Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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II.

Herr Ingenieur Hähnel war des Abends um neun Uhr noch einer Einladung des Professors zu einem Glase Bier gefolgt. Es galt einige Geschäfte des Chores zu erledigen, die man in dem nächsten Restaurant mit anderen Spitzen des Vereins zu besprechen pflegte. Aber nur eine halbe Stunde war der Ingenieur in der Kneipe geblieben. Er hatte sein Glas Bier nur halb getrunken, desto eifriger aber den Worten des bejahrten Meisters gelauscht. Dieser hatte bald seinen Gedanken freien Lauf gelassen über Musik und Richard Wagner, über Schopenhauer und Nietzsche, mit denen der Chordirektor sich viel beschäftigte. Er hatte dabei kein Hehl gemacht aus seinen freieren philosophischen 485 Ansichten und sich sehr unbefangen darüber geäußert, daß er von Gott und Unsterblichkeit, von Erlösung, Erbsünde und Gnade wesentlich andere Ansichten hege, als sie von den Pastoren und Predigern der Kirche ausgesprochen wurden. Ja, er betonte sein Heidentum mit einer gewissen heiteren Freudigkeit. Herr Hähnel hatte scheinbar mit gleicher Freudigkeit seines Mienenspieles diesen Ausführungen gelauscht, ja, er saß da wie ein Jünger des bejahrten Herrn, wenn er auch im stillen sich die Tatsache sehr scharf überlegte, daß ein so freisinniger Mann einen Kirchenchor leitete und gar nicht fürchtete, die ungewisse endgültige Anstellung, die schon seit einem Jahre auf sich warten ließ, könnte am Ende noch in Frage gestellt werden. Nachdem Herr Hähnel indessen genug erlauscht hatte von dem, was ihm in dieser Hinsicht interessant erschien, bezahlte er den Kellner mit der Erklärung, er sei leider gar kein Biertrinker, sei ermüdet und müsse nach Hause. Aber mit großer Freudigkeit verabschiedete er sich und verließ mit edel zurückgeworfener Locke das Lokal.

Gegen zehn Uhr abends betrat er seine Behausung. Er fand seine bleiche Gattin noch bei der Lampe sitzen, grüßte sie, schritt zu ihr hin und streichelte ihr etwas gönnerhaft das Haar. Sie blickte zu ihm auf, und ein Blick von Bewunderung traf ihn, Bewunderung ganz im allgemeinen.

Denn auf dem Tische lagen einige Pläne und Zeichnungen, die er aufnahm und ernst betrachtete. 486

»Nun,« fragte die Gattin gespannt, »ist die neue Erfindung heraus? Und wirst du ein Patent darauf bekommen?«

»Ach, was könnte ich sein, was könnten wir werden, wenn dieses Problem gelänge! Weißt du, Klärchen, der neue Kleiderraffer für Damen, das war ja sicher eine ganz hübsche Erfindung. Wenn man das hätte ausbeuten können! Und dann bloß lumpige dreihundert Mark von der Firma für das Patent. So muß ein wirkliches Genie sich nun durchschlagen!«

»Ach, du armer Mann,« sagte die Gattin, leise klagend. »Aber einmal muß es doch auch mit deinen Stücken werden! Wenn nur erst all diese falschen Größen gestürzt sind, diese Sardous und Ibsen, diese Nichtskönner! Gott, wie könntest du dich entwickeln! Und hunderttausend Mark Tantieme – bloß für ein Stück! Irgendwie mußt du doch mal durchdringen!«

»Na, gewiß werde ich durchdringen. Habe ich nicht mit dem Hutnagel schon recht nette Erfolge gehabt? Ein paar Pfennige bringt ein solches Patentchen doch immer, und ich zeige meine Erfindungskraft.«

Herr Hähnel betrachtete seine Zeichnungen genauer und erklärte seiner Frau, daß dies die Projekte zu einem neuen Ofen seien, mit dem man die Hälfte der Kohlenkosten sparen könne, indem durch völlige Ausnutzung des Wärmeleiters weit weniger Kohlen gebraucht würden. Wo dieser 487 Ofen eingeführt werde, da würden die Kohlenpreise rapid sinken. Frau Klara hörte seinen Erklärungen zu; sie verstand die neue technische Einrichtung zwar nicht, aber sie bewunderte ihren Mann nur um so mehr. Nachdem er ihr aber auseinandergesetzt hatte, er werde diesmal sein Patent nicht an einen Ausbeuter absetzen, sondern sich unmittelbar an die größte Kohlenhandelsfirma wenden, horchte die Gattin in ganz besonderer Aufregung. Denn er erklärte, daß er dieser Firma seinen neuen Ofen anbieten würde, damit sie die Ausbeutung desselben verhindere. Sie werde ihm ein hohes Abstandsgeld zahlen müssen, um ihn zum Verzicht auf die Ausnutzung dieser Erfindung zu bewegen. Die Leute müßten sich sagen, daß sie durch die entstehende geringe Nachfrage nach Kohlen Millionen verlieren würden. Also könne er etwa 50–60 000 Mark dafür verlangen, daß er die Erfindung zur Nichtbenutzung ihnen überlasse.

»Aber würdest du nicht ein viel besseres Geschäft machen, wenn du diese Erfindung lieber selbst ausbeutetest?« fragte Frau Hähnel etwas zweifelhaft.

»Dazu gehört Geld, nochmals Geld! Ja, wenn ich das hätte! Wenn mein schäbiger Alter für mich, seinen talentreichsten Sohn, einmal ein paar zwanzigtausend Mark übrig hätte! Aber da sitzt man! Ein Unmensch von Vater!«

Nein, setzte der langhaarige Ingenieur weiter auseinander, er werde das anders machen. Er 488 habe ja noch eine Erfindung, seine Haupterfindung, die er einst selber ausbeuten werde, abgesehen davon, daß sie ihm einen großen wissenschaftlichen Namen einbringen werde. Das war eine neue elektrische Mehlmahlmaschine, die ganz leicht war, nicht viel schwerer als ein Dreirad. Ein Mann brauchte darauf nur zu sitzen wie auf einem Dreirad und in das reife Korn hineinzufahren, so schnitt diese Maschine unten die Halme ab, während sie oben die Ähren einschlang, mit elektrischer Hilfe sie entschälte und unten in einem Behälter gleich das fertig gemahlene Mehl aufnahm. Herr Hähnel entwickelte, daß er mit dem Gelde, das er durch den Ofen von den großen Kohlenfirmen erhalten würde, dann imstande wäre, so eine Maschine zu bauen und auch einen Fabrikbetrieb auf eigene Rechnung einzurichten. Es würde eine Sache von vielen Millionen werden.

»Aber nun geh zu Bett, Frau! Ich muß noch ein paar Stunden dichten. Denn ist es nichts mit dem Ofen, nun, so dringe ich in der nächsten Saison als Dramatiker durch. Sowie das Stück fertig ist, veranstalte ich eine öffentliche Vorlesung. Durch den Chor bekommen wir leicht viele Zuhörer, die Sache spricht sich herum, die Bühnen müssen dann einfach. Und meine Oper, die kleine, die komische, weißt du, die ist ja so gut wie angenommen. Die sollte ich mal selbst dirigieren!«

Ein freudiger Schreck durchfuhr die Frau. Sie wußte selbst nicht genau zu sagen, ob ihr Mann 489 – der übrigens das Schwabenalter bereits hinter sich hatte – bedeutender sei als Musiker, als Techniker und Erfinder oder als dramatischer Dichter. Herr Hähnel war so vielseitig begabt. Schon als Knabe hatte er eine hübsche Stimme gehabt und Verse gereimt. Er hatte gegeigt und Klavier gelernt, er hatte früh angefangen zu komponieren. Daß er niemals einen eignen Einfall gehabt dabei, sondern immer nur Nachklänge aus den Werken der Meister zusammengestellt, war ihm selbst in seinem vierzigsten Jahre noch nicht bewußt geworden. Kleine Singspiele von ihm hatte er in den Jahren immer einmal in Dilettantenkreisen aufgeführt. Es war ihm nie zum Bewußtsein gekommen, daß selbst die Dilettanten gutmütig darüber lächelten. Unter dem Namen Gallinus aber dichtete er, und niemals war ihm ein Vers geglückt, der auch nur einen selbsteignen Ausdruck oder ein eignes Wortgepräge gehabt hätte. Denn er dichtete vorwiegend mit den Worten Schillers und des Dichters der »Bezauberten Rose«; war er lustig, so entsann er sich gern der Wendungen Heinrich Heines. Frau Hähnel merkte auch das nicht: denn wie stark war er von seinem Werte überzeugt! Und nun sollte wieder einmal eine Oper von ihm angenommen sein!

Wie oft war das so gewesen! Wie oft hatte er triumphierend die Nachricht gebracht, daß endlich das Stück oder die neueste Oper von ihm von der Bühne erworben sei. Aber immer war es dann nicht wahr gewesen, oder die Bühnenleiter 490 waren den Ränken seiner Feinde zum Opfer gefallen und hatten das bereits angenommene Werk zurückgestellt! Und wie oft hatte sie ihm gesagt, er fange es nur nicht richtig an; er müsse die Bühnenleiter oder den Regisseur, den Kapellmeister bestechen, denn ohne das käme niemand auf. Sie hatte sogar einmal heimlich von ihren Ersparnissen einem Regisseur fünfzig Flaschen Wein geschickt, weil er gerade ein Stück Hähnels las. Aber der Wein war gar nicht angenommen worden, und sie dachte, es wäre zu wenig gewesen!

Halb gläubig, halb zweifelnd über die Annahme der Oper, verfügte sie sich ins Nebenzimmer. Sie sah ihre beiden Söhnchen sanft in den Betten schlummern, und es erfaßte sie eine jähe Angst, daß der Vater dieser lieben Kinder durch einen Mißerfolg der Oper auch letzteren in der Schule, bei den Lehrern, die doch die bissigen Zeitungen lasen, schaden könnte. Unwillkürlich kam ihr der Wunsch, daß die Oper doch lieber nie zur Aufführung käme!

War es denn nötig? Er hatte doch eine ganz hübsche Stellung in einem technischen Bureau, hatte sein sicheres, wenn auch bescheidenes Auskommen. Durch kleine Patente erwarb er manchen Nebenverdienst. Freilich, sie hätte auch gar gern die Tantiemen seiner Stücke gesehen, schon um seinem bösen Vater zu zeigen, daß man seine Erbschaft nicht brauchte, diese Erbschaft, die an allem schuld war. Frau Hähnel ertappte sich, als sie zu Bett 491 ging, sogar auf einem leisen Zweifel, ob ihr Mann wirklich in allem so groß und so bedeutend sei. Der Vater hatte ihn immer als einen ungeratenen Sohn angesehen, weil er niemals an dichterische oder musikalische Eigenart desselben glaubte und in der Vielseitigkeit nur eine nie auszurottende Anlage zum Dilettantentum sah. Die Abneigung von Vater und Sohn war gegenseitig so groß geworden, daß der Alte, der drinnen in Westfalen eine reiche Landpraxis als Arzt hatte, sein beträchtliches Vermögen nur den Kindern Hähnels zu vermachen beschlossen hatte, unter bestimmtem Vorbehalt über die Verwaltung. Frau Hähnel legte sich unter Zweifeln ins Bett.

Unterdessen saß der Ingenieur und schrieb bei nächtlicher Lampe an seinem Stück. Das sollte durchschlagen. Der Held war er selbst, die andere Hauptperson sein Vater. Der Vater, ein eiserner, kleinlich gesinnter Mann, hatte stets das Genie seines Sohnes verkannt. Der Sohn verkümmert unter der Härte des Vaters. Nach Jahren führt er seine Frau ins väterliche Haus, wo sie aber von den anderen Familienmitgliedern nur die taktlosesten Bemerkungen hören muß über die lächerlichen, künstlerischen Neigungen ihres Mannes. Darüber stellt der Sohn den Vater zur Rede. Herr Hähnel schrieb sich in diese Szene hinein, in der er im Geiste seinem Vater all das Bittere sagte, das er auf dem Herzen hatte. Genie, geistiges Edelleben, Idealismus seien ihm »böhmische 492 Dörfer«, darum habe er stets seinen Sohn verkannt. Der Konflikt sollte sich steigern; der Vater weist den Sohn aus dem Haus, enterbt ihn. Der Sohn duldet, verkommt, und die Sterbeszene, die sollte sogar unversöhnlich sein, denn da sollte der sterbende Sohn dem reuevollen Vater nicht verzeihen können. Der Vater mußte dann sich selbst verfluchen. Hierauf aber sollte der sterbende Sohn wieder gesund werden und die Erbschaft, die der reuige Vater ihm zuletzt vermacht, stolz abweisen als letzten Trumpf. Hähnel malte so deutlich, daß jedermann seinen Vater darin erkennen mußte. Und eine Vorrede wollte er zum Stück halten bei der öffentlichen Vorlesung, in der er ausdrücklich hervorhob, daß, wie in allen großen Dichtungen, auch hier alles Wesentliche selbst erlebt sei. Das mußte ungeheures Aufsehen machen.

Als Hähnel die große Schimpfszene zwischen Vater und Sohn niedergeschrieben hatte, war es Mitternacht geworden. Er legte aufgeregt die Feder hin und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Wenn diese Szene nicht allein schon mindestens fünfzigtausend Mark Tantiemen wert war! Wenn die Theaterleiter ihn aber doch wieder unterdrücken würden?

Frau Hähnel hatte nur leise geschlafen; jetzt löschte der Dichter im Wohnzimmer die Lampe aus und brachte in das Schlafgemach ein Kerzenlicht mit, bei dem er sich auszuziehen dachte. 493

Leise fuhr er seiner Frau mit der Hand über das Gesicht und fragte: »Schläfst du schon?!«

Sie fuhr seufzend auf und sah sich schlaftrunken um. –

»Ich muß dir noch etwas sagen, Kläre,« sprach der Mann, indem er sich auf den Rand ihres Bettes setzte. »Ich habe eben eine kolossale Szene geschrieben, aber ich fürchte, sie ist viel zu gut für das seichte Publikum von heutzutage. Und die Oper! Ganz fest ist es ja mit der Annahme noch nicht, – die ist auch viel zu fein! Meinst du nicht?«

»Ach ja, so wird es wohl sein!« sagte schlaftrunken die Gattin, indem sie hoffnungslos in ihr Kissen zurücksank.

»Na, dann,« rief er, »dann gehe ich eben nach Afrika! Nun tu' ich es doch! Wenn die eigne Frau schon an einem zweifelt!«

Er war plötzlich tief erbittert, daß seine Frau nicht sogleich große Erfolge prophezeit hatte, denn wenn seine Werke auch viel zu gut fürs Publikum waren, so war es doch Pflicht seiner Frau, trotzdem an ihn und seine Erfolge zu glauben. Er fuhr sich mit beiden Händen durch seine langen Haare, ließ den Kopf hängen und saß auf dem Bettrande der Gattin wie Marius auf den Trümmern von Karthago.

»Aber, Mann, ich habe doch gar nicht gezweifelt! Und wenn ich zweifelte, hätte ich nicht recht? Denn was hast du denn bis jetzt erreicht? Habe ich nicht recht zu zweifeln? O Friedrich, wenn du nun doch 494 nicht so bedeutend wärst! Friedrich, das wäre schrecklich!«

»Nun also, da haben wir's! Also denn, auf nach Afrika! Das muß man alles erleben, wenn man eben so eine Szene geschrieben hat! Daß du es nun weißt! Ich wollte dir das erst schonend beibringen, aber nun kommt es auch so heraus: wenn hier alles fehlschlägt, nehme ich eben die Stelle nach Afrika an. Denn man hat mich bereits befragt, wie ich darüber denke; der Staat will eine Eisenbahn an der Transvaalgrenze bauen; ich muß mich auf zwei Jahre verpflichten, erhalte freie Überfahrt erster Klasse, festen Gehalt und kann, wenn ich geschickt baue, leicht fünfzigtausend Mark verdienen. Ich wäre doch ein Narr, wenn ich dies Angebot ausschlüge!«

»Friedrich! Fünfzigtausend Mark?!« sagte Frau Hähnel aufgeregt, indem sie sich halb im Bette emporrichtete. »So viel Geld! Ach, wenn wir doch schon in Afrika wären! Denn das nehmen wir unter allen Umständen an.«

»Wir?« fragte Hähnel bitter, der die Zweifel seiner Frau an seinem Genie noch nicht verwunden hatte. »Wir? Wir in Afrika?! Nein, davon kann keine Rede sein. Du bleibst selbstverständlich mit den Kindern hier, denn meine Bahn geht durch ganz wüste Gegenden. Du bleibst hier und verwaltest meine geistige Hinterlassenschaft; du bringst meine Opern und Stücke bei den Bühnen unter, das heißt vorausgesetzt, daß du mich nicht für zu 495 unbedeutend hältst – du bildest unterdessen hier eine Hähnelgemeinde, wo man meine Schöpfungen pflegt, vorliest und die Bühnen zur Aufführung zwingt. Das ist die natürliche Aufgabe für eine Frau! Und schon der Umstand, daß ich in Afrika bin, wird alles erleichtern. Denn es ist eine famose Reklame, daß ein Dramatiker wie ich afrikanische Bahnen baut. Und dann werde ich dir mal meine Todesnachricht zukommen lassen, da kannst du gleich eine Gedächtnisfeier machen, wo ihr mein Requiem aufführt und mein neues Stück zum besten der Kinder! Natürlich dementiere ich dann meinen Tod, und das ist dann noch eine bessere Reklame!«

Während dieser Reden hatte der Dichter allmählich seine Hosen ausgezogen und sie sauber und ordentlich über den Stuhl am Bette gebreitet. Er bemerkte nicht, daß die Gattin erst wie erstarrt in ihrem Bette saß und dann mit den Fingern an ihrem Nachthaubenband ängstlich herumfuhr. Denn in einem Anfall von Angst und Furcht hatte sie rasch ihr Nachthaubenband unter dem Kinn ausziehen wollen, um Lust zu einer längeren Rede zu bekommen. Dabei hatte sich aber, statt aufzugehen, das Band verknotet; sie arbeitete fiebernd am Knoten herum, und da sie kein Wort herausbringen konnte vor Erregung, so sank sie endlich in ihr Kissen zurück, indem sie wie halbtot flüsterte:

»Friedrich, ich sterbe vor Angst!«

Er bekam jetzt einen gewaltigen Schreck und war mit einem langbeinigen Satz an der Seite der 496 Gattin. Sie wies mit dem Finger auf ihr Nachthaubenband. Er begriff, holte vom Nachttisch sein Federmesser und schnitt das Bändchen durch.

In diesem Augenblicke aber brach das Unwetter los. Frau Klara hatte wieder Luft und begann, wechselnd in Zorn und Klagen, ihn zu fragen, wie er das Herz haben könne, sie mit ihren Kindern hier im Lande allein zu lassen! Wovon sollten sie denn leben? Und auch seine Stücke sollte sie noch vertreiben! Sie, die doch schon heimlich hinter seinem Rücken zu Theaterdirektoren gelaufen war, um durch Beschwörungen und Auseinandersetzungen die Spröden zu rühren! Und es hatte alles nichts geholfen, und nun wollte er sie gar mit seinen Kompositionen und Stücken hier sitzen lassen und sich aus dem Staube machen, damit sie die ganze Sorge allein habe? Und seine Todesnachricht solle sie auch noch verbreiten?!

»Schrei doch nicht so! Die Kinder wachen ja auf!« rief Hähnel unterdrückt. Und als ob er damit das Gerede der aufgeregten Frau zum Ruhen bringen könnte, löschte er das Licht aus, wickelte sich in seine Decke ein, zog sie über die Ohren, als wollte er allem damit ein Ende machen.

Frau Klara beruhigte sich indessen nicht dabei; sie bestand darauf, daß sie entweder mit nach Afrika gehe, oder daß er die Stelle ablehne. Er lag mäuschenstill, denn er wußte nur zu gut, daß man ihm vorläufig überhaupt die Sache noch gar nicht angeboten hatte. Nur ein Gutachten hatte man 497 von ihm verlangt über die Kosten und sonstige Berechnungen eines solchen Unternehmens. Seine lebhafte Phantasie hatte ihm aber sofort ausgemalt, daß er der rechte Mann in der Sache sei, seine Unzufriedenheit mit sich und der Welt ob seiner dilettantischen Neigungen ließ ihn diesen Phantasien nachhängen, bis er sich in einen richtigen Reiserausch hineingeträumt hatte. Jetzt aber schwieg er doch zu den Klagen seiner Gattin, da er wohl wußte, daß er wieder einmal in neuen Luftschlössern wohnte.

Schon wollte er unruhig werden und, um die krankenden Reden der Frau nicht mehr zu hören, sein Kopfkissen unter den Arm nehmen und sich im Nebenzimmer aufs Sofa betten, denn zuletzt begann sie überhaupt all sein Genie zu bezweifeln; sie hätte immer und immer gewartet, und mit all seinem Ruhm sei es doch nichts; er wolle sie nur verlassen, weil er zur Erkenntnis seiner Talentlosigkeit gekommen sei. Jetzt erhob er sich wirklich, aber still und wie geknickt; er nahm das Kopfkissen unter den Arm, warf die Decke über die Schulter und war leise bis an die Tür geschlichen. Da aber fragte die Frau:

»Friedrich, was tust du da?! Du wirst mich doch nicht verlassen! O Friedrich, wenn du lieber Chordirektor würdest! Friedrich, geh nicht fort von uns! Bedenke doch, daß der alte Frühauf noch gar nicht fest angestellt ist! Wenn du dich da herein schieben könntest! Und jetzt die Geschichte mit der Frau Rittmeister, die muß doch zu seinem Sturze 498 führen! Ach, wenn ich dich erst da oben mit dem Taktierstabe sehen würde! Friedrich, bleibe bei uns!«

Hähnel war bei den letzten Worten stillgestanden. Dieser Wink, diese Lockung rührte sein Herz. Er sah doch, wie diese Frau an ihm hing, und daß sie ihm auf einmal das Talent eines Chordirektors zutraute, wirkte versöhnlich. Auch hätte er lieber in seinem bequemen Bette als auf dem unbequemen Sofa geschlafen; er tastete sich leise zum Bette zurück und sagte unterdrückt: »Kläre, daran habe ich auch schon gedacht. Wenn das Stück nicht einschlägt, so kann es die Oper bringen. Bringt es die Oper nicht, so habe ich doch noch meinen neuen Ofen und die Mehlmaschine. Und ist es mit der nichts, so führe ich mein Requiem auf oder gehe nach Afrika. Aber für alle Fälle, da hast du recht, für alle Fälle bleibt mir der Chordirektor an Frühaufs Stelle!«

Damit legte er sich wieder ins Bett. Friedlicher wurden die Reden der Gatten im Dunkeln. Frau Hähnel erörterte unter Bericht ihres Gespräches mit der Rittmeisterin, wie leicht man den Meister Frühauf durch sie höheren Orts unbeliebt machen könne. Hähnel begann sich über die freisinnigen Anschauungen Frühaufs mißbilligend zu äußern und seiner Gattin zu berichten, was er von Frühaufs Reden erlauscht hatte. Darüber war nun wieder Frau Klara sehr ungehalten und meinte, ein solcher Mann könne doch nicht einen Kirchenchor leiten, und 499 man brauche das nur dem Pastor und Oberprediger zu stecken, so werde der Mann gewiß nicht mehr lange im Amte sein. Und dann werde ohne weiteres der Platz für Hähnel frei sein, wenn er es nur richtig anfinge, einmal seine Begabung als Dirigent zu zeigen.

Allmählich wurden die Gatten stiller und verstummten zuletzt ganz. Hähnel hatte stillschweigend aber in gerührtem Einverständnis der sorgenden Gattin seine Hand auf ihr Betttuch hinübergereicht. Sie hatte einschlummernd die ihrige dareingelegt. So lagen sie nun Hand in Hand wie Brüderlein und Schwesterlein und schliefen sanft den redlichen Schlaf der Verkannten und Gerechten im Traume von künftiger Größe.

 


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