selbständige, entschlossene, tüchtige Frauenwelt seines märkischen Nordens – welch ahnungsvollen Ausdruck zeigte sie doch in unbewachten, selbstverlorenen Augenblicken so häufig!

Auf einmal schwieg der Leierkastenmann und ein Fink, der sich aufs Fensterbrett der Schulstube gesetzt hatte mitten in den hellen Sonnenstrahl hinein, schmetterte plötzlich ganz laut auf, indem er das Köpfchen neigte, gerade wie die Mädchen in der Schulstube. Dabei blinzelte er etwas mit seinen kleinen Äuglein in die Sonne hinein, als wollte er sich mit dieser persönlich unterhalten, und gleichzeitig wirbelte er seine Melodie aus dem etwas angeschwellten Kehlköpfchen heraus, als wär's der Schaum aus einer Champagnerflasche, deren Kork an die Decke geflogen ist. Da lachte unwillkürlich die ganze Mädchenklasse, der Fink brach ab und flog erschrocken davon.

»So, meine kleinen Damen,« sagte der Oberlehrer. »Jetzt hat der Fink ausgeredet und nun kommen wir auch wieder zu Worte. Franziska hat eine ganz gute, kleine Geschichte geschrieben über den Manschettenknopf im Müll, aber hier finde 359 ich einen Ausdruck, den habe ich anstreichen müssen. Sie spricht nämlich immer von gewissen »Naturforschern« und sie soll uns einmal nähere Auskunft darüber geben, was so ein Naturforscher eigentlich ist.«

Die kleine Franziska schien diese Frage nur erwartet zu haben, denn sie erhob sich mit einem triumphierenden Gesicht und sagte: »Einen »Naturforscher« nennen wir Berliner einen solchen Mann, der mit einem eisernen Rechen oder einer Schaufel oder mit einer Harke, wenn er eine hat, den Stadtmüll durchsucht. Und es gibt in und um Berlin viele hundert Naturforscher.«

Herr Alfred Stern besann sich, daß er das auch schon gehört hatte, und fragte, woher die Franziska das wisse.

»Ich habe nähere Erkundigungen eingezogen,« entgegnete diese gelehrt. »Denn man muß doch unter die Leute gehen, wenn man so eine Schulaufgabe erhält!«

Die ganze Klasse war sehr erstaunt über das selbständige Vorgehen der blonden Franziska.

»Und wie hast du denn das gemacht?!« fragte der Lehrer.

»Nun, ich bin ganz allein nach dem Müllplatz in der großen Sandgrube gegangen, wo wir neulich vorbeikamen. Und dort arbeiteten eben zwei kleine schmutzige Jungen mit einem eisernen Rechen im Müll. Und da habe ich mir von ihnen alles sagen lassen für fünf Pfennige. Denn wenn ich ihnen 360 nichts bezahlt hätte, so hätten sie mir auch nichts gesagt. Denn sie waren ja selbst Naturforscher. Wenn ich mehr bezahlt hätte, hätten sie mir auch mehr gesagt, aber mein Taschengeld war zu Ende.«

»Und was haben sie dir denn gesagt, Fränzchen?« fragte der Oberlehrer.

»Sie sind Kinder von armen Leuten und suchen aus dem Müll alte Knochen und Lumpen und das alte Eisen, das die Berliner wegwerfen. Wenn sie ein Pfund davon haben, so bekommen sie für ein Pfund Knochen und Lumpen einen Pfennig beim Lumpenhändler. Für altes Eisen auch einen Pfennig fürs Pfund. Zum alten Eisen gehören auch alte Messer und Gabeln, alte Ofentüren, weggeworfene Türklinken, Gardineneisen, Kochtöpfe und alles, was sonst vorkommt. Damit verdienen sie mehr, denn es wiegt schwerer. Aber es ist auch seltener. Denn die Müllräumer nehmen immer das beste selber weg. Und darum leben die Naturforscher mit den Müllräumern in Feindschaft. Die kleinen Jungen waren auch mit den Müllräumern verfeindet. Ich habe mir alles aufgeschrieben.«

Die Spannung der anderen Mädchen erreichte den höchsten Grad, denn sie meinten alle, die Franziska würde einen Verweis erhalten für die selbstständige Art, mit der sie zur Bereicherung ihres Aufsatzes Nachforschungen angestellt hatte, ohne die vorgeschriebene Disposition und die vom Herrn Lehrer vorgeschriebenen Anregungen zu benutzen, 361 zumal der Oberlehrer weiter fragte: »Wie brachten denn aber diese Knaben ihre Fundstücke fort?!«

»Sie hatten große Blechschachteln, ich glaube, von Cakes, und Hutschachteln und Konservenbüchsen, und darein sammelten sie alles, und dann hatten sie einen kleinen Wagen da, darein wurde alles geschüttet und zusammengestopft. Sie hatten auch viele Brotstücke, einen ganzen Haufen, die ganz voll Asche waren und sehr viel Pumpernickel. Und das Brot und Pumpernickel war für Nachbars Karo, das wird abgeputzt und aufgeweicht, und dann frißt es der Hund, denn der Pumpernickel kommt aus den feinsten Familien, und die Dienstmädchen werfen das Brot massenhaft weg, wenn sie es nicht essen wollen oder sich über ihre Herrschaft ärgern, weil sie von der Hausfrau ausgezankt worden sind.«

»Und das hast du alles für fünf Pfennige erfahren?« fragte der Oberlehrer freundlich, worüber die ganze Klasse lachte. Die Franziska wurde feuerrot. Sie wußte nicht, was der Lehrer mit seiner Zwischenfrage wollte, und sagte weinerlich: »Ich hätte ja mehr gegeben, aber ich bekomme noch nicht so viel Taschengeld.«

Jetzt nahm der Doktor gegenüber seiner Klasse eine andere Miene an und sagte: »Nun, meine liebe Franziska, du hast ja wohl schon das schöne Wort gehört: »Wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden.« Und weil du so gut mit deinen kleinen Pfunden gewuchert und dich selbst 362 überzeugt hast, wie die armen Leute in dieser Welt auch aus dem, was andere wegwerfen und verachten, noch einen Wert zu schaffen wissen, so sollst du auch heute zwei Plätze hinaufrücken. Denn seht, ihr Mädchen, wer noch daraus, was nichts mehr wert scheint, einen neuen Wert schafft, der muß wohl auch selbst etwas wert sein und wenn's der ärmste Knabe aus dem Volke wäre. Unsere Franziska aber ist eine gute Wirtschafterin gewesen und das wird ihr einst als Hausfrau zugute kommen, und wenn sie vielleicht einmal eine Schriftstellerin wird und einen geistigen Beruf ergreift, so wird sie auch darin sich bewähren, daß sie nicht den Worten anderer Leute glaubt, sondern in allem selber nachforscht, worüber sie reden will. Denn das müßt ihr Mädchen vor allem lernen, selber an die Quellen zu gehen, sonst wird euch die ganze Frauenbewegung zu Wasser, wenn ihr einmal daran teilnehmt.«

Die kleine Franziska warf ihrem Lehrer einen dankbaren Blick zu. Alle anderen Mädchen waren so still geworden, daß man glaubte, einen Engel durchs Zimmer gehen zu hören. Die beiden Nachbarinnen aber erhoben sich und sahen ihre Mitschülerin ganz stolz an, obwohl sie dieser ihren Platz räumen mußten. Das Fränzchen setzte sich ganz verwirrt an den neuen Platz, ihre neue Nachbarin aber war so wenig neidisch, daß sie mit ihren Ärmchen den bevorzugten Neuling umfing und ihm einen schüchternen, gerührten Mädchenkuß aus den Mund drückte. Darüber war nun aber wieder der 363 Lehrer und die ganze Klasse gerührt und Alfred Stern dachte bei sich: »Wie wenig kennt man doch das weibliche Geschlecht, wie wenig kennen es gerade die Philosophen, die am meisten darüber schreiben!« Und sein Beruf, ein Frauenbildner zu sein, befriedigte ihn in diesem Augenblicke mehr als je.

Ganz aus der Ferne hörte man die verlorenen Klänge der Drehorgel wie ein wegwandelndes Lied eines lieben Wanderers, der sich verabschiedet hat und nun in der Ferne hinter Hügeln, im Walde vor unseren Blicken verschwindet. Die Kinder aber blickten still dankbar und aufmerksam auf ihren Lehrer wie auf einen lieben, gütigen Vater. Und nach einem kleinen Weilchen war auch der letzte Ton des fernen Drehorgelmannes verklungen und nun war es draußen wieder ganz still und die Sonnenstrahlen spielten in den Blättern der blühenden, weißen Rosen draußen im Garten. –

Während dieses in der Schulklasse des Herrn Oberlehrers Doktor Alfred Stern geschah, saß dessen junge Frau Laura zu Hause in seinem Arbeitszimmer und hatte einen starken Stoß von Papieren vor sich liegen, die alle mit Gedichten beschrieben waren. Sie wollte selbst die Schöpfungen des Dichters ordnen, durch den sie berühmt zu werden hoffte. Mit Teilnahme hatte sie alle diejenigen Gedichte durchgelesen, die ihr gewidmet waren. Aber sie fand nur wenige davon der Veröffentlichung wert. Sie hatte in der letzten Zeit sehr 364 viel von den neuen naturalistischen und symbolischen Bestrebungen der Berliner Dichter gelesen und gesehen, wie rasch einige von diesen zu großem Ruhm und Ansehen gelangt waren. Sie sagte sich, mit solchen zarten und einfachen Liedern, wie der Oberlehrer an sie gerichtet hatte, in denen sogar das Wort »Treue« sehr oft vorkam, würde er sich wahrscheinlich nur lächerlich machen. Pikant, naturalistisch, erotisch, und womöglich etwas nervös mußte man sein. Und irgend ein nicht ganz unbescholtenes Weib mußte man besingen. Damit konnte man in wenigen Tagen ein oft genannter Mann sein.

Und nun hatte sie eine gewisse Entdeckung gemacht. Sie hatte gewisse Bänder gefunden und sorgfältig verschlossen als Beweisstücke, die man wohl noch einmal brauchen konnte. Sie hatte gesehen, daß oft diejenigen Wasser, die am stillsten sind, auch weit tiefer sind, als man je geglaubt hätte. Es gab also Männer, die äußerlich die verkörperte Lauterkeit schienen und dann doch Andenken umherliegen ließen, aus denen man darauf schließen mußte, daß ihr Leben auch stille Abenteuer enthielt oder wenigstens in früherer Zeit enthalten hatte Und sie sagte sich, daß ein solcher Mann denn doch, bei seiner sonstigen Begabung, auch sicher die Fähigkeit haben mußte, Gedichte zu machen, in denen das Wort Treue gar nicht mehr vorkam und statt dessen das Erotisch-Kühne, ja Nervöse einen reißenden Absatz bei den 365 Buchhändlern herbeiführen müßte nebst einem großen Ruhme in den Zeitungen.

Sie zuckte mit den Achseln, wie um etwas abzuschütteln, was ihr unangenehm war. Aber in dieser Frau war der unbefriedigte Ehrgeiz so mächtig, daß sie in sich sogar die Bereitschaft fühlte, ihrem Manne dieses und jenes zu verzeihen, wenn ein galantes Abenteuer statt dessen ihm die Begeisterung und die Möglichkeit eintrug, besonders kühne und modische Gedichte zu machen. Wie viel las man doch von der Notwendigkeit, daß das Genie auch beim weiblichen Geschlechte seine Erfahrungen sammeln mußte! Wie viel Ruhm hatten einige erworben dadurch, daß sie neben ihren Frauen auch noch eine andere Beatrice verehrten, wie einst Dante und die ritterlichen Minnesänger! Wie viele reisten mit ihren kleinen Nebenfrauen in der Welt herum, und welche Verehrung hatte ihnen das bei der Kritik eingetragen, wenn sie diese nutzbar machten in ihren Werken! Und sollte sie ihrem Manne durch falsch angebrachte Eifersucht hinderlich sein, daß er auch auf diesem Wege berühmt ward? Da sie denn doch seine Frau war, kam dieser Ruhm doch auch ihr zugute – besonders unter ihren Freundinnen. Etwas klatschen würden sie ja, aber immerhin – welch ein Gefühl, die Frau eines so viel besprochenen Mannes zu sein! Und da er nun einmal so war wie alle anderen nach ihren jüngsten Entdeckungen, so mußte man sich ja wohl mit den Tatsachen abfinden und ihn auch die 366 richtigen literarischen Konsequenzen aus seinem Lebenswandel ziehen lassen. Und unter diesen Erwägungen legte sie eines nach dem anderen von den Gedichten beiseite, in denen von der »Treue«, von »echter Mannesliebe« und von der »Schönheit ihres Geistes« geredet wurde, die sein Herz ewig und ausschließlich an sie fesseln werde.

Ahnungslos und von leiser Rührung über seine heutigen Schulerfahrungen erfüllt, kam der Oberlehrer gegen abend nach Hause. Es war ihm gar nicht wie Dichten zu Mute, er fand, daß er immer viel schönere Gedichte in Wirklichkeit erlebte, als er jemals auszusprechen sich imstande fühlte. Und der milde Sommerabend veranlaßte ihn, daß er eine Hausjoppe anzog, um sich in seinem Garten zu ergehen, die Rosenstöcke da und dort fester zu binden, die aufbrechenden, japanischen Lilien zu betrachten und zuletzt den Gummischlauch an die Wasserleitung anzulegen, um mit ihm den Rasen und den Garten zu sprengen. Laura war ihm mit dem Manuskript gefolgt und saß in der Laube, um die sommerliche Abendkühle zu genießen.

Als er nun mit seiner Gartenspritze bis in ihre Nähe gekommen war und gerade vor ihr ein Blumenbeet sprengte, konnte sie ihre heimlichsten Hoffnungen nicht länger verbergen und sagte:

»Sage einmal, mein Männchen, hast du nicht aus deiner früheren Zeit auch noch ein paar kräftigere, ich meine erotische Gedichte, die man mit aufnehmen könnte, wenn wir die Sammlung 367 nun nächstens drucken lassen? Weißt du, so etwas recht Leidenschaftliches. Es braucht ja nicht an mich gerade zu sein.«

»Erotisches?« fragte der Oberlehrer etwas betroffen. »Wie sollte ich denn dazu kommen?«

»Na, über gewisse Dinge wollen wir den Mantel der christlichen Liebe breiten,« sagte sie etwas hart. Ja, ihre Stimme klang beinahe befehlshaberisch, als wenn eine gewisse Eifersucht sich darin ausspräche. »Ich will mich nicht weiter darüber aussprechen, aber ich dächte denn doch, dir müßte es ein leichtes sein, so recht flotte, meinetwegen etwas zigeunerhafte Leidenschaften auszusprechen. Und das verlangt man heutzutage! Ohne das kein Erfolg, kein wirklicher, dauernder Ruhm!«

Doktor Stern war so betroffen über die unverständlichen Wünsche und Anspielungen seiner Frau, daß er die Gartenspritze außer acht ließ und nicht mehr auf das Bett zu hielt, sodaß der Wasserstrahl in einem großen Bogen über den Gartenzaun weg auf die Straße schoß und dort niederplätscherte, weshalb ein paar Vorübergehende im Bogen herumgehen mußten, nicht ohne Verwunderung, warum ein so gebildeter Mann die offene Straße spritzte. Wahrscheinlich wollte er auch den Straßenstaub etwas löschen, obwohl es doch gar nicht staubig war.

»Ja, wie meinst du denn das eigentlich, Laura?« fragte der Oberlehrer verständnislos.

»Na, ich will eben sagen, wenn in deinen Gedichten auch eine Rubrik vorkäme, wo irgend ein 368 pikanteres oder ungewöhnlicheres Verhältnis besungen würde –! Du wirst mich doch verstehen! Vor mir brauchst du dich gar nicht zu genieren! Ich spiele hierbei gar keine Rolle. Die Hauptsache ist, daß du dich gibst, wie du wirklich bist, in deiner ganzen ungezwungenen und natürlichen Subjektivität. Denn daß man sich ganz und voll ausspricht, daß man eine Persönlichkeit ist, und wenn's ein Übermensch wäre, darauf kommt heutzutage alles an. Lieber ganz wild, als ein Heuchler oder ein Philister!«

»Ja, das ist ja alles ganz gut!« sagte der Oberlehrer, indem er die Gartenspritze wieder etwas abwärts hielt, sodaß sie jetzt die nächsten Beete bespritzte. »Aber ich, ich habe doch wahrhaftig keinen Anlaß –«

»Na, und wenn du meinetwegen die Barrisons besingst!« sagte Laura etwas ungeduldig, indem sie sich jetzt plötzlich am Tische erhob, empört über die Scheinheiligkeit dieses Mannes. »In allem Ernst! Das wäre doch einmal etwas Neues, wenn du eine Rubrik einführtest, wo du etwa eine Chanteuse, eine Zirkusschwingerin auf dem Trapez, ein Ballettmädchen oder sonst so eine interessante Person mit der nötigen Leidenschaftlichkeit maltest. Die Andenken, die Schleifen und Locken, die man ihr raubt, die Zigarette, die sie geraucht hat, den kostbaren Pelz, in dem sie auftritt und den sie abwirft, wenn sie dann im vollen Trikot erscheint – das sind doch alles Gegenstände, die man besingen kann und mit 369 denen man etwas macht in der Welt! Und wenn's ihre Morgenpantoffeln sind, was geht's mich an!«

Der Oberlehrer war fast erstarrt einen Schritt zurückgetreten. Nur stammelnd vermochte er die Worte hervorzubringen: »Aber ich! Als Mädchenlehrer! Bedenke doch!«

Im selben Augenblicke kreischte Frau Laura entsetzt auf und hielt beide Hände vor sich, weit von sich ab. Denn ein sprühender Wasserstrahl rauschte gerade auf das wohlsortierte Manuskript auf dem Tische vor ihr. Und im nächsten Augenblicke, weil der erschrockene Oberlehrer seinen Irrtum mit der Spritze zu verbessern suchte und sie rasch im Bogen vom Manuskript weghob, hatte sie auch schon einen vollen Wasserstrahl über Schultern und Nacken erhalten. Sie schrie laut auf, der Mann ließ die Spritze fallen, daß sie auf den Boden auslief, und eilte auf sie zu, um sich zu entschuldigen wegen seiner Ungeschicklichkeit. »Aber ich bin so betroffen, Laura! Ich weiß ja gar nicht –!«

Sie stieß ihn sehr ungnädig zurück und erst, als er sie notdürftig abgetrocknet und tausendmal um Verzeihung gebeten hatte, durfte er ihr in die Kammer folgen und das nasse Manuskript nachtragen. Dort wechselte sie die unbrauchbar gewordene Sommerbluse und ließ dann das Wort fallen:

»Und was ist denn weiter, wenn du deine Stellung als Mädchenlehrer verlierst? Ist denn dein 370 Name nicht viel wichtiger? Ich bin sicher bereit, jedes Opfer in dieser Hinsicht zu bringen, und wenn deine modernen litterarischen Ideen nicht in den Rahmen einer höhern Töchterschule passen – nun, manche von deinen Schülerinnen wird später auch einmal ihren Liebhaber bekommen, und darum kann dir deine ganze Mädchenerzieherei doch im Grunde völlig gleichgültig sein. Mir ist ein angesehener Schriftsteller auf alle Fälle lieber, als ein noch so ehrenwerter Pädagog, und da wir die Mittel haben . . .«

»Aber wenn ich nun kein Glück habe als Schriftsteller,« meinte er bedenklich und etwas traurig, daß er seinen geliebten Beruf aufs Spiel setzen sollte. »Zum mindesten müßte man eine solche Gedichtsammlung doch unter einem Pseudonym herausgeben. Hat man Glück, so kann man ja später durchblicken lassen –. Und Gott, machen könnte ich ja solche Gedichte. So schwer wird das nicht sein. Machen könnte ich das ja wohl.«

Es wurde noch einige Zeit darüber hin- und hergeredet, ob man die Sammlung nicht lieber unter eigenem Namen veröffentlichen sollte. Zuletzt siegte die Meinung des Oberlehrers. Und schon der Umstand, daß Alfred fühlte, er müsse seine Unvorsichtigkeit mit der Gartenspritze wieder gut machen, bewirkte, daß er in den nächsten Tagen sich wiederholt in seinem Zimmer einschloß, um an einem Zyklus von Zirkus- und Ballettgedichten zu schaffen. Wiederholt besuchten beide Ehegatten in diesen 371 Tagen zusammen den Zirkus, um Studien zu machen. Laura hielt das zwar nur für einen heuchlerischen Vorwand von seiner Seite, denn sie glaubte ja seine stillen Abenteuer zu kennen. Es wurde dem Oberlehrer indessen nicht ganz leicht, gewisse gewagte und leidenschaftliche Wendungen in einer etwas nervösen Bildersprache zu erdichten, die seine Frau nun ein für allemal verlangte. Indessen bald war doch der Zyklus fertig, und als Frau Laura ihn in das unterdessen wieder getrocknete Manuskript einreihte, zuckte sie zwar wieder etwas höhnisch und verachtungsvoll mit den Achseln, war aber überzeugt, daß in dieser Gestalt die gedruckte Sammlung denn doch allgemeines Aufsehen erregen werde. –

Die Gedichte waren bei einem gefälligen Verleger gedruckt worden, der für gute Worte und Bezahlung der Druckkosten von seiten des Autors die Herstellung und Verbreitung des Druckwerkes übernahm. Laura hatte in ihre eigene Tasche gegriffen, um diese Verbindlichkeit zu erfüllen. Sie fieberte, wenn ein neuer Korrekturbogen eintraf und der Oberlehrer an stillen Nachmittagen am Drucke besserte. Sie machte, im höchsten Grade unruhig, bei allen ihren Freundinnen Besuche, knüpfte mit der Frau des litterarischen Vereinsvorstandes an, da man nicht wissen konnte, wozu es gut war. Obwohl die Gedichte unter dem Namen Rolf Olafsohn herausgegeben wurden, verriet sie doch den meisten Bekannten, daß der Verfasser dieser Gedichte ihr Mann sei. Natürlich nur unter 372 dem Siegel der Verschwiegenheit. Und einige Tage fühlte sie sich sehr befriedigt in Erwartung der kommenden Berühmtheit ihres Mannes.

Und endlich waren die »Erotischen Gedichte« von Rolf Olafsohn in den Buchhandel gegeben und gleichzeitig an alle bedeutenden Zeitungen und Kritiker Rezensionsexemplare versandt worden. Triumphierend brachte Laura ihrem Vater das erste Exemplar nach der Stadt, und als sie unterwegs in einer Buchhandlung der Leipzigerstraße sogar ein Exemplar der »Erotischen Gedichte« ausgelegt sah, wanderte sie mit einem gewissen Gefühl innerer Feierlichkeit nach dem Vorortbahnhof. An diesem Tage erhielt der Oberlehrer zum Mittagsgericht einen wundervoll hergerichteten Fasan und zum Nachtisch Windbeutel mit Schlagsahne. Und als er sie küssen wollte, entzog sie sich nicht, was sie in der letzten Zeit wegen einer gewissen Entdeckung immer getan hatte. Sondern mit einem kurz ausgestoßenen »Na, meinetwegen!« sah sie ihn vielwissend, schalkhaft von der Seite an und hielt ihm selbst ihren Mund mit kußrunden Lippen entgegen.

Mehrere Tage vergingen, bis beide Gatten von Unruhe erfaßt wurden, wie etwa sich nun die Zeitungen über das Werk so vieler Mühe äußern würden. In den Blättern, die sie hielten, war noch nichts erschienen. Der Oberlehrer erklärte seiner Frau, das ginge nicht so schnell, er wisse 373 durch den Verleger, daß da immer einige Zeit verstreiche, ehe die Kritiker sich äußerten. Unter diesen Umständen steigerte sich die Ungeduld der jungen Frau dermaßen, daß sie, während Alfred in der Schule saß, eines Tages nach Berlin fuhr und bei den Chefredakteuren zweier großer Zeitungen ihre Visitenkarte abgab. Sie wurde im Bureau empfangen und erlaubte sich mit einiger Sicherheit, auf die »Erotischen Gedichte« von Rolf Olafsohn aufmerksam zu machen, die eine so große Zeitung nicht unerwähnt lassen dürfe. Der Dichter stehe zwar in keinerlei näherer Beziehung zu ihr, aber das Interesse an der Litteratur an sich habe sie zu diesem Schritte veranlaßt. Von da begab sie sich zu einigen Freundinnen, die schon die Gedichte gelesen hatten und ein bißchen verwundert schienen über den erotischen Freibeuter, als den sich Herr Rolf Olafsohn entpuppte. »Mein Mann gehört eben auch zur modernen Richtung,« sagte Laura heuchlerisch. »Ich wollte ja auch nicht, daß er diese Gedichte jetzt schon veröffentlichte, indessen, was kann eine Frau gegenüber so einer unbändigen Individualität. Denn daß Stern – ich wollte sagen Rolf Olafsohn – eine ausgeprägte Individualität ist, das muß man ja doch wohl sagen. Und deshalb trage ich manches!«

Ein verständnisvoller Seufzer ihrer Freundin Amalia war die Antwort. Dann sagte diese leise: »Ach ja, es muß schwer sein mit so einem Manne! Du mußt viel mit ihm durchgemacht haben. Ich 374 bewundere nur, wie du ihm so vieles verzeihen kannst!«

Das letzte Wort klang etwas spitz. Laura fühlte vollständig seine Bedeutung. Sie sprach daher nur in der dritten Person von ihrem Manne, wie sie es von einigen Frauen sehr berühmter Männer gehört hatte, und sagte: »Ja, was will man machen. Stern ist nun einmal so eine eruptive Natur! Gott, ich weiß ja, was mir früher oder später bevorsteht. Augenblicklich hat er mir ja versprochen, vernünftig zu sein. Aber wie leicht wird so eine phantasievolle Natur das Opfer ihrer Leidenschaft und ihrer Subjektivität! Und dann kann es wohl kommen, daß man auch die letzten Konsequenzen ziehen muß!«

»Aber, Laura, du wirst dich doch nicht von ihm scheiden lassen wollen!« sagte Amalia mit einem Ausdrucke, der so klang, als wenn es eigentlich schon jetzt ihre Pflicht wäre, sich von einem Manne zu trennen, der das Verhältnis zu einer ungenannten Dame der Halbwelt mit so kompromittierenden Einzelheiten besang. Das Gedicht von der angerauchten Zigarette, die er selber aus ihrem Boudoir stiehlt und zu Ende raucht, wahrend er Schopenhauers »Welt und Wille und Vorstellung« liest, ist allerdings sehr stark!«

Laura verstummte. Die erste Idee dazu hatte ja von ihr gestammt. Dann aber zuckte sie mit den Achseln und meinte: »Eine Frau darf heutzutage der Entwicklung ihres Mannes nicht mehr 375 im Wege sein. Vorläufig fühle ich noch keine Veranlassung, ihm davonzulaufen. Und sollte es einmal so weit kommen, nun, so weiß ich ja wohl selbst am besten, was ich mir schuldig bin.«

Die Freundinnen versöhnten sich und beschlossen danach sogar, recht viel Propaganda in Bekanntenkreisen zu machen für die Gedichte von Rolf Olafsohn-Stern, der auf einmal für sämtliche Damen von Lauras Bekanntschaft mit einem ganz besonderen Nimbus umgeben war. Und Laura kam zu Hause an mit dem Gefühl, denn doch an Bedeutung schon jetzt ganz entschieden gewonnen zu haben.

Die Ungeduld beider Eheleute steigerte sich dermaßen, daß der Oberlehrer eines Nachmittags nach Berlin hineinfuhr, um sich in der»Akademischen Lesehalle« neu zu abonnieren und auf diese Weise alle litterarischen Blätter verfolgen zu können. Er begab sich in die Lesesäle.

Eine Weile hatte er in den aufgehangenen Zeitungsfahnen herumgestöbert, ohne etwas zu finden. Plötzlich aber wurde es ihm heiß und kalt zugleich. In einer der verbreitetsten Zeitungen las er den Namen: Rolf Olafsohn.

Ein Weilchen wagte er gar nicht näher hinzusehen. Dann aber ließ er sich in einem Stuhle nieder und las.

Schon nach wenigen Zeilen wurde ihm klar, daß es ihm in diesem Augenblicke sehr schwer werden würde, wenn er sich sogleich wieder hätte von 376 dem Stuhle erheben sollen. Er fühlte, daß ihn etwas bis nach dem Mittelpunkte der Erde hinabzuziehen versuchte. Er warf seine Blicke auf die benachbarten Leser, ob vielleicht ein näherer Bekannter darunter wäre, der ihn erkennen könnte. Er mußte sich erst eine Weile klar machen, daß Rolf Olafsohn gar nicht sein eigener Name sei und daß doch wohl nur die näheren Freundinnen seiner Frau um das Geheimnis eines gewissen Alfred Stern wissen konnten. Mit einer starken Anstrengung las er den Schluß.

»Rolf Olafsohn,« hieß es, »ist augenscheinlich ein Pseudonym. Es wäre nicht der Mühe wert, diese dilettantischen metrischen Übungen zu besprechen, wenn der Pegasus des Herrn Rolf Olafsohn, für den von einer gewissen Damenpartei Propaganda gemacht zu werden scheint, einer Damenpartei, die sich vielleicht in gewissen pikanten Stücken der Sammlung angeheimelt fühlt – wenn dieser Pegasus nicht ein ganz besonderer Klepper wäre. Von Haus aus augenscheinlich ein ganz lammfrommes Pferdchen, aber irgend jemand hat ihm einen glühenden Schwamm ins Ohr gesteckt, und nun tut dieser Gaul, als ob er ein wildgewordenes Kunstreiterpferd wäre. Diese Sammlung ist ein Symptom der Zeit. Das wildgewordene Philisterium will sich orgiastisch berauschen. Aber der Gaul des Herr Olafsohn ist nur ein Holzgaul. Der Dichter reitet ihn wie ein Quintaner sein hölzernes Schaukelpferd. Er gibt ihm zwar fortwährend die 377 Sporen in die hölzernen Weichen, aber der Gaul schaukelt doch nur auf und ab. Herr Rolf Olafsohn täte wohl, wenn er sein Schaukelpferd einem Karussellinhaber der nördlichen Vororte vermachte, vielleicht würde dort auch die von ihm besungene holde Weiblichkeit gelegentlich den Genuß eines Rittes ins Reich der neuesten Schaukelpferdpoesie haben.«

Das war entschieden niederschmetternd. Ja, der Oberlehrer gestand sich, daß es sogar wahr war. Er hatte ja nicht nach Dichterruhm gegeizt! Er hatte ja nicht die weggeworfene Zigarette der besungenen Schönen geraucht! Und nun hatte ihn irgend ein scharfsinniger und erfahrener Rezensent ganz richtig durchschaut. Ja, es war niederschmetternd und wahr zugleich. Er legte die Zeitung ganz verstohlen hin und versteckte sie unter einem Haufen anderer Zeitungen in der dunkeln Empfindung, daß andere vielleicht dadurch nichts lesen würden. Er ergriff ein anderes Tagesblatt. Er wollte eigentlich nicht darin lesen, dazu war er zu beschämt und aufgeregt. Er wollte nur so tun, als sähe er in ein Blatt, damit man nicht merken sollte, daß er an der vorangegangenen Zeitung etwas Besonderes gefunden habe. Aber er hatte nur die ersten Spalten überflogen, als ihm auch schon wieder der Name Rolf Olafsohn ins Auge fiel. Von neuem ward es ihm heiß und kalt. Aber vielleicht herrschte hier eine bessere Meinung über ihn. Er las: »Erotische Gedichte von Rolf Olafsohn. 378 Stümperhafteres ist uns lange nicht begegnet, als diese völlig verunglückten Stilübungen irgend eines verunglückten Dandys, der sich hinter dem Namen Olafsohn verbergen mag. Er sollte lieber Percherons und Zirkusschimmel zureiten, als Gedichte machen und mit seinen sehr zweifelhaften Abenteuern renommieren. Der Autor wird wohl die Druckkosten selbst bezahlt haben, denn freiwillig wendet sein Verleger nicht sein Geld an so etwas!«

An so etwas! Das war mehr als demütigend. Und die Druckkosten wurden sogar erwähnt! Wenn diese Zeitung seiner Frau unter die Augen kam!

Heimlich zog er sein Taschenmesser aus der Tasche und versuchte verstohlen diese Druckzeilen aus der Zeitung herauszuschneiden. Scheu blickte er umher, ob niemand ihn beobachte, und dann ließ er das Blättchen in seine Tasche gleiten, wo er es langsam mit den Fingern zusammenknüllte und zerriß. Er erhob sich, tat so, als ob er noch stehend einige Zeitungen zu durchblättern habe, und begab sich aus den Lesesälen fort, wobei er sich von zwei anderen Mitlesern, die er gar nicht kannte, mit einer stummen Verbeugung empfahl, obwohl diese ihn keineswegs gegrüßt hatten beim Eintreten. Aber in seinen Augen lag etwas, als wären diese Menschen höhere Wesen gegenüber ihm, den man erbarmungslos von jeder Dichterhöhe hinuntergestürzt hatte.

Als er die Straße betrat, beleidigte ihn förmlich das wundervolle Wetter, was hier. herrschte. 379 Er dachte an seine Frau. Abermals waren all ihre Hoffnungen auf Berühmtheit verloren. Er selbst hatte freilich im tiefsten Innern ein Gefühl tiefen Wohlseins, daß er nun nicht mehr so bald berühmt zu sein brauchte. Ja, er fühlte sich von einer Art von Schadenfreude erfüllt. Es war ihm wie ein tiefes Glück, wie ein innerster Friede seines Herzens, daß er nun weiter blühen sollte wie ein Veilchen im Verborgenen inmitten seiner Mädchenschar. Aber seine arme Frau! Wenn er an sie dachte, war es ihm wieder so, als hätte er selbst die ungeheuerste Enttäuschung erlebt, als wäre sie aus all ihren Himmeln gerissen!

In diesem Widerstreit seiner Gefühle winkte ihm wie ein einziger Rettungsanker, als er »Unter den Linden« entlang ging, der Name »Hiller« drüben auf der rechten stilleren Seite der breiten Weltstraße. Er fühlte in seine Tasche nach seinem Portemonnaie. Es war voll Geld, da der letzte des Monats war, wo er sein Gehalt empfangen hatte. Ein gewisses Gefühl der Sicherheit überkam ihn, als er sich genügend ausgerüstet wußte.

Da drüben winkte Vergessen. Da drüben waren weiche, sammetne Ecken, da waren weiche Teppiche, wo die Kellner lautlos hin und her gingen, da waren Lichter mit farbigen, dunkelroten Manschetten und stille Winkel, wo man mitten im Lärm millionenfachen Reklameschwindels, millionenfacher Ruhmsucht ganz allein sitzen konnte bei einer Flasche, bei zwei, drei Flaschen guten, womöglich recht 380 schweren Weines. Und so mächtig wurde diese Vorstellung, daß er eine Schwenkung machte und hinüberging.

Es war gerade die beste Speisezeit. Der Tag neigte sich dem Abend zu. Herr Doktor Alfred Stern suchte sich die hinterste Ecke in dem lauschigen, behaglichen Raume, wobei es ihm sehr wohl tat, daß alle Fenster mit Stores verhangen waren und alles so gedämpft und still zuging, wie er nur irgend wünschen konnte. Und mit einem Ausdruck tiefer Resignation, die er im Namen seiner Frau empfand, bestellte er nach der Tafelkarte eines der Diners zu höheren Preisen mit vier Hauptgängen und zunächst eine Flasche Chateau d'Yquem.

So lange das Essen auf sich warten ließ, saß er mit einem ganz verstörten und jammervollen Ausdruck da und dachte nur an sein armes, enttäuschtes Weib und wie sie das nun alles tragen und wie überhaupt ihr Leben sich gestalten sollte. Dann aber, als die Suppe vorüber war, der Steinbutt sich als äußerst zart und schmackhaft mit der Austernsauce bewährte, begannen ihn die materiellen Genüsse zu beschäftigen. Er begann Gattin und Ruhm zu vergessen. Es kam dann eine Schüssel, worin Kalbsmilch, Bries, Gehirn mit Krebsen und anderen Dingen zu einem köstlichen Pastetenragout gemischt waren. Und bei jedem Bissen Kalbsmilch wurde es ihm milder und zarter ums Herz, er sah seine Mädchenklasse in den sonnigen Flügelkleidern vor sich und gewann das Gefühl einer 381 tiefen inneren Sicherheit seines wahren Berufs. Der schwere Wein ging ihm wie Öl durch die Kehle.

Zuletzt saß er, nachdem er alle Schmerzen und Beschämung und Demütigung vollständig vergessen hatte, bei einer Flasche duftigen Rheinweins mit einem sich steigernden Gefühle tiefer innerer Beseligung da. Als er an die kleine Franziska dachte und ihre Studien über den Müll, traten ihm die hellen Tränen süßer Seligkeit in die Augen. Dieser Zustand war so schön, so stimmungsvoll, daß er sich durchaus nicht von seiner Plüschecke trennen konnte, sondern bei einer dritten Flasche, bald lächelnd, bald tränenden Auges sich in Gedanken über die Frauenfrage und Wünsche für das Glück aller Frauen erging. Er überlegte ernstlich die Veranstaltung eines Männerkongresses von gleichgesinnten Leuten wie er selber war, wozu die bedeutendsten Vertreterinnen der Frauenbewegung einzuladen wären. Da sollten die Damen nur zuhören, die Männer aber die Sache der Frauen führen. Er kam in Gedanken auf eine große Rede, worin er all seine Frauenkenntnis und Erziehungsgrundsätze zu allgemeinem Besten vortragen wollte.

Es war kein Wunder, daß er darüber noch eine Flasche zartesten, alten Rüdesheimers mit einer köstlichen Blume sich vorsetzen ließ und nun wurde die innere Seligkeit und die Rührung über alles Edle, Menschliche, über die Schönheit und Hoheit der Frauen so groß, daß er überhaupt gar nichts 382 mehr dachte, sondern bald lächelnd, bald sich eine selige Träne aus den Augen wischend das Leben in seiner Ecke verdämmerte. Als er endlich nach seiner Uhr sah, war die Nacht schon hereingebrochen. Er fühlte, daß er nun doch nach Hause gehen müsse. Er sagte sich, es sei nunmehr seine Pflicht, sein armes, enttäuschtes Weib zu trösten. Im ganzen hatte er nur noch eine dunkle Vorstellung, weshalb sie denn eigentlich überhaupt des Trostes bedürfe. Er bezahlte den Oberkellner und wunderte sich nicht einmal über die Höhe der Rechnung, sondern gab ein großes Trinkgeld, obwohl ihm der Verdacht vorschwebte, daß er eine Flasche Wein zu viel bezahlt hatte. Aber er hatte ein starkes Gefühl nach Großmut, nach Entfaltung aller menschlichen Tugenden, die jemals weise Lehren in sein Herz gepflanzt hatten.

Er hatte nur eine dunkle Vorstellung, wie er auf den Vorortbahnhof gekommen war. In seiner Erinnerung schwebten nur noch die großen, dicken Säulen des Brandenburger Tores und die goldene Kuppel des Reichstagsgebäudes, ganz vom Mondschein in weißliches Licht getaucht mit bläulichen Schatten. Es schwebte ihm vor, als müsse er lange hier gestanden und sich die Formen der Torsäulen eingehend betrachtet haben, durch die jeden Tag so vieles hin- und herfuhr wie ihm bei diesem Anblick durch den Kopf gegangen war.

Als Alfred endlich aus einem Wagenabteil, der ganz von halbschlafenden Damen und Herren 383 gefüllt war, beim Bremsen des Zuges auf der Haltestelle ausgestiegen war, bemerkte er, daß er sich in der Gegend und Charakteristik der Örtlichkeit nicht zurechtfinden konnte. Nach Verlassen des Bahnsteigs und der Treppenunterführung sah er sich vor einer fremdartigen Straße, wo fern im Dunkeln unbekannte Laternen brannten. Er fühlte sich gedrungen, zurückzugehen und sich zu erkundigen, wo er wäre, und er hörte an der Kasse, wo er die nächtliche Kassiererin fragte, daß er eine Station zu weit gefahren war.

Nach zwanzig Minuten kam indessen ein anderer Zug, der ihn in fünf Minuten nach seinem heimatlichen Vorort führte, und hier schritt er nun mit einem Gefühle innerer Elastizität und Sicherheit seinem Hause zu. Alles ging gut, er bemerkte, daß er ohne weiteres sowohl das Schlüsselloch der Gartentür wie des Hauses fand, wobei sich das Gefühl innerer Würde und Gewißheit seiner selbst bedeutend steigerte. Und nun schlich er leise, um niemanden zu stören, nach dem Speisegemach, um von da aus stillschweigend das Schlafgemach und sein Bett zu erreichen.

Er prallte indessen leicht zurück, als er die Türe öffnete, denn ein voller Lichtstrom kam ihm aus dem Speisegemach entgegen. Und im selben Augenblicke erhob sich auch langsam eine bleiche Frauengestalt am Tische, ihm gerade gegenüber. Und auf dem Tische lagen mehrere Zeitungen mit weithin sichtbar angestrichenen Stellen in 384 Blaustiftumrahmung. Und diese Zeitungen lagen wieder neben seinem Teller, der nur auf einer einfachen Serviette, statt auf einem Tafeltuche stand. Neben dem Teller stand eine Flasche Bier und auf dem Teller lag ein Brathering. Herr Doktor Alfred Stern hatte kaum diese gesamte Sachlage überschaut, als er auch schon die Worte vernahm: »Aber Stern! Stern, wo kommst du her!«

Es lag ein Ton von einer gewissen tiefen Herabschätzung und Entwürdigung darin, der den Oberlehrer entrüstete im tiefsten Innern seiner Seele. Indessen war die innere Seligkeit seines Gemüts und der Drang nach allem Menschlichen und Gütigen noch so groß in ihm, daß er sagte: »Von Berlin, süßer Schatz! Woher sonst?«

»Von Berlin! So spät! Willst du nicht essen?« Die Stimme der Gattin klang halberstickt.

Der Oberlehrer betrachtete den Brathering und die sonstige Anordnung und sagte darauf etwas schroff: »Nein, danke. Ich habe schon bei Hiller gegessen.«

»Bei Hiller? Bei Hiller unter den Linden?!«

»Jawohl, unter den Linden. Warum auch nicht?«

»Ja, aber ich bitte dich, hast du denn schon gelesen –?«

Laura zeigte mit ihrem Zeigefinger wegwerfend auf die Zeitungen, die neben dem Teller lagen.

Alfred tat, als verstände er nicht recht.

»Gelesen? Ja, was denn?« 385

»Nun, deinen Ruhm, deine neueste Berliner Berühmtheit, deine neuerrungene Popularität! Ich kann mich ja nach dem überhaupt nicht mehr auf einer Straße von Berlin sehen lassen. Es ist geradezu empörend! Und da läßt du dich bei Hiller sehen! Unter den Linden! Mitten in der großen Welt! Und für morgen abend hatte ich eine große Gesellschaft dir zu Ehren zusammen gebeten! Es ist furchtbar!«

Alfred ging gelassen an den Tisch und nahm die Zeitungen in die Hand. Er warf einen Blick darauf und legte sie dann eben so gelassen wieder hin. Dann sagte er ruhig: »Kenn ich schon!«

»Und das nimmst du so ruhig auf, als wäre es weiter gar nichts? Ja, siehst du denn nicht ein, daß unsere ganze gesellschaftliche Existenz untergraben ist? Was soll ich morgen tun, wenn sie kommen und mich mit Schadenfreude um die Ecke ansehen! Wenn sie meine Weine, meinen Hummer, meinen Fürst Pückler essen und trinken und im stillen sich über dich lustig machen? Und da gehst du zu Hiller!«

»Aber man ißt doch dort vorzüglich! Weine, sag' ich dir – vorzüglich! Und ein Ragout von Kalbsmilch und Champignons –! Ach, es hat mir in meinem ganzen Leben nicht so gut geschmeckt!«

Diese Worte waren dem Oberlehrer völlig harmlos entfahren. Sie waren ihm um so harmloser entglitten, als der Anblick des Bratherings und der jedenfalls vom langen Stehen schal gewordenen 386 Flasche Bier das Gefühl des vergangenen Genusses bedeutend steigerte.

Erst jetzt betrachtete Laura den Mann sich genauer und sah den Ausdruck unbestimmter, überirdischer Seligkeit in seinen Augen. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich ihrer, sie trat ihm rasch entgegen und fragte schroff: »Sage mir, wo bist du gewesen!«

»Bei Hiller, wie ich dir sage!«

Sie lachte kurz auf und zuckte die Achseln.

»Wer's glaubt!« Und nach einer stummen Pause: »Verkehren dort auch Damen?«

Der Oberlehrer sah seine Frau starr an. Nach einem Weilchen aber blinzelte er schalkhaft und sagte in dem dunkeln Gefühle, er müsse sich doch auch einmal seiner Haut wehren: »Warum nicht? Aber nur sehr anständige!«

»Demgemäß bist du also nicht bei Hiller gewesen! Wer weiß, wo du dich wieder umhergetrieben hast! Und da wagst du mir so unter die Augen zu treten! Da wagst du, als ein Mensch, der nicht einmal eine Chanteuse mit Talent andichten kann, mir solche Szenen zu machen! Nachts nach Mitternacht heimkommen, nach Wein duftend, ohne Bewußtsein, ohne Erkenntnis deiner und meiner Situation, ohne Empfindung für meine Ehre und die Ehre meines Vaters, der doch all sein Geld hergibt; ohne Rücksicht auf deine Stellung als Mädchenlehrer nur deinen wüsten Trieben 387 folgend und deiner Sucht nach zweifelhaften Vergnügungen!«

Bei diesen Worten fuhr sie mit der Hand in die Kleidertasche und schien krampfhaft irgend etwas darin zu suchen, das nicht gleich heraus gehen wollte aus den Falten. Der Oberlehrer stand in einem stillen Kampf zwischen Empörung über die herabschätzende Behandlung, die aus der Stimme der Frau klang, und zwischen vollständiger Hilflosigkeit über die im übrigen vollständig unbegreiflichen Andeutungen. Endlich siegte ein gewisses Gefühl der Rache und der Genugtuung, er drehte sich halb zur Seite und rief ziemlich laut: »Meine Situation? Meine Ehre? Ich danke Gott, daß ich nicht so ein Dichterling, so ein Versmacher bin, der an seinen Gedichten verhungern muß, wenn sie etwas taugen! Aber es ist dir schon recht, warum genügt dir nicht deine Stellung als einfache Hausfrau und Freundin der Interessen deines Mannes! Warum hast du auch den Ehrgeizteufel im Nacken sitzen, der heutzutage die Ehre der besten Leute untergräbt, weil ihr Weiber, statt aus Liebe und Hoffnung auf süße Kinder, nur noch aus Ehrgeiz heiratet! Wozu braucht denn überhaupt ein Mensch berühmt zu sein! Können muß er etwas! Das ist die Hauptsache! Aber solche Frauen wie du, die sehen in einem Manne ja nur noch den Sturmbock für ihre Eitelkeit und ihren vagen, unbeschäftigten Ehrgeiz! Was ist euch der Mann, was seid ihr euch selbst, was ist euch die Liebe!« 388 Er wurde heftiger und sagte: »Ja, die Liebe! Und ich rede dabei nicht von der Geschlechtsliebe, sondern von der allgemeinen Menschenliebe, die vor allem in der Ehe der schönste Selbstzweck des Lebens ist! Glaubst du denn, man heiratet sich, bloß um sich zu küssen?! Es gibt noch eine andere Liebe, das ist die gemeinsame Liebe zu guten Werken, zur Menschenerziehung, ohne Ehrgeiz, ohne flatternde Ruhmsucht, ohne Geistprotzigkeit! Das ist die treue Aufgabe der Persönlichkeit und ihrer Ichsucht an das andere Ich, das ist das wahre Ta twam asi, was doch zwischen Mann und Weib am vollkommensten zu erreichen ist, eben weil zur allgemeinen Liebe auch noch die besondere Liebe der Geschlechter kommt! Aber in dir, Laura, ist bis jetzt noch nicht das richtige Ta twam asi, das richtige Verständnis für jenes »das bist du« der Ehe, weil du dich weder mit dem Indischen noch sonst etwas richtig beschäftigt hast, sondern aus übermäßiger Musikmacherei in die zügelloseste Selbstsucht und in den Ehrgeiz einer Lady Macbeth gefallen bist!«

Er schwieg. Sie hatte das Suchen in ihrer Tasche unbewußt aufgegeben und starrte ihn anfangs ganz verständnislos an. Dann kam ein dunkles Gefühl einer drückenden, beschämenden Wahrheit dessen, was er sagte. Hierauf ein Glutstrom heißer Liebe, unsinniger Liebe zu diesem Menschen, der auf einmal so kraftvoll und männlich darauf los wettern konnte. Im nächsten Augenblick aber das niederschmetternde Bewußtsein, daß er 389 diesen Mut augenscheinlich nur im Weinrausch fand, die plötzliche Erinnerung an etwas, was sie schon in der Hand hielt und ausgesprochenste Verachtung vor solcher unerhörten Heuchelei.

Langsam trat sie vor ihm zurück, maß ihn von oben bis unten mit einem stolzen Blick und sagte hohnlächelnd:

»Allgemeine Menschenliebe! Und das predigt der Mensch mit dem Tone der Unschuld eines Joseph in Ägypten! Heuchler! Abscheulicher! Da!«

Und mit diesen Worten flog plötzlich aus ihrer Hand, nur von einem kurzen Ruck geschnellt, ein Gegenstand mitten auf den Tisch, ein Gegenstand mit blauseidener, etwas beschädigter Franse!»So! Und jetzt wirst du mich wohl verstehen!«

Sie beobachtete ihn mit dem Ausdrucke, der die geheimsten Falten der Seele zu durchschauen gewohnt ist.

Der Oberlehrer sah den Gegenstand, warf ihr einen ernst fragenden Blick zu und nahm den betreffenden Gegenstand in die Hand. Er wendete ihn mehrmals hin und her, indem er ihn halb gebückt vor die Lampe hielt. Dann sagte er in einem Tone, der den Mangel jedweden Verständnisses der Situation verriet: »Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Von mir hast du doch nie so etwas geschenkt bekommen!«

Er sah Laura so verständnislos an, daß diese, im Zusammenhang mit allem anderen, auf einmal eine unheimliche Vorstellung übermannte. Konnte ein 390 Mensch mit fünf gesunden Sinnen so heucheln? Sie mußte unwillkürlich an die alten Messer, an die Zahnbürste denken. Sollte sie am Ende doch ihr Mädchen im falschen Verdacht gehabt haben. Sollte ein ganz anderer – in einem Zustande geistiger Störung – es gab ja Störungen geistiger Art, wo man allerhand solches altes Zeug sammelte und sorgfältig in Kästen versteckte – sollte ihr eigener Mann –?!

Sicher war die Gleichgültigkeit, mit welcher er seine öffentliche Schande trug, an sich schon nicht ganz normal. Oder sollte es doch eine abgrundtiefe Heuchelei sein? Plötzlich aber glaubte sie die Gegenfrage des Mannes ganz zu verstehen:

»Was meinst du damit: »Von mir hast du doch nie so etwas geschenkt bekommen?««

Sie richtete sich hoch auf. Sollte er so raffiniert sein, seine eigenen Abenteuer zu entschuldigen dadurch, daß er es wagte anzunehmen –?!

Der Oberlehrer war viel zu harmlos, den Sinn ihrer Gegenfrage zu verstehen. Wollte sie ihm durch Zuschleuderung des betreffenden Gegenstandes die Loslösung ihrer Liebe zu verstehen geben?! Stillschweigend legte er den natürlichen Gegenstand wieder auf den Tisch und sagte:

»Ich muß noch etwas an die frische Luft gehen, Laura. Ich finde dich in einer Stimmung – und ich selbst bin auch in einer Stimmung – ich könnte mich vielleicht vergessen – bin vielleicht überhaupt 391 schon etwas zu weit gegangen – in einer Stunde etwa – gute Nacht, Laura –!«

Er schüttelte den Kopf und ging ruhig und gelassen wieder zum Zimmer hinaus. Starr hörte sie ihn draußen poltern, die Türen aufschließen und wieder fortgehen. In tiefster Erregung nahm sie dann das Korpus delicti wieder an sich, indem sie überlegte, daß es bei Einleitung eines Scheidungsprozesses für ihren eventuellen Rechtsanwalt ein wichtiges Dokument und Beweisstück werden konnte. Und in einem dunkeln Gefühle, daß noch weitere Katastrophen bevorstünden, begann sie in aller Eile einen kleineren Handkoffer mit den wichtigsten Gegenständen zu packen, um für alle Fälle bereit zu sein. –

Eine Stunde später kam Alfred – es mußte nach seiner Berechnung schon gegen morgen sein – nach Hause, legte sich zu Bett und schlief sogleich fest ein mit dem bestimmten Vorsatz, nie mehr ein Gedicht zu machen und die ganze Auflage seiner Poesieen noch am nächsten Morgen durch den Verleger einstampfen zu lassen. Mit diesem Bewußtsein schlief er so gesund und fest, daß er erst kurz vor Beginn der Schulzeit aufwachte. Er kleidete sich rasch an und entdeckte dabei zu seiner Verwunderung, daß das Bett seiner Frau völlig unberührt war. Eiligst machte er sich fertig, um zu sehen, wo sie wäre. Als er die Tür des Speisezimmers öffnete, sah er sie noch fast vollständig 392 in den Kleidern, nur ein wenig gelöst, im tiefen Schlummer auf dem Divan liegen.

Das arme Weib! dachte er, indem er vor sie hintrat und die Schläferin betrachtete. Wie schön sah sie aus! Er mußte ihr doch wohl recht weh getan haben.

Indessen die Pflicht rief. Es war höchste Zeit, zur Schule zu gehen. Leise schlich er aus dem Zimmer hinaus, um die Schläferin nicht zu stören. Und ohne Frühstück kam er in seiner Mädchenklasse an. Dort wußte niemand, wer Rolf Olafsohn war, da fühlte er sich sicher und geborgen vor der Welt, vor dem Ehrgeiz, vor dem Ruhm und all seinen Schattenseiten.

Am Abend war große Gesellschaft im Sternschen Hause. Anfangs hatte Laura absagen wollen. Dann aber sagte sie sich, daß man sich nur damit eine Blöße geben würde. Nein, die begonnene Rolle mußte fortgespielt werden.

Es war ein peinlicher Abend. Niemand war so unhöflich gewesen abzusagen, zumal manche die Zeitungen gar nicht gelesen hatten. Es kamen sogar ein wirklicher Dichter und ein Künstler, auch der litterarische Vereinsvorstand. Aber die Gedichte von Rolf Olafsohn wurden mit keinem Worte erwähnt. Mit größtem Taktgefühl machte jedermann der Wirtin den Hof. Der Hausherr wurde nur wenig beachtet. Laura fühlte die Situation unmöglich werden, zumal sie sah, daß Stern sehr viel trank. 393

Die Gäste empfahlen sich früher als gewöhnlich. Man hatte niemals bei Sterns so schlecht gegessen. Denn mochte es ein Gefühl der Rächung an der Welt oder eine Absicht der Demütigung für ihren Mann sein, Laura hatte nur ganz ungenügend für das leibliche Wohl ihrer Gäste gesorgt. Kartoffelsalat, russische Rollmöpse, Endiviensalat, Pfeffergurken und Senfgurken – eine ganze Auswahl von lauter sauren Gängen. Dazwischen nur ganz dürftige Delikatessen. Hatte man eine saure Sache genossen, so wurde sogleich eine andere Essigsache herumgereicht, sodaß allmählich die Kaumuskeln der Gäste an den Wangen sich leise zusammenzogen wie Milch, wenn man einen Kalbsmagen hineinwirft.

Allmählich wurde man stiller und stiller. Der Oberlehrer merkte die Peinlichkeit der ganzen Lage, und um die verstimmende Wirkung der vielen Säuren zu vertreiben, heuchelte er eine große Lustigkeit und räumte den Weinkeller mit seinen besten Marken aus. Mit heimlichem Grauen sah Laura diese rücksichtslose Verschwendung. Alfred schenkte den Gästen immer wieder ein, nötigte zum Trinken, und da er keine Gegenliebe fand, trank er selbst mächtig darauf los, bis er von neuem in eine Weltseligkeit wie am Abend vorher geriet. Er hatte noch eine ganze Batterie von Flaschen um sich aufgepflanzt. Laura versuchte vergeblich durch Blicke und Winke Einhalt zu tun, endlich ließ sie, ziemlich auffällig, durch den diensthabenden Geist der langen 394 Emilie eine Flasche nach der anderen aus der Nahe ihres Mannes wegnehmen und hinaustragen. Diese Manipulation wurde indessen von den Gästen bemerkt, und um der peinlichen Situation ein Ende zu machen, erfolgte sehr bald ein allgemeiner Aufbruch, der Laura wie die tiefste aller Demütigungen für sich und ihren unbedeutenden Mann vorkam.

Als die Leute sich verabschiedet hatten, kehrte der Oberlehrer an die Speisetafel zurück und setzte sich vor eine frisch angerissene Flasche Wein, indem er noch eine andere von der Mitte der Tafel sich dazu zu retten suchte. Er wollte nichts sagen, obwohl die schwere Demütigung, die für ihn in der schlechten Bewirtung der Gäste gelegen hatte, ihn innerlich zum Kochen brachte. Aber er wollte ein Mann bleiben, sich nicht hinreißen lassen, Kaltblütigkeit und Ruhe bewahren. Und das beste Mittel war, einfach allein und still weiter zu trinken, bis man zu Bett ging.

Indessen Laura und das Schicksal hatten es anders beschlossen. Es war vielleicht ein letzter Rest aufwallender Liebe und Neigung, daß sie nach einer kurzen Weile zu ihm an den Tisch trat. Und gerade als er im Begriff war, ein Glas an den Mund zu setzen und auf einmal auszutrinken, nahm sie ihm mit zwei festen Griffen beide Flaschen mitten im Trunke weg.

»Es ist genug für heute!« sagte sie kurz und hart. »Ich mag nicht wieder diese Nacht im Speisezimmer auf dem Divan schlafen.« Und damit war 395 sie schon mit den Flaschen am Büffet und schloß sie kurz entschlossen ein.

Jetzt aber brach bei dem Oberlehrer selbst das Donnerwetter los.

»Gib die Flaschen her!« rief er wild, indem er sich am Tisch erhob. »Gib die Flaschen her! Ich befehle es dir!«

»Was hättest du mir zu befehlen!« sagte sie geringschätzig mit den Achseln zuckend.

»Gib die Flaschen heraus!« sagte er bebend und bleich vor Erregung. »Diese Behandlung übersteigt alle Begriffe! Du behandelst mich ja wie einen Seminarschüler! Und alles nur, weil deine leichtfertigen Gedichte nichts taugen!«

»Meine Gedichte?« Sie schlug ein kurzes Hohnlachen an. »Am Ende habe ich sie gar gemacht! Das nenne ich männlich, wenn man seine eigenen Sünden anderen in die Schuhe schiebt! – O!«

Alfred wurde lauter: »Na, wer hat mich denn dazu aufgehetzt? Wer hat mich denn in Versen waten sehen wollen, wie Macbeth in Blut watete? Ha! Wer hat mich denn angestiftet, ganze Armeen von Versen zu morden, daß sie dir nun erscheinen, als wären sie Banquos Geist? Sei froh, daß ich wenigstens den Humor habe, mir selbst weiter keine Vorwürfe zu machen! Aber jetzt gib die Flaschen heraus, denn sonst geschieht ein Unglück!«

»Du drohst also?« rief sie mit stärkerer Betonung. »Wüstling!« Und damit schloß sie die Büffettür ab und steckte die Schlüssel in die Tasche. 396

Jetzt folgte eine schwere, dumpfe Pause des Schweigens. Der Oberlehrer fühlte sich nahe daran, seine Frau zu behandeln wie ein Schulmädchen. Indessen er beherrschte sich, rührte sich nicht vom Platze, und endlich sagte er mit ruhigerm Ton: »Ich muß noch etwas an die frische Luft gehen. Das wird das beste sein.«

Laura fuhr zusammen. Der Mann schien ihr überhaupt schon zu sehr voll Weines. Wenn er jetzt fortging, würde er wahrscheinlich anderweit noch mehr trinken und sie dadurch in der ganzen Umgegend kompromittieren. Denn in der Nachbarschaft wußte man doch, daß Gesellschaft gewesen war, und wenn er nun noch hinterdrein im Wirtshaus gesehen wurde, so konnte nur auf sie ein fatales Licht fallen. Denn so stellte sie sich die Sache vor, da ihr das Gewissen wegen der vielen Essiggerichte nachträglich schlug.

»Du wirst nicht fortgehen!« sagte sie sehr bestimmt. »Das schickt sich nicht für dich!«

»Was? Nicht fortgehen?« rief er auffahrend. »Na, das wollen wir denn doch einmal sehen. Vorläufig bin ich noch Herr im Hause und werde tun, was mir gefällt –!«

»Alfred, du wirst nicht –!«

Es lag beinahe ein Ton von Reue und Abbitte in dieser ihrer letzten Warnung. Aber es war zu spät. Stern hatte bereits die Stube durchschritten und war in das anliegende Schlafgemach getreten, 397 um sich vor dem Toilettespiegel etwas zum Fortgehen herauszuputzen.

In diesem Augenblick übermannte sie ein verzweifelter Entschluß, in dem Geringschätzung des Mannes, ein Rest von natürlicher Liebe und die Angst vor der gefürchteten Blamage durch sein Weggehen sich auf das Seltsamste mischten. Sie besann sich, daß das Schlafgemach nur diese eine Tür hatte. – Im Nu war sie mit einem starken Entschlusse an der Tür, zog sie rasch zu und drehte heftig den Schlüssel um, den sie sofort in ihre Tasche steckte. Dann setzte sie sich gelassen auf den Divan.

Erst nach einem Weilchen wurde die Klinke der Tür gedrückt. Sie sah, wie sich die innere Klinke mit bewegte. Und als die Tür nicht aufging, klappte die Klinke innen plötzlich mehrmals rasch nacheinander auf und ab. Sie erbleichte in unbestimmter Furcht.

»Na, was ist denn das!« rief er drinnen. »Mach doch auf! Die Tür ist ja zugeschlossen. Ich will fort!«

»Du wirst zu Hause bleiben!« sagte sie laut, indem sie sich kerzengerade vom Divan erhob. »Ich werde nicht aufschließen. Geh zu Bett und schlaf!«

Eine Weile war es nach diesen Worten ganz still drin. Dann aber erfolgte ein plötzliches, wildes Getrommel mit Fäusten auf die Tür und dazu ein lautes, brüllendes Befehlen, aufzumachen. Eine kurze Stille, und dann von neuem eine wahre Kartätschenkanonade von Faustschlägen auf die Tür. 398

Jetzt wurde ihr angst. Die ganze Nachbarschaft mußte von diesem Lärm zusammenlaufen. Ein förmlicher Haß bemächtigte sich ihrer, daß der Mann es wagen konnte, sie auf diese Weise durch seinen Lärm bloßzustellen. Aber sie blieb hart. Sie rief: »Ich mache nicht auf! Am wenigsten, wenn du hier die ganze Nachbarschaft zusammentrommelst, Wüstling!«

Wieder eine kurze Stille. Dann draußen ein neuer dumpfer, schwerer Schlag auf die Tür, ein plötzliches fibrierendes Auf- und Abbewegen der Türklinke und dazu die laut gebrüllten Worte: »Das ist Freiheitsberaubung! Aufmachen! Aufmachen! Darauf steht Gefängnis! Das ist widerrechtliche Entziehung der Freiheit! Zum Dreidonnerwetter noch einmal! Das ist Freiheitsberaubung!«

Laura stand wie angewurzelt im Zimmer. Sie wollte schon aufmachen, als es wieder plötzlich ganz still wurde draußen. Angstvoll lauschte sie. Eine Weile verging. Dann auf einmal ein lautes Klirren wie von einer eingeschlagenen Fensterscheibe. Dann ein Poltern und im nächsten Augenblick ein dumpfer Fall, wie als ob es aus dem Garten gekommen wäre. –

Einen Augenblick wagte sie sich nicht zu regen. Dann aber stürzte sie auf die Tür, riegelte auf und riß sie auf.

Doktor Alfred Stern war verschwunden und das Fenster stand weit offen, während der Nachtwind 399 durch eine ganz überflüssiger Weise zerschlagene Fensterscheibe hereinblies.

Laura warf einen entsetzten Blick hinaus. Dann wankte sie halb bewußtlos nach dem Divan zurück, auf den sie mit Tränen der Wut sich, in sich zusammenbrechend, niedersetzte.

Nach einer Weile lauschte sie. Vielleicht würde er doch wiederkommen. Vielleicht hatte er doch noch einen Rest von Achtung und Scham. Sie wartete fast eine Stunde. Aber er kam nicht.

Da erhob sie sich bleich und gelassen und schritt mit dem Gefühle, daß die unausbleibliche Katastrophe nunmehr eingetreten sei, hinaus, um den bereits fertig gepackten Handkoffer aufzunehmen. Dunkle Vorstellungen von einem Scheidungsprozeß, vom Hause ihres Vaters, das jetzt ihre einzige Zuflucht war nach der tiefsten Enttäuschung all ihrer Hoffnungen, jagten sich dabei in ihrem Geiste.

Als der Oberlehrer Doktor Alfred Stern nach einem nächtlichen Spaziergang im Freien abgekühlt und mit den versöhnlichsten Gefühlen von der Welt wieder nach Hause kam, mußte er zu seinem Schrecken sich überzeugen, daß Frau Laura Stern im ganzen Hause nicht zu finden war, obwohl er sie noch ziemlich eine Stunde lang in allen Zimmern, im Keller und zuletzt gar oben auf dem Trockenboden gesucht hatte. 400

 


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