Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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II.

Mitten in der Stadt, nicht weit vom Rathause, saß man in einer Weißbierstube beisammen um den runden Gasttisch. Das war eine hochansehnliche Gesellschaft. Denn das war der Tischlermeister Ulbrich, der im Nebengeschäfte auch 14 wohlklingende Leierkasten vermietete, da er aus angeborener Vorliebe für die Musik sich vor zehn Jahren zu seinem Privatvergnügen einmal eine Drehorgel gekauft hatte, um sich abends in seiner Werkstatt zwischen seinen Leimtöpfen einen idyllischen Kunstgenuß zu verschaffen. Er war ein kleiner schmächtiger Mann mit einer Stumpfnase und einem semmelblonden Barte, dem man das Künstlerische schon an der Art ansah, wie er sich seine straffen Haupthaare manchmal mit der Hand zurückstrich. Ursprünglich hatte er mit seinem fünfzigsten Jahre das Klavierspielen lernen wollen, und um bei seinen Fingerübungen ein Klavier nicht zu sehr zu strapazieren, hatte er sich eine stumme Holzklaviatur gekauft, auf der er die ersten Notengriffe versuchte. Aber es stellte sich heraus, daß seine Finger durch das edle Tischlerhandwerk zu schwielig und ungelenkig geworden waren. Besonders der Daumen verwickelte sich beim Untersetzen stets mit dem Goldfinger und mit dem kleinen Finger, und die linke Hand kam selbst beim Anschlagen der einfachen Tonleiter nie zum rechten Bewußtsein über das, was die rechte tat. Da in den Fällen, wo der Herr Tischlermeister seine Hände auf ein leibhaftiges Klavier gelegt hatte, die Tonleitern klangen, wie wenn ein Baugerüste in sich zusammenkracht, so hatte er, von Selbsterkenntnis erfaßt, es vorgezogen, lieber das Drehorgelspiel zu erlernen. Das war weniger anstrengend. Man brauchte nur den Griff anzufassen und langsamer 15 oder schneller zu drehen, so war auch schon die Musik fix und fertig da, wie ein paar Stiefel in der Schuhfabrik. Und so hatte Herr Ulbrich es vorgezogen, sich auf diese Weise musikalische Sonntagsgenüsse zu verschaffen. Nach einiger Zeit aber hatte Herr Ulbrich bemerkt, daß seine Drehorgel eigentlich doch nur fünf Stücke spielte und daß das tägliche Anhören dieser Melodien auf die Dauer den menschlichen Geist ermüdete. Da war er auf die Idee gekommen, durch Anschaffung eines zweiten Leierkastens sein Repertoir zu vergrößern. Er berechnete, daß der Gang seines Geschäftes ihm diesen Luxus gestattete, obwohl seine Ehehälfte in einer fortgesetzten weiteren Vergrößerung des Repertoires durch Anschaffung weiterer Drehorgeln den wirtschaftlichen Ruin des Hauses mit Kümmernis voraussah. Unter diesen Umständen war nun der Meister eines schönen Tages auf den Gedanken verfallen, ob man nicht den Ankauf einer dritten Drehorgel vor der besorgten Gattin damit rechtfertigen könne, daß man durch öffentliche Ausnutzung der bereits gekauften das darin angelegte Kapital verzinse. Damals hatte bei dem Meister ein Tischlergeselle gearbeitet, der sich schon viel auf der Wanderschaft und in den Herbergen als erfahrener Walzer bewährt hatte. Und der hatte gesagt, an einem Sonntagabend, als Ulbrich beide Drehorgeln mit ihrem ganzen musikalischen Reichtum vorgeführt hatte:

»Meester, wenn Sie nischt dawider haben, denn 16 will ick mal morgen 'nen besondern blauen Montag machen und mit die schönere von Ihren beiden Drohorgeln in Berlin hausieren gehen. Die Einnahme müssen Sie aber mir überlassen.«

Als der Geselle am Abend zurückkam, hatte er mehr als zwei Taler beisammen. Von dem Augenblicke an hatte sich Herr Ulbrich gesagt, daß er durch Vermietung seiner beiden Leierkästen an invalide, sichere Leute, womöglich solche, die eine Militärmedaille oder gar ein eisernes Kreuz hatten, seine Drehorgeln nicht nur verzinsen, sondern auch fortgesetzt durch allmähliche Anschaffung neuer Instrumente seine häuslichen Musikfreuden zu bedeutender Reichhaltigkeit steigern könnte. Nun hatte er einen Vetter, der war bei der Polizei als Schutzmann angestellt. Diese höhere Konnexion wußte zu bewirken, daß sehr bald eine Reihe alter Herren sich bei ihm meldeten, welche teils durch Kriegsgeschicke des einen Beines oder des anderen Armes ermangelten, teils durch Verlust ihres Augenlichtes oder sonstige körperliche Katastrophen veranlaßt, die Neigung verspürten, durch Drehung eines Leierkastens in Stadt und Land Beiträge zu ihrem Unterhalte zu sammeln. Gegen Ablieferung eines bestimmten Mietsgeldes für den Kasten waren die ersten Invaliden mit Herrn Ulbrichs Instrumenten ausgezogen und hatten die Sache bald in Flor gebracht, sodaß Herr Ulbrich schon nach vierzehn Tagen das Risiko einging, eine dritte Drehorgel zu kaufen. Der Betrieb hatte sich 17 im Laufe von wenigen Jahren dahin entwickelt, daß Herr Tischlermeister Ulbrich im Nebengeschäfte zwanzig Drehorgeln besaß, die er jeden Montag und Freitag an gut empfohlene Hausierer vermietete für Berlin, während er an anderen Tagen sie auch fürs offene Land und die Provinz vergab. Das Geschäft brachte etwas ein, und daß es so war, erhärtete Herr Ulbrich damit, daß er sich als Großunternehmer fühlte, der äußerst sparsam lebte, indem er schon über eine Stunde lang bei einer kleinen Weißen saß.

Diese seine Lebensgeschichte hatte er mit einiger Genugtuung seiner Tafelrunde erzählt, die sich dadurch malerisch kundtat, daß auf dem altmodischen runden Tische mehrere große Weißbiergläser standen, groß wie Waschschüsseln, daneben etliche Schnapsgläser. In der Mitte eine große Schnupftabaksdose, ein schweres Streichholzgestell und ein Zierfäßchen für die Zigarrenasche. Hinter den großen Weißbiernäpfen aber, fast verdeckt durch die Bauchgläser mit den goldigen Bierlachen darin, saß der Studiosus August Mochow, ein behender junger Mann von klugem, geschäftsmäßigem Gesichtsausdruck und einer Allerweltsgescheitheit, die ihm sozusagen auf der Stirn geschrieben stand. Er reichte Herrn Anton Pullrich, Drehorgolfabrikant und gleichfalls Drehorgelverleiher, ein frisch angezündetes Streichhölzchen, um dessen angebrannte Zigarre neu aufzufrischen, worauf er den brennenden Rest seinem anderen Nachbar, dem Herrn Holz- 18 und Kohlenhändler Wienecke reichte, der von mancherlei Kohlenfuhren ein etwas schwärzlich gebeiztes Gesicht und Hände hatte, die aussahen, als pflege er schwarzabfärbende Handschuhe zu tragen. Obwohl nun das abbrennende Streichholz zwischen den Fingerspitzen des Herrn Wienecke verglühte, was dieser bei der hufigen Natur besagter Fingerspitzen kaum empfand, so fühlte er sich doch sichtlich in eine Sphäre höherer, geistiger Intelligenz emporgehoben durch die überaus schmeichelhafte und ehrende Zuvorkommenheit eines studierten jungen Mannes, der alte Sprachen beherrschte, Archäologie und die Wissenschaft von lauter schönen, weißen Statuen betrieb. In der Geschichte aller Zeiten und Völker war er belesen, Sozialpolitik und Wirtschaftslehre verstand er, und wie man wußte, trieb er zurzeit auch Türkisch und Chinesisch auf dem orientalischen Seminar, um sich dereinst als Dragoman oder chinesischer Dolmetscher im Dienste des Deutschen Reiches nützlich zu machen, vielleicht aber auch in Griechenland als Archäologe ein neuer Schliemann zu werden. Der Abglanz höherer Gefühle, welcher durch die Gefälligkeit des Studenten auf den Kohlenhändler gefallen war, strahlte auch aus den Mienen des Herrn Ludwig Heinicke wieder, der im Großen Berliner Adreßbuch seines Zeichens als »Invalide« figurierte und in der Tat durch den Mangel des linken Unterbeins jenes Amt, Invalide zu sein, rechtfertigte. Da er aber eine lange Hose trug, aus der nur unten das 19 Stockbein herausschaute, so konnte man am Kneiptisch unmöglich erraten, daß er sich solche Verdienste ums Vaterland erworben hatte, wie ihm denn auch niemand ansah, daß er gleichfalls zum Stande der Drehorgelverleiher gehörte, welche hier in der Tafelrunde als eine Art Aristokratie von Arbeitgebern die Majorität bildeten. Dieser Mann hatte einen alten, abgetakelten Gehrock an, in dessen Knopfloch ein farbiges Bändchen steckte. Herr Heinicke erschien deshalb immer in einem alten Gehrock, weil er einmal gehört hatte, daß ordenbesitzende Menschen das Bändchen nur im Knopfloch des Gehrocks zu tragen pflegen, weshalb er sich bei Trödlern abgetragene Gehröcke zu erstehen pflegte, um seinem Medaillenbändchen zu Ehren in Gesellschaft immer standesgemäß erscheinen zu können.

Der Studiosus hatte mit Genugtuung bemerkt, wie gehoben sich die Tafelrunde durch seine Gefälligkeit fühlte, und da er als ein sparsamer, junger Mann in diesem Kreise gewohnt war, die Wurst nach der Speckseite zu werfen, so sagte er in Bezug auf die Erzählung des Herrn Ulbrich:

»Man sieht aber doch wieder einmal, wie der Drang nach was Höherem aus dem Menschen auch äußerlich etwas macht, wenn er nur das Ideale mit dem Nützlichen zu verbinden versteht. Denn wenn Herr Ulbrich nicht so ein außerordentlicher Musikschwärmer gewesen wäre, so würde er schwerlich hier sitzen unter so gebildeten Männern!« 20

Auf diese Worte schlug der wohlbeleibte Herr Pullrich heftig mit der Hand auf den Tisch und rief:

»Alles, was recht ist! Aber jetzt, Herr Student, müssen Sie noch 'ne Weiße auf meine Kosten trinken. Denn Sie sind ein höchst einsichtsvoller, junger Mann, Sie haben die richtige Lebensart und werden's in der Welt noch zu etwas Großem bringen. Herr Wirt, eine große Weiße und Maiwein drin!«

»Und ich pfeffere Ihnen einen Schnaps, junger Mann,« sagte Herr Heinicke, indem er in die Hosentasche griff und mit seinem Portemonnaie spielte, »denn Sie haben wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn sehen Sie, Herr Student, ich habe ja auch sozusagen von der Pike an gedient. Nach meiner Blessur 1870 war ich ja sozusagen vollständig unten durch. Aber weil ich Unteroffizier gewesen war, hatten ein paar hochadelige Damen, die von mir gehört hatten, eine Sammlung zu wohltätigen Zwecken veranstaltet und schenkten mir von dem Gelde eine funkelnagelneue Drehorgel, die sehr gut klang und auch gar nicht knarrte. Und die Frau von Pannwitzen, die dabei war, als das Geschäft sie bei mir ablieferte, sagte:

»Nun, lieber Mann, wandern Sie damit nur fleißig in Berlin herum, denn es haben mehrere Damen und Herren bei Hofe auch dazu gegeben, und eine historische Persönlichkeit ist auch darunter.« Historische Persönlichkeit, hat sie gesagt, so wahr ick Heinicke heiße. »Und kommen Sie dann an allen 21 Spieltagen nur auf unsern Hof und spielen Sie unten, denn ich höre nichts lieber, als so'n Leierkasten drehen, weil ich da an all' die Invaliden und Verwundeten denken muß und an die vom höchsten Adel, die in der Schlacht geblieben sind, und an die schöne Wohltätigkeit dazu. Und darum orgeln Sie nur in unserem Hofe auch immer.« Na, das habe ich denn getan und es gab immer ein hübsches Spielgeld, das mir manchmal der Diener, manchmal das Stubenmädchen herunterbrachte und manchmal auch die gnädige Frau selbst in Papier gewickelt herunterwarf. Na, ich kam denn so in die bessere Aristokratie hinein und konnte denn überall in den Höfen spielen, besonders, wo sie was zu meiner Drehorgel gegeben hatten. Und sie schätzten mir besonders hoch, weil ich ja 1870 mitgewesen war. Und ick konnte auch von meiner Orgel ganz gut leben, weil meine Kundschaft aus höherem Mitjefühl immer gut gab. Na, und denn nach einer Anzahl von Jahren, als mein Kasten anfing, nachzulassen, petitionierte ich bei diese bessere Aristokratie um eine neue Drehorgel, damit sie bei ihrem anjeborenen feineren Jehör sich keine Nervenüberanstrengung dabei holten. Und da haben sie wirklich noch mal zusammenjelegt und mir wieder in Hinblick auf meine Verdienste ums Vaterland einen neuen Kasten geschenkt. Na, damit bin ich denn wieder losgezittert in die vornehmen Viertel von Berlin, wo man damals noch mit gebührender Pietät angehört wurde. Meinen 22 alten Kasten konnte ich aber nun an die Hausierer vermieten und vom Erlös mir allmählich sparen, um neue Kasten zu kaufen. Und da ist denn auch einer zum anderen gekommen und ich brauche jetzt auch nicht mehr selber vor die Häuser zu gehen, sondern habe mir als Arbeitgeber etablieren können infolge meiner ehemaligen Beziehungen zur besseren Aristokratie.«

Der Student hatte mit ehrfürchtiger Bedachtsamkeit diese Mitteilung angehört, der Wirt hatte ihm Schnaps und Weißbier gebracht, jetzt sagte er, indem er das Schnapsglas hob:

»Herr Heinicke, wir sind hier ja wohl alle mehr für das Demokratische, denn aus dem Volke muß alles kommen, aber vor Ihren Beziehungen zur besseren Aristokratie alle Hochachtung!« womit er den großen Nordhäuser an die Lippen führte und mit einer energischen Halsbewegung hinter den Kragen goß.

»Und das war wieder sehr gut gegeben,« rief mit starker Stimme Herr Pullrich, indem er mit sittlicher Überzeugung auf den Tisch schlug. »Herr Student, wie wär's mit ein paar Sardinen oder einem Brathering oder einem schönen Gänseweißsauer, ick zahle allens, denn wir können et ja! Das nächstemal revanchiert sich Herr Ulbrich bei mir, da darf der Ihnen, zu Ehren der Wissenschaft, ein paar Weiße schmettern. Denn ohne Wissenschaft ist kein Fortschritt, wo wär'n wir denn!« 23 Das sollte ein Stich für Herrn Ulbrich sein, in Anbetracht seiner Knauserigkeit.

Der Studiosus sah mit achtungsvoller Miene nach dem Büffettisch des Wirtes, wo neben der großen, gebratenen Schweinskeule ein Kalbsbraten und Roastbeaf, Fleischklößchen, pannierte Koteletten, ein Bratheringsfäßchen, Sooleier, die angerissene Sardinenbüchse und andere Genußgegenstände verlockend prangten. Die angenehme Aussicht, die sich ihm eröffnete, sah er keinen Grund ein, leichtsinnig sich zu verschließen, er sagte mit einem lehrhaften bedächtigen Tone:

»Wenn es im Namen der Wissenschaft geschehen soll, so wüßte ich augenblicklich keine triftigen Gegengründe geltend zu machen. Ich habe ja noch eine halbe Stunde Zeit zum Kolleg, und Gänseweißsauer ist eine Sache, die immer mit Hochachtung zu verzehren ist. Denn was hätte eine Gans davon, in saurem Gelee zu liegen, wenn man ihr seine Zuneigung nicht durch tatkräftige Verzehrung bewiese? Die Wissenschaft kann dadurch nur gefördert werden. Die Aufmerksamkeit im Kolleg ist stets gesteigert, wenn das Gehirn entsprechend genährt ist. Und eine griechische Venus ist noch einmal so schön, wenn man eine Gans im Magen hat!«

Herr Pullrich gab dem Wirte einen Wink, indem er mit dem Zeigefinger heftig auf das Gänseweißsauer hindeutete. Der Wirt verstand den Wink. Er nahm mit wohlwollender Gelassenheit einen 24 schönen Gansschenkel aus dem Fäßchen, legte ihn auf den Teller und brachte ihn dem Studenten.

In diesem Augenblicke begann hinten im Hofe, nach dem das Seitenfenster der Gaststube hinausschaute, der Gesang eines Leierkastens hörbar zu werden. Die Tage waren schon kurz und draußen begann es zu dämmern. Ein Abglanz des rötlichen Abendscheins fiel aus dem grauen Nebeldunst, der über dem Hofe stand, in die Fensterscheiben, während der Wirt über dem Gasttische die Gasflamme aufdrehte und sie anzündete, daß sie leuchtend aufpuffte. Der rötliche Abendschein draußen und das dünngoldige Gaslicht mischten sich zu einem zarten Zauberkranz, der im Bunde mit den Klängen des Leierkastens draußen auch die Stammgäste einen Augenblick verzauberte. Es entstand Feierabendstimmung. Man lauschte den wehmütig verzitternden Klängen der Drehorgel, während der Student schweigend und andächtig sich in die Verzehrung seiner Gänsekeule vertiefte. Die Drehorgelverleiher vergaßen auf einen Augenblick, daran zu denken, wieviel der Ertrag dieses Tages betragen werde, und empfanden statt dessen die Stimmung, welche Hunderte von Hausierern und Invaliden mit ihren und anderen Instrumenten in Tausende von Höfen hineintrugen, jene Stimmung des wehmütigen Abschiednehmens vom Leben, des traurigseligen Bleibens, der fernen Sehnsucht, welche über die steilen Brandmauern der Höfe, über die Giebel der Dächer weg ins 25 Unendliche des wandernden Wolkenlandes darüber sich verflüchtigen möchte, während die Walzertöne sinnend jenes Liebeswogen zu verkörpern scheinen. Die lange, andächtige Stille wurde erst durch Heinicke unterbrochen, der mit Beklommenheit sagte:

»Und keen Mensch weiß, wie lange wir noch mit unsere segensreiche Tätigkeit in Berlin dastehen werden. Es vermehren sich leider die Anzeichen, daß viele unmusikalische Hauswirte Gegner von die allgemeine Straßenharmonie sind. Sie verbitten sich immer mehr, daß man in die Höfe kommt mit den besten Instrumenten. Denn die allgemeine Moral in Berlin, die hat in den letzten Jahren sehr gelitten.«

»Na, Gott soll uns behüten, daß diese Unmoralität so weiter grassiert,« sagte erschrocken der Tischlermeister. »Böse Menschen haben keine Lieder – und wo sollte denn ick mit meinem ganzen Leierkastenmagazin hinkommen, wenn die Hausbesitzer keenen Ton mehr rinlassen in die Höfe? Die Kinderkens, die armen Kinderkens haben sie schon auf alle Gassen hinausgeworfen, daß ja in den Höfen kein Kinderlärm gehört wird, Teppiche klopfen auch schon nur ganz kurze Zeit! Und denn den ganzen Tag über alle Höfe nur een Kirchhof. Wenn da nicht mal mehr der Leierkasten zugelassen wird, denn kann man nur sagen, Berlin wird noch een eenziges Massengrab.«

»Ja, es wanken alle Grundlagen der Welt,« sagte der Student tiefsinnig. »Jetzt stellen sie in 26 und um Berlin, wenn's frische Wurst gibt, noch 'nen Stuhl heraus mit 'nem weißen Tuch darauf gebunden. Wer weiß, wie lange dieser uralte Brauch sich noch halten wird. Aber wenn der letzte Leierkasten aus Berlin abzieht, dann zieh ich selber mit. Denn ohne das käme ick mir vor in Berlin wie'n verlassener Waisenknabe.«

Draußen schwieg die Drehorgel, sie hatte für diesen Tag ihr Abschiedsliedchen gesungen. Der Wirt zog die Fenstervorhänge hinten nach dem Hof hinaus und vorn nach der Straße zusammen, und man rückte wieder in der alten Stimmung bei der Tafelrunde aneinander.

Die Tür tat sich auf und langsam schob ein alter Leiermann herein, mit seinem Kasten, hinter ihm ein altes, dickes Weib, das den Blinden langsam an einen Gasttisch bei dem Büffet hingeleitete, wo sich beide zaghaft und bescheiden niederließen, indem sie mit einem leisen »Guten Abend« die Honoratioren am runden Tische hinten respektvoll begrüßten.

»Na, Vater Kulicke, wie ist es denn heute gegangen? Geschäft gut, viel milde Gaben empfangen?« fragte mit einem elegischen Ton Heinicke, indem er an seinem Ordensbändchen zupfte.

Der Blinde seufzte nur. –

»Was? Schlecht gegangen bei dem schönen Wetter, wo die Kinder am liebsten um den Leierkasten herumtanzen und kein Tropfen Regen die musikalische Aufmerksamkeit stört?« 27

Der Blinde seufzte wieder, nippte an dem Schnapsglase, das der Wirt ihm hingestellt hatte und tappte mit der anderen Hand nach der Hand seiner Frau, indem er ziemlich laut flüsterte:

»Mutter, sag nischt.«

»Na, und warum soll ich nischt sagen?« sagte die Frau. »Wenn ich still bin, wird's ja immer noch schlechter bei einer solchen Konkurrenz.«

»Nee, Mutter, sag nischt,« wiederholte der Blinde mit lauter Flüsterstimme. »Es könnte doch der Herr Pullrich hier sein und da könnte es wieder dem Herrn Heinicke nicht recht sein.«

»Wer spricht hier von Pullrich? Wo ist Pullrich? Hier ist Pullrich, wer hat etwas mit Pullrich zu verhandeln?« rief der Drehorgelfabrikant vom Herrentisch hervor.

Da tat die Frau, als könne sie nicht recht mit der Sprache heraus. Dann aber begann sie darüber zu klagen, daß das Geschäft zusehends schlechter würde und die Einnahmen für ihren armen, blinden Mann immer mehr zurückgingen. Denn da sei ein junger Mann, Fritz Schaller, auch der Hinkefritze genannt, der mache seit einiger Zeit den armen, blinden und alten Leiermännern eine große Konkurrenz, indem er in die Höfe der großen Waschanstalten, der Plättanstalten und solcher Fabriken gehe, wo weibliche Arbeitskräfte tätig seien. Der habe so eine Manier, mit den Frauen und Mächens umzugehen, daß alle schon von weitem die Hälse reckten, wenn er auf dem Hofe erschiene. 28 Das sei ein Getue an den Fenstern und ein Gedahle und er schmeiße Kußhänder hinauf und manchmal bringe er sogar eine Düte Zuckerzeug mit, die gebe er dann den Mä'chens, wofür diese immer eine Sammlung veranstalteten und er für seine Leierei viel zu viel Geld erhalte. Nachher zankten sie sich um die Zuckerdüte und äßen sie zusammen ganz auf und redeten die ganze Woche von nichts anderem als vom Schallerfritz. Und in jeder Wäschanstalt oder Fabrik sei mindestens eine, die sich den Hinkefritze eingebildet habe bei seinen guten Einnahmen, und die mache dann bei ihren Kameradinnen Propaganda, daß die Mä'chen von ihren paar Pfennigen immer mehr herausrückten als sonst der Brauch sei. Komme dann am nächsten Leiertage ein armer Blinder mit seiner Frau auf den Hof, so sehe man schon, daß keine mehr etwas geben wolle und auch gar kein Mitleid mit dem armen Invaliden mehr aufkomme. Der Schallerfritze könnte wohl auch etwas Besseres tun, als mit dem Leierkasten hausieren und andere Leute ums Brot bringen. »Aber wat is et heutzutage mit die jungen Leute,« schloß die Frau. »Arbeeten will heutzutage keiner mehr, nur immer gleich oben hinaus, nur immer möglichst viel Geld zusammenscharren und jedes Mittel recht. Denn glauben Sie denn, daß der eins von den Mä'chens heiraten wird, die ihm ihre Sparpfennige nachwerfen? Aber so sind die Mä'chens, die lassen sich ausbeuten von jedem Kurschneider.« 29

Während dieser Klage der Frau hatte sich noch ein anderer alter Orgler in die Stube hereingedrückt und mit an den Tisch zu dem Blinden gesetzt und sagte nun mit heiserer Stimme:

»Ja, ja, so is et. Det janze Jeschäft jeht zugrunde. Wo der Schallerfritze 'rumgestanden hat, wächst keen Gras mehr. Und die Musike muß vor ihm auswandern jehen. Ja, ja, Herr Pullrich!«

Der also Angeredete verstand wohl den Wink, der in dieser Herausforderung seiner Persönlichkeit lag, denn der neue Rattenfänger von Berlin, der Fritz Schaller, entlieh ja seine Orgel von ihm. Vorläufig schmeichelte es ihm, daß jemand mit seiner Orgel und der geschilderten geschäftlichen Schneidigkeit so gute Geschäfte machte. Er rief daher rauh, indem er an seiner Zigarre paffte:

»Na, was geht denn das mich an? Wenn er so een Übermensch ist, daß er im Konkurrenzkampfe euch andern allen über ist, was hat das mit mir zu tun, daß ihr sagt ›Pullrich!‹ Na, denn bin ick eben ›Pullrich‹!«

Aus diesen Worten fühlte man aber doch etwas wie eine versteckte Selbstentschuldigung heraus. Da Herr Ulbrich den Stich in seine Knauserigkeit von vorhin noch nicht ganz überwunden hatte und der blinde Mann mit seiner Frau seine Klienten waren, da sie mit seinen Orgeln hausierten, so sagte er, indem er langsam an seiner Weißen nippte:

»Nun, ich würde allerdings nicht meine Orgeln an einen solchen Fludribums vermieten, wenn's so 30 steht. Ick würde ihm den Brotkorb höher hängen und meinen anderen Kunden nicht det Jeschäft verderben durch so einen, der ja doch wohl nichts weiter will, als sich über andere zu überheben, um denn auch mal als Orgelfabrikant und Orgelverleiher dazustehen und jelehrte Studenten mit's Jänseweißsauer freizuhalten.«

Da Herr Heinicke sogleich mit der Bemerkung einfiel, daß auch er einem solchen Individuum keine seiner Orgeln leihen würde, weil diese für alte verdiente und sonst verdienstunfähige Leute da sein müßten, so fühlte Herr Pullrich, daß sich urplötzlich in ihm gegen den Hinkefritzen eine starke Geschäftsopposition gebildet hatte. Er fühlte, daß hieraus eine Störung der Gemütlichkeit am Stammtisch sich entwickeln konnte, und erkundigte sich daher, was denn eigentlich dieser Fritz Schaller sei und was man ihm sonst nachzusagen habe. Und da wußte die Frau auch gleich Bescheid. Sein Vater sei Vorortkellner gewesen, seine Mutter habe einen kleinen Gemüsehandel in einer Kellerwohnung gehabt. Der Fritz habe nie etwas getaugt, auf der Schule schon habe er nichts gelernt, sei immer faul und faselig gewesen, habe für die Bäcker Frühstücksbeutel austragen sollen, aber diese immer verwechselt und das Frühstück immer schlecht besorgt, sodaß bei allen Herrschaften Klage über ihn gewesen sei. Als er aus der Schule gekommen wäre, sei ihm kurz nacheinander der Vater und auch die Mutter gestorben, er sei als Laufbursche in ein 31 großes Geschäft gekommen und habe als Schlafbursche bei einer armen Familie gelebt. Als Laufbursche habe er dann mit einem Transportdreirad den ganzen Tag in Berlin herumradeln müssen und da habe er auch gut getan, bis er eines Tags von einem elektrischen Straßenbahnwagen erfaßt und überfahren worden sei. Dabei sei ihm ein halber Fuß abgefahren worden, sodaß er seit der Zeit hinken und am Stock gehen müsse. Beim Militär hätten sie ihn nun auch nicht brauchen können. Eine Zeitlang sei er Schreiber gewesen, denn er sollte eine ganz gute Handschrift haben. Dabei habe es ihn aber nicht gelitten, denn es wäre ihm zu wenig Verdienst gewesen. Er aber wolle durchaus höher hinaus und da habe er denn angefangen seit einiger Zeit, nachdem er von seiner Schreibstube davongelaufen sei, nachts in der Stadt Streichhölzchen zu verkaufen, oder mit warmen Würstchen zu gehen, Ansichtspostkarten zu verkaufen und ähnliche solche Sachen zu machen, wozu er denn an Leiertagen mit Musik hausiere und wie man sehe, anderen besseren Leuten das Geschäft verderbe.

Eben wollte Herr Pullrich seine Meinung äußern, daß das doch eigentlich ein ganz tüchtiger, junger Mann sein müsse, als sich die Tür öffnete, und Fritz Schaller, mit dem Rücken zuerst, in die Türe hereinkam, um so seinen Leierkasten leichter herein zu bugsieren. Augenscheinlich hatte er aber schon durch ein Glas Bier eine heitere Stimmung 32 gefaßt, denn er blieb vor der Schwelle stehen und kratzte mit seiner Stockspitze auf dem Hufeisen herum, das auf der Schwelle festgenagelt war, und sagte:

»Na, Herr Wirt, was haben Sie denn da verloren? Bei Ihnen kommen jetzt wohl auch Pferde herein, um 'nen Schnitt Bier zu trinken? Hier hat ja eins seine Besohlung verloren!«

»Bloß Esel und alte Pferde kommen manchmal zu mir,« sagte der Wirt mit starker Stimme, »sehen Sie mal nach, ob an Ihrer Stiefelsohle nichts fehlt?«

Ein schallendes Gelächter der Anwesenden begleitete diese Worte des Wirts. Herr Ulbrich rückte sich herausfordernd auf seinem Stuhle herum, der Blinde saß mit spannend geneigtem Kopfe da, auch alle anderen schienen erwartungsvoll, was sich nun entwickeln werde.

Der Hinkefritze stellte erst seinen Kasten gelassen in die Stubenecke, dann sagte er, indem er wieder mit seinem Stocke auf dem Hufeisen herumstocherte:

»Herr Wirt, sehen Sie sich vor, das Eisen hat der Teufel von seinem Pferdefuß verloren, wie er's letztemal bei Ihnen eingekehrt ist. Sie wollen es bloß nicht zugeben, weil Sie sich vor den feinen Herrschaften genieren. Sie werden ihn schon kennen.«

»Da hätte der Teufel viel zu tun,« erwiderte der Wirt. »Denn es weiß jedermann, daß jeder 33 Gastwirt in Berlin das Wahrzeichen auf seiner Schwelle hat, sogar die feinsten Cafés im Westen.«

»Na ja,« sagte der Hinkefritze jovial. »Darum stolpern aber auch die feinsten Damen von Berlin über des Teufels verlorenes Hufeisen. Besonders beim Herausgehen, wenn sie Champagner getrunken haben. Der Teufel muß sich immer wieder von neuem beschlagen lassen. Bei Ihnen kehrt aber ein ganz besonderer ein, Sie werden ihn schon kennen – den Spielteufel –«

Schon wollten Herr Ulbrich und Heinicke wegen dieser Vorwitzigkeit dem Sprecher über den Mund fahren. Der aber merkte Unrat und sagte, indem er mit der Hand die Gebärde machte, als drehe er einen Leierkasten:

»Na, Sie wissen ja wohl, welchen Spielteufel ich meine. Denn solche Falschspieler sind wir ja hier meistens, wenn die Knarre ächzt. Und da heißt es denn von wegen die Konkurrenz der jüngeren Leute, wenn det Jeschäft nicht geht. Aber von der Falschspielerei kommt alles!«

Er hinkte mit diesen Worten ahnungslos nach dem Tisch der Herren im Hintergrund und wollte sich dort mit hinsetzen. Denn seit er sich unter der Voraussetzung, ein Mädchen, wie die Mine Löffler, könne ihn doch noch heiraten, in den Kopf gesetzt hatte, er wolle ein Millionär werden, fühlte er sich gewissermaßen schon als einen solchen und würdig, am Honoratiorentische zu sitzen. Er hatte an diesem Tage eine sehr gute Einnahme gehabt, 34 konnte Herrn Pullrich entsprechend abliefern und fühlte sich recht als Herr der Situation. Aber in diesem Augenblicke begann ein aufgeregtes Schelten des Wirtes, der ihm, ganz gegen altpatriarchalische Sitte in Berlin, erklärte, zu den Herren dürfe er sich nicht hinsetzen. Ein Schelten der Blindenführerin kam auf, daß er sich nun auch noch über arme Leute lustig mache, nachdem er ihnen allen Verdienst abgejagt, und ein mißgestimmtes Gerede des Herrn Ulbrich, der es nicht auf sich sitzen lassen konnte, daß er seinen Klienten mißtönende Orgeln vermietet habe, obwohl es an sich damit seine Richtigkeit hatte. Er wußte nicht wie ihm geschah in diesem wüsten Durcheinanderschelten, und merkte nur, daß man sich hier zu seinem Sturz verschworen habe, gerade jetzt, wo er ein gutes Fortkommen vor sich sah, besonders bei den schönen Plättermädchen von Berlin. Endlich stotterte er:

»Na, ick werde doch Herrn Pullrich meine Miete hier abzahlen können. Er macht ja ein feines Geschäft mit mir, ick bringe ja seine Orgeln in Schwung, daß man weiter gar nichts hören will. Was wäre denn Herr Pullrich ohne mir?«

»Wat, wat ick wäre?« schrie Herr Pullrich plötzlich auf. Er hatte bis dahin fast mit Wohlwollen den Hinkefritze angesehen und Neigung gefühlt, den jungen Mann gegen seine Angreifer zu unterstützen. Das war aber zu stark, das kam zu plötzlich, das brachte ihn selbst aus der Fassung. Der Studiosus sah, wie ein ganz sinnloser Zorn den 35 Orgelverleiher erfaßte, er hielt dies für einen geeigneten Moment, sich selbst ins Mittel zu legen, um sich für das Gänseweißsauer zu revanchieren, und rief dem anderen jungen Manne zu:

»Wie können Sie Ihre Stellung so verkennen, daß Sie sich nicht entblöden, einen gebildeten Mann, wie Herrn Pullrich, als von sich abhängig hinzustellen, wo Sie doch gänzlich von ihm abhängen? Wenn Herr Pullrich Ihnen kein Instrument mehr leiht, hier leiht Ihnen kein anderer Mensch mehr eine vernünftige Drehorgel! Sie mögen mit Streichhölzchen handeln, aber dem Leierkasten haben Sie sich nicht gewachsen gezeigt. Nachdem Sie sich nicht entblödet haben, Ihre Beziehungen zum weiblichen Geschlecht derart zu mißbrauchen, daß Sie durch Zuckerdüten und dergleichen hilflose, alte Leute um ihr trockenes Brot bringen, schwillt Ihnen die Hybris derart, daß Sie sich erhabener dünken als derjenige, der mit seiner musikalischen und technischen Bildung Ihnen ein leuchtendes Vorbild sein sollte? Wer sind Sie? Ein Bettelkitharoide sind Sie, ein heuchlerischer Musaget, ein Überbrettlabfall – das sind Sie!«

Diese Zurechtweisung des Studenten, obwohl sie diesem wenig ernst war, klang so gebildet und gelehrt, daß jedermann fühlte, der Schallerfritze müsse ein ganz besonders gefährliches Individuum sein, daher denn alles mit besonderem Nachdruck beistimmte und die Anmaßung des jungen Menschen zu strafen suchte. Dieser aber war durch 36 den unvermuteten Anfall von so gelehrter Seite dermaßen empört und bestürzt zugleich, daß er, mit dem gehobenen Stock fuchtelnd, schrie:

»Wat? Wenn ick ein hergelaufener Mussaget bin, denn sind Sie een Bandwurm, een Schmarotzerkerl, der sich vom Geld von die alten Philister durchfüttern läßt und auf Freibier schnorrt und sich auch noch lustig macht mit seiner Gelehrsamkeit über die ollen Krippensetzer. Denken Sie, ick lasse mir utzen?«

Er hatte diese Worte aber kaum herausgebracht, so war der Student auch schon vom Tische vorgesprungen und hatte den Redner vor die Brust gefaßt, indem er ihn mächtig schüttelte. Denn hier galt es, beleidigte Ehre sofort zu rächen. Nun war der Leiermann auch nicht faul, riß sich los, packte den Studenten bei den Beinen und suchte ihn umzuwerfen. Die rangen und schlugen auf einander los, bis sie beide plötzlich am Boden lagen, der Student unten, der Hinkefritze darüber, der den Studenten auf Brust und Arme knuffte und immer knurrte: »Wat, ick will dir zeigen, was ein Überbrettlabfall ist und wat ick für eine Hydra im Leibe habe.«

Ein allgemeiner Aufstand der Gäste war erfolgt, der Wirt wollte die beiden Kampfhähne auseinanderreißen. Jetzt aber hatte der Student sich wieder unten durchgearbeitet, schüttelte seinen Gegner am rechten Ohr und rief: »Warte, du Banause, du Zuckerdütenkrämer!« 37

Darauf ließ er ab und stand wieder auf. Auch der Hinkefritze erhob sich und sah ganz verdutzt um sich, daß er mit so einem gelehrten Studiosus an der Erde gelegen habe. Beide Gemüter aber waren besänftigt, nachdem sie sich auf diese Weise ausgearbeitet hatten. Und nach alter, guter Berliner Manier in Prügelsachen sagte der Hinkefritze, indem er dem Studenten schüchtern die Hand reichte: Na, nichts für ungut, Herr Student. Ick war Ihnen über und Sie mir auch. Na, denn is det Überbrettl quitt.«

»Na, is jut,« sagte der Student und winkte dem Wirt, daß er zwei Schnapsgläser einschenkte, welche die besänftigten Gegner sich gegenseitig kredenzten und mit einem heftigen Schluck in die Kehle stürzten.

Der Student sah nach seiner Uhr.

»Es ist höchste Zeit, ich muß ins Kolleg. Adjüs, meine Herren!«

Während er schleunigst hinauseilte, sah Herr Pullrich noch beim Büffetlicht, daß sein Schützling, der Student, eine große, blaue Beule über der Nase sitzen hatte. Die beiden Nordhäuser hatte er zu zahlen vergessen. Die Summe der Empfindungen hierüber bewirkte, daß Herr Pullrich, nachdem er die Zeche für sich und den Studenten bezahlt, sich tief verletzt vom Wirt den Überzieher anziehen ließ und mit strenger Miene zu Fritz Schaller sagte: »Heute haben Sie zum letzten Male eine Drehorgel von mir gedreht. Von den Herren 38 hier auch. Und Sie werden sehen, auch sonst in Berlin nicht . . . . Wer sich so gegen die klassische Bildung vergreift, den kenne ich nicht.«

Damit ging Herr Pullrich. Ihm folgten mit zustimmenden Mienen, ohne den Hinkefritzen eines weiteren Blickes zu würdigen, auch die übrigen Honoratioren, um den Schuldigen als einen aus dem Stande der Leiermänner Verstoßenen der eigenen, betrübten Nachdenklichkeit zu überlassen. –

 


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