Wolfgang Kirchbach
Der Leiermann von Berlin
Wolfgang Kirchbach

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III.

Meister Frühauf war sehr verwundert, als er nach ein paar Tagen ein kurzes Schreiben des Hauptpredigers an der Kirche erhielt, worin dieser ihn zu einer Besprechung in der Sakristei vor dem nächsten Sonntagsgottesdienste einlud. Es sei eine Denunziation wegen seiner religiösen Anschauungen bei ihm eingegangen, und es möchte vielleicht schicklich sein, daß man sich darüber ausspreche.

Frühauf war sehr ungehalten und sann darüber nach, von wem eine solche Anzeige ausgegangen 500 sein konnte. Da er vergeblich riet, fühlte er sich auch unsicher, was man von seinen Äußerungen etwa aufgefangen habe. Denn er hatte sich mit Freimut in verschiedener Weise geäußert, obwohl er im Chore selbst niemals die Gefühle der Gläubigen verletzt hatte. Bei näherer Überlegung fühlte er sich aber auch ungehalten, wieso der Pastor dazu komme, ihn überhaupt deshalb sprechen zu wollen; er war denn doch als Musiker und Dirigent angestellt, nicht aber in irgend einer religiösen Eigenschaft. Er beschloß daher, dem Herrn Pastor seine Meinung gründlich zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, seine Stelle zu verlieren.

Die Morgensonne strahlte durch die bunten Fenster der Sakristei und malte goldige und rote Lichter auf den Fußboden und auf die Schränke hin, hüllte den kleinen Altar mit dem Kreuz in ein freundliches, schleierndes Lichtgewebe und spielte auch auf dem Beffchen und um die schon etwas silberweiß gewordenen Locken des Herrn Hauptpredigers, der sich erwartungsvoll im schwarzen Predigergewand auf einen der schweren, byzantinischen Armstühle niedergelassen hatte. Er hielt, bereit, später am Gottesdienste teilzunehmen, seine Bibel in der Hand, lächelte ganz leise vor sich hin und ließ sich gern besonnen von der lieblichen, milden Wärme, die ihn umgab. Dabei schnupfte er ab und zu aus einer schönen goldenen Tabaksdose und dachte wohl darüber nach, was er dem Musiker sagen wolle. Pastor Körner war ein 501 behaglicher, wohlmeinender Mann, und wenn er seine Empfindungen bedachte, so mußte er sich gestehen, daß er sich recht von Herzen freute auf die Begegnung, die er mit dem Meister Frühauf haben sollte.

Es dauerte nicht lange, so hörte er auch den scharrenden Schritt des Musikmeisters, und er glaubte daran schon die etwas rabiate Stimmung des Künstlers vorauszufühlen. Er erhob sich aber langsam, um dem Meister entgegengehen zu können. Gleich darauf pochte es, und die Tür ging rasch auf; Frühauf trat ein, zwirbelte unwirsch seinen Spitzbart und sagte kampflustig:

»Sie haben mich hierher bestellt, Herr Pastor, und da möchte ich mir gleich eine prinzipielle Bemerkung erlauben –«

»Nicht bestellt, nicht bestellt, mein lieber Herr Kapellmeister, sondern nur gebeten. Ich wählte diesen Ort, weil er Ihnen ja doch am bequemsten wäre. Vor allem aber bitte ich freundlich, Platz zu nehmen.«

»Danke, ich kann auch stehen!« entgegnete der Meister etwas schroff, der vermutete, der Pastor wolle ihn etwa durch Höflichkeit und Geschmeidigkeit in seinen Grundsätzen erschüttern.

»Na, dann erlauben Sie mir wenigstens, mich zu setzen, Herr Professor! Wir sind ja eigentlich beide nicht mehr so jung, daß wir das Stehen zum Sport zu machen brauchen, und beim Dirigieren müssen Sie nachher ja so wie so genug stehen.« 502

Der Pastor setzte sich und bot dem Kapellmeister seine Dose an. Dieser konnte nun doch nicht umhin, um nicht allzu grob zu sein, sich auch zu setzen und aus der Dose eine Prise zu nehmen. Er behielt sie aber zwischen den Fingern in der Absicht, sie langsam auf den Boden fallen zu lassen, wenn man ihm irgend ein Opfer an seinen Überzeugungen zumuten sollte.

Der Pastor legte die Hände gemütlich über seiner Bibel zusammen und hub zu reden an:

»Wenn ich so nachdenke, mein lieber Meister, über unser menschlich-irdisches Leben, so erfüllt es mich oft mit preislicher Bewunderung über die Werke unsers Schöpfers, daß wir Menschen mit so verschiedenen Ansichten vom Höchsten und Besten durchs Leben gehen können. Ich habe es ja schon vorher gewußt und nun in den letzten Tagen von dritter Seite wieder erfahren, daß Sie Ihre geistigen oder religiösen Erhebungen und Erbauungen nicht in den Meinungen unsers Apostels Paulus und unsrer geliebten Bibel finden. Sie halten es lieber mit Schopenhauer und Nietzsche, Schriftsteller, die ich übrigens auch mit Nutzen gelesen habe, und haben sich als Geist und Künstler natürlich auch Ihre eigne Weltanschauung gebildet, in der Sie selig sind oder zu werden hoffen. Und da möchte ich Ihnen gleich sagen –«

»Sagen Sie mir's lieber nicht gleich, Herr Pastor, denn ich muß von vornherein erklären, daß meine 503 philosophischen Ansichten meine Privatsache sind, die niemand etwas angeht – niemand –«

Ganz dasselbe wollte der freundliche Prediger dem Meister auch sagen; er hatte selbst vor allem die volle Unabhängigkeit des Musikers betonen wollen. Da der Meister aber nun gar so schroff und mißtrauisch gegen ihn war und die prinzipielle geistige Unabhängigkeit zwar verbürgt war, maßgebende Personen aber trotzdem die fernere feste Anstellung verhindern oder fördern konnten, je nachdem die Stimmung gerade in Religionssachen sich ergab, so fühlte der Prediger eine Neigung, den Meister doch ein wenig zu schrauben, und er sagte:

»Privatsachen! Natürlich, Privatsachen, lieber Meister! Das ist es ja eben, was auch mir das Recht gibt, die Wege Gottes zu bewundern, der durchaus nicht von allen Wesen das gleiche Bekenntnis zu verlangen scheint, sondern jeden in seiner Art teilnehmen läßt an den geistigen Gütern, die uns allen beschieden sind. So ist es mir immer ein Lieblingsgedanke, wenn ich beobachte, wie Sie, verehrter Meister, obwohl Sie weit entfernt von meinem Glauben sind, doch durch die Innigkeit Ihres Dirigierens, die künstlerische Begeisterung und Sorgfalt zugleich, mit der Sie unseren Kirchenchor beseelen, in unserer großen Gemeinde ein Förderer und Erhalter tiefer Glaubensinnigkeit sind. Denn seit wir Sie den Unsern nennen, ist ja, wie ich zu meiner herzlichen Genugtuung 504 bemerke, der Kirchenbesuch mit jedem Sonntag gewachsen.«

Der Prediger hielt bedachtsam inne, wiegte leise das Haupt und nahm eine Prise Schnupftabak. Dann hielt er die Dose wieder dem Meister hin. Dieser hatte eben gezweifelt, ob er das braune Pulver zwischen seinen Fingern langsam auf den Boden rieseln oder nicht lieber doch unter seine Nase bringen sollte. Denn die Wirkung, welche die Rede des Geistlichen zu nehmen schien, kam ihm ebenso überraschend, wie sie von freundlichem Wohlwollen Zeugnis ablegte. Aber sie bewirkte auch eine gewisse Verlegenheitslage, die nun dadurch gesteigert wurde, daß in seiner Hand noch die erste Prise war, während die Dose sich ihm schon zum zweiten Male näherte. Der Meister sagte daher etwas verlegen, indem er die Prise an seine Nase führte:

»Ich habe allerdings auch zu meiner Genugtuung bemerkt, daß der Kirchenbesuch ersichtlich zunimmt – ich danke, ich habe noch einen Rest meiner Prise.«

»Genugtuung! Zu Ihrer Genugtuung! Sehen Sie, das freut mich, lieber Meister, daß es auch Ihnen eine Genugtuung ist, trotz Nietzsche und Schopenhauer!« Dabei legte er seine Hand wohlwollend auf die Rechte des Meisters.

Liebenswürdig lächelnd fuhr der Prediger fort: »Ja, lieber Meister, es erfüllt mich oft mit wahrer Andacht, wenn ich Sie so recht aus ganzer Seele 505 alle Ihre Gemütskraft in ein Tedeum legen sehe, trotzdem Sie ja die Idee eines persönlichen Gottes oder allliebenden Vaters mit Ihren Überzeugungen philosophischer Art nicht vereinigen wollen. »Gott, dich loben wir, dich, den Herrn bekennen wir, dich, den ewigen Vater. Alle Engel, die Himmel und die Mächte des Alls, Cherubim und Seraphim rühmen dich mit unaufhörlicher Stimme.« So heißt ja wohl der lateinische Text auf deutsch! Wie schön singt das Ihr Chor! Wie kraftvoll ist bei Ihnen das laudamus! Wie überzeugungstreu das confitemur! Und wie breit und von Schauern der Ewigkeit gerührt wissen Sie das, was wir bei dem ewigen Vater empfinden, herauszubilden. Welche Mühen verwenden Sie darauf, bis Sie ganz das getroffen haben, was der Gläubige empfindet! Es ist mir bekannt, daß Sie, wie viele, wie schon der Prediger Salomo, den Glauben an die Unsterblichkeit, den der Apostel Paulus so stark hegte und wir mit ihm, daß Sie diesen Glauben nicht teilen. Seliger ist Ihnen der Gedanke, nach Erfüllung Ihrer irdischen Pflicht nie mehr zu sein und allenfalls nur noch in Ihren Werken fortzuleben. Und doch! Wie machtvoll haben Sie noch jüngst religiöse Gedanken der Unsterblichkeit dirigiert, und Sie, der Sie keine Erlösung suchen, wie haben Sie in Tönen das: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« mit dem tiefsten Empfinden des Bedürfnisses durchdrungen. Sehen Sie, gerade hierin bewundere ich von meinem Standpunkt Gottes Wege 506 und würde eben deshalb niemals Ihre freieren Ansichten Ihnen verdenken wollen. Und was ich nun sagen wollte –«

Die Verlegenheit des Meisters Frühauf war während dieser Worte immer mehr gestiegen. Was der Pfarrer sprach, wirkte beinahe wie eine sehr feine Gewissensreizung, die tiefer und tiefer drang. Da war ja etwas sehr Richtiges und Wahres darin, und er konnte wohl gar leicht als ein Heuchler in seiner Kunst gelten. Diese Gewissensreizung mußte auf eine befreiende, wohltuende Weise ausgeglichen werden. Aber mit dieser überaus feinen Reizung der Seele verband sich eine andre tief eindringende Reizung in der Nase; denn der Schnupftabak des Pfarrers machte in der Nasengegend unter dem Auge seine zersetzende Wirkung geltend und fraß sich wie mit zarten Nadelstichen immer tiefer. Die Verlegenheit des Geistes und des Körpers rangen eine Weile um die Wette, bis sich endlich des Meisters Augenbrauen gen Himmel emporstreckten, die Augenwinkel zusammenfuhren und ein kräftiges Niesen die unhaltbare doppelte Seelenreizung wegkehrte.

»Hilf Gott!« sagte der Pfarrer freundlich und gemütvoll, diesmal auch über die gute Qualität und die gesunde Wirkung seines Tabaks in angenehmer Genugtuung.

Aber nach solcher körperlicher Erleichterung war der Meister auch Herr seiner vorübergehenden Verlegenheit geworden. Was der Pfarrer redete, war öfters Gegenstand seiner sittlichen 507 Selbstbetrachtung gewesen, und er sagte daher, ebenso fein betonend wie der Pfarrer:

»Sie rühren da ein sehr interessantes Problem an, verehrter Herr Pastor. Darüber möchten wir uns wohl noch öfters unterhalten. Für heute möchte ich nur sagen, daß kein Mensch, vollends kein Künstler, leben könnte, der nicht das Bedürfnis hätte, sich mit seiner Seele auch in das Gemütsleben anderer zu versetzen. Mag sein, daß die Anrufung eines persönlichen, allliebenden Vaters gewissen ethischen Überzeugungen in mir widerspricht. Denn wie grausam geht es noch immer in dieser Welt zu, wie klein und kleinlich ist der Streit der menschlichen Interessen in allen Dingen, selbst in so einem frommen Kirchenchore, wie ich ihn leite, was ich wohl sagen darf angesichts Ihrer Mitteilung von einer Denunziation gegen mich! Da ist es, bei den Grausamkeiten dieser Welt im großen und dem Seelenunfug der Menschen im kleinen, schwer, das Wort von einem allliebenden Vater als sittliche Überzeugung zu brauchen. Mindestens stehen wir vor etwas, an das unsre Vernunft nicht heranreicht. Sie nehmen es als Dogma. Unsereiner empfindet aber bei seinem Denken vielmehr, wie wünschenswert es wäre, daß ein so gütiges Wesen in allem wäre, und dieser Wunsch kann um so stärker, inbrünstiger werden, je stärker der Verstand zweifelt. Und dieser Wunsch ist ehrlich, er begeistert den Künstler tief genug, daß er mit reinem Herzen in den Preis eines so schönen 508 Gedankens einstimmen kann. Er hat es ja mit den wahren Wirklichkeiten zu tun; wenn Verstand und Wissen trügen, Bild und Ton trügt nicht, in ihrem Schein ist das tiefste Wesen unsers Seins und Sehnens ausgedrückt. Wenn ich anders denke, so ist der Gedanke der Unsterblichkeit doch ein poetischer, und der Künstler kann mit voller Seele seine Phantasie, seine Gemütskraft in einem solchen Gedanken verbrauchen, denn er genießt diese Unsterblichkeit gerade darin und kann dann um so leichter auf ihre Verwirklichung verzichten. So müssen Sie es verstehen, wenn ein Mann von meiner Art auch eine Religion ausübt innerhalb eines Dogmenkreises, welcher der großen, gemeinsamen Religion aller Edlen gegenüber sich auf besondere Meinungen bekennt. So ist es zu erklären, daß gerade diejenigen Maler, welche wie Raffael, Michelangelo und Correggio die schönsten Urbilder christlicher Gestalten schufen, dem Christentum gegenüber Freigeister waren. Es ist mir lieb, daß Sie mich angeregt haben, Ihnen diese Betrachtungsweise darzulegen –«

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen herzlich, lieber Meister!« sagte der Pfarrer, indem er sich erhob. »Rechnen Sie, zählen Sie immer auf mich. Als protestantischer Pfarrer weiß auch ich recht wohl, daß Cherubim und Seraphim zum mythologischen Bestande altjüdischen Volksaberglaubens gehören, und doch liebe ich diese Bilder. Wir werden Gelegenheit haben, uns oft noch 509 auszusprechen. Aber die Zeit zum Anfang des Gottesdienstes naht, und da wollte ich Ihnen noch folgendes sagen: Ich habe den lebhaftesten Wunsch, Ihre Kraft dauernd an unser Gotteshaus zu fesseln um der Wirkungen willen, welche im Gefolge Ihrer segensreichen künstlerischen Tätigkeit sind, und bitte Sie um das eine: haben Sie acht auf einen gewissen Herrn mit langen Locken und auf seine etwas ränkelustige Frau. Man hat von dieser Seite versucht, Ihre Anschauungen gegen Sie auszubeuten. Ich bitte Sie aber, eine Haltung zu bewahren, welche solchen üblen Versuchen vollständige Ruhe entgegensetzt. Augenscheinlich hat man die Absicht, Sie aus Ihrer Stellung zu verdrängen, um einen Kandidaten durchzubringen, den ich allerdings nicht kenne. Die Denunziation ist an mich gekommen, damit sie durch mich an höherer Stelle ausgenützt werde. Ich habe in einem Gespräche mit Frau Hähnel, die auch noch mündlich die Verräterin gespielt hat, den Anschein lebhafter Mißbilligung Ihrer Ansichten erweckt. Ich bin sicher, daß sie infolgedessen zunächst nicht auf anderen Wegen vorwärts gehen werden. Man wird glauben, ich sei die richtige Adresse gewesen –«

»Ich verstehe,« sagte der Professor. »Angenehm ist die Situation für mich freilich nicht, daß ich solche räudige Schafe in meinem Chore dulden muß –«

»Glauben Sie mir, es ist besser so. Die Denunziation des trefflichen Ehepaares ist bei mir begraben und wird gar keine Folge haben auf unsrer Seite. Die Trefflichen werden auf die für Sie 510 schädliche Wirkung vergeblich warten. Tun Sie aber irgendwelche Schritte gegen diese Gegner, so werden doch mehr Kreise in die Sache gezogen, als gut sein dürfte.«

Die beiden alten Herren sahen einander einen Augenblick prüfend an. Frühauf bemerkte wohl, daß der Pfarrer kein Wort davon gesagt hatte, er würde aus Klugheitsrücksichten vielleicht gut tun, vorsichtiger mit philosophischen Äußerungen im Kreise derer zu sein, die sich um Hähnel scharten. Aber er wußte einen Augenblick nicht, ob der Pfarrer ihn vielleicht gerade dahin bringen wollte. Der Pfarrer sah diesen Rest von Mißtrauen im Auge des Meisters; er reichte ihm mit einer wohlabgewogenen, entgegenkommenden Gebärde nochmals seine Dose und sagte: »Übrigens möchte ich Ihnen noch sagen, daß ich außerordentlich gespannt bin, nachher Ihre neue Motette zu hören. Es ist mir so viel Gutes darüber berichtet worden, und ich darf die Gelegenheit benutzen, Ihnen zu sagen, daß ich mich zu den herzlichsten Verehrern Ihrer Kompositionen zähle. Wie sind Sie so reich an Ideen! Wie klar ist Ihre musikalische Ausdrucksweise! Und wie zeigt da alles den bewährten Meister, der die Mittel seiner Kunst kennt. Sie können leicht einem Manne wie Hähnel verzeihen, denn unter uns, aus den Äußerungen seiner Gattin habe ich das klare Bild jenes unseligen Dilettantismus gewonnen, der im Gefühle seiner Ohnmacht zuletzt ja bis zum Ränkespinnen und allerhand kleinem intriganten 511 Unfug getrieben wird. Er ist wohl von Haus aus ein ganz guter Herr, auch tüchtig in technischen Sachen, aber wohin kann zielloser Ehrgeiz und vor allem dilettantische, geistig unausgefüllte Anlage den Menschen treiben! Da können wir nichts anderes tun als verzeihen, als Christen vergeben und weise das, was uns schädlich werden könnte aus so konfusen Trieben unsrer Mitmenschen abdämmen, in Unschädlichkeit erhalten.«

Ganz allmählich war während der letzten Worte die Dose dem Meister näher gekommen, ganz allmählich hatte er sich geneigt und, ohne die Folgen zu bedenken, eine Probe genommen. Und dann hatte er noch ein zweitesmal und ein drittesmal die Finger gespitzt und sich etwas in die Nase gerieben, bis der alte Pfarrer in leichter Besorgnis die Dose nun doch zurückzog und mit behaglicher Würde unter seinem schwarzen Talar verschwinden ließ. Aber das war nun unabänderliche Tatsache, daß zwei alte Männer, die das Leben mit all seinen Hoffnungen, Enttäuschungen genug kennen gelernt hatten, die auch wußten, wie flüchtig Männerfreundschaft zumeist im Leben ist, wie vergänglich, wie zufällig, wie oft gelöst, plötzlich einen inneren, warmen Freundschaftsbund geschlossen hatten, der beide im gleichen Augenblicke mit einer heimlichen Rührung erfüllte, die in den alten Gemütern wie eine tiefe Erschütterung wirkte. Sie fanden auch gar keine rechten Worte mehr, mit denen sie das Gespräch weiter fortsetzten; sie waren zu alt, um sich noch 512 einen Blick herzlicher Freundschaft zu gönnen, wie es die Jugend tut; sie wandten sich von einander ab und drucksten etwas verlegen in der Sakristei herum, bis der Professor, um den Folgen des zu stark verabreichten Schnupftabaks zuvorzukommen, mit großer Beschleunigung sein Taschentuch hervorzog und mit solcher Wucht und Ausdauer sich schneuzte, daß dies eine ansteckende Wirkung ausübte. Denn ganz gegen die Gewohnheit eines guten Schnupfers zog auch der Pfarrer sein Taschentuch und schneuzte darein seine Gedanken und Gefühle. Das beste wußte der Professor nicht einmal. Der Pastor handelte aus einem noch tieferen Interesse. Er wußte, daß der alte Mann seit vierzig Jahren um Erfolg und Anerkennung gerungen hatte, daß er Opern ausgeführt, mit Glück und Anerkennung der Besten, und daß doch der »Erfolg« ausgeblieben war, der kometenhaft ein Werk durch die Welt treibt. Er wußte, wie hier echte Kunst, echtes Verdienst wie in einem Franz Schubert, Kleist, vergeblich zu Lebzeiten rang. Er wußte, wie nötig es für den Meister war, daß er durch die Stellung an der Kirche wenigstens das Notdürftigste verdiente, und wie fördersam für seine Kunst die Stellung in einem Kreise war, der durch Aufführung seiner Werke ihm noch späte Genugtuung verschaffen konnte. Und daß er das wußte, das schneuzte nun der Pfarrer mit einiger Heftigkeit gleichfalls in sein Taschentuch.

Als sie fertig waren, sagte der Pfarrer: »Herr 513 Professor, die Gemeinde wartet. Wir müssen zum Gottesdienst.« Darauf gingen sie auseinander wie zwei Leute, die sich heftig gezankt haben, mit sonderbaren Gesichtern und etwas verwirrten Mienen.

Unterdessen hatte sich oben auf dem Chore eine voraussichtlich sehr aufregende Szene vorbereitet, während unten und auf den Emporen die Kirche bereits dicht gefüllt mit Menschen war, die neben dem Gottesdienst auch auf die neue Motette gespannt waren, welche man hier hören sollte. Sehr festlich und anmutig sah der Chor aus, denn die jungen Damen hatten weiße und helle Festkleider angelegt, die älteren waren auch in Seide und feinen Farben gekommen. Die schwarzen Röcke der Sänger bildeten einen kraftvollen Hintergrund für das bunte Spiel der Lichter und des Farbenglanzes auf den Büsten der Frauen. Noch war es unten in der Kirche unruhig, Sitze klappten, man suchte noch rechtzeitig eines Platzes habhaft zu werden. Im Chore aber wurde es zusehends stiller, und eine beklommene Stimmung schien zu herrschen.

Denn man sah, daß die Damen sich augenscheinlich um ihre Plätze nicht hatten einigen können. Zwar der erste Obstruktionsversuch der Frau Rittmeister gegenüber der dicken Frau Graf war bei der letzten Probe mißglückt. Sie war damals, dem Rat der Frau Hähnel folgend, zuerst gekommen, hatte sich den Platz der Frau Graf gesucht und sich dahin gesetzt. Die dicke Dame war dann auch erschienen, hatte aber kein Wort gesagt, sondern sich 514 in eine hintere Reihe verfügt. Als dann andere Damen gekommen waren, hatte sie hinter dem Rücken der Rittmeisterin die Ankömmlinge immer leise zu sich gewinkt, sodaß zuletzt alle Damen der Sopranseite auf den hinteren Bänken Platz genommen hatten und die Rittmeisterin ganz allein auf der ersten Bank saß. Als Frau Hähnel, die mit Absicht später kam, um nicht als die Anstifterin zu erscheinen, ihren Platz suchte, wurde sie von der dicken Frau Graf auch schelmisch herangewinkt. Sie sah die Rittmeisterin mit Bangen so mutterseelenallein sitzen, und obwohl ihr Gewissen mahnend riet, sich neben diese zu begeben, fühlte sie sich doch so geniert, ganz allein, wie auf einem Präsentierteller, neben der Dame sitzen zu müssen. Sie folgte lieber dem Wink der Frau Graf und ließ in schmachvoller Weise die Rittmeisterin im Stich. Im Anfang hatte diese die neue Ordnung der Dinge nicht bemerkt, bei Beginn der Probe aber sah sie mit tiefer Indignation, daß sie ganz allein thronte und nicht einmal die Anstifterin, Frau Hähnel, ihr die Stange hielt. Da sie aber eine Menschenkennerin war und nunmehr den Charakter der Ingenieursgattin genau durchschaut zu haben glaubte, so hatte sie beschlossen, besondere Rache zu nehmen. Und diese sollte darin bestehen, daß die Frau Hähnel nun erst recht ihr behilflich sein mußte, die Sitzobstruktion bei nächster Gelegenheit doch durchzuführen.

Nach der Probe hatte sie Frau Hähnel zur Rede 515 gestellt, die natürlich alles auf einen unglücklichen Zufall schob. Darauf aber hatte die Frau Rittmeister viel von ihren höheren Beziehungen gesprochen, zum Teil mit etwas scharfer Betonung, sodaß die Frau Hähnel eine jähe Angst erfaßte, die Dame könnte den Dirigentenbestrebungen ihres Mannes schädlich werden. Und es war doch ihr heißer Wunsch, den Mann zum Dirigenten zu machen, schon, damit er nicht etwa doch nach Afrika ginge. Mit der ihr eigenen Geistesgegenwart suchte sie die Gefahr abzuwenden, indem sie erklärte, sie hätte nur deshalb nicht sich neben die Frau Rittmeister gesetzt, weil das ihre Bescheidenheit nicht erlaube. Denn die Frau Rittmeister sei doch gewissermaßen von Adel, und wie hätte sie da wagen können! Außerdem aber sei es doch die Pflicht der Frau Professor gewesen, als Gattin des Dirigenten, sich neben sie zu setzen. Man sähe wieder einmal, wie diese Dame ihrem Manne schade und augenscheinlich gar nicht recht wisse, eine wie große Ehre für den Chor es sei, daß Frau von Schimmel ihre schöne Stimme in den Dienst desselben stelle. Und daß Frühauf die Unaufmerksamkeit gehabt habe, sie so allein sitzen zu lassen, das lasse auch tief genug blicken.

Folge und Ergebnis dieses Gesprächs aber wurde, daß jetzt zum Gottesdienst eine ganz neue Situation geschaffen war. Die Frau Rittmeister hatte feierliche Toilette gemacht und ein reiches, schwarzseidenes Kleid angezogen. Mit stolzer 516 Haltung ist sie die Chorstiege hinuntergegangen, während Frau Hähnel ihr wie eine gehorsame Zofe folgte. Sie hat sich, trotz ihres Soprans, auf die Seite der Altstimmen gesetzt. Frau Hähnel mußte sich neben ihr niederlassen, was diese mit scheinbarer Todesverachtung tat, aber unter fortwährendem ängstlichen Herumschielen, was daraus werden würde. Eine unbeteiligte Dame machte die Rittmeisterin darauf aufmerksam, daß sie als Sopranistin doch nicht auf der Seite der Altistinnen sitzen könne. Da aber hatte Frau von Schimmel erklärt, daß in der letzten Probe sämtliche Damen im Sopran sich von ihr weggesetzt hätten, und das wäre eine Rücksichtslosigkeit gewesen, die ihr gebiete, einen Platz zu wählen, wo sie nicht wieder in diesen Fall kommen könne. Sie bleibe hier sitzen, selbst auf die Gefahr hin, daß der ganze Gottesdienst dadurch Störung erleide. Indessen die anderen Damen könnten ja ihre Rücksichtslosigkeit dadurch wieder gut machen, daß der ganze Sopran sich auf ihre Seite setze und der Alt auf die jenseitigen Bänke auswandere. Ein solches Entgegenkommen der Damen würde ja dann vielleicht die peinliche Situation bessern.

»Ja, wir würden das in der Tat für ein Entgegenkommen der Damen erachten,« erklärte Frau Hähnel etwas spitz.

Natürlich hatte das die gegenteilige Folge. Die ankommenden Sopranmitglieder, zumal nur die wenigsten zunächst um den neuen Tatbestand wußten, 517 setzten sich auf ihre gewohnte Seite. Da die Zahl der Teilnehmer wuchs und die Altistinnen sich auf ihre Seite begaben, sahen viele die Rittmeisterin und ihre Mitverschworenen überhaupt nicht. Die Frau Professor kam, und ihr flüsterten einige Damen zu, das ginge doch nicht, daß jene sich mitten unter die Altistinnen hineinpflanzten, denn nachher beim Singen würde das ja eine große Störung geben, wenn auf einmal zwei Sopranstimmen mitten aus dem Alt hervorklängen. Darunter müsse nicht nur der Gottesdienst, sondern auch die neue Motette leiden, und wenn der Herr Organist, der Professor Reber, der bereits seinen Platz an der Orgel eingenommen hatte, das merke, so könnte er vielleicht überhaupt seine Mitwirkung bei ferneren Veranstaltungen des Chors in Frage stellen. Denn es war allgemein bekannt, daß der Organist auch in einem heimlichen Kampfe gegen Frühauf lebte.

Frau Professor Frühauf übersah die gespannte und gefährliche Situation. Aber sollte sie sich da hineinmischen? Dann würde es wieder heißen, daß sie das Regiment im Chor führe und nicht ihr Mann. Ihre Tochter Ella war mehr entschlossen, sie wollte zu den Damen gehen und sie auffordern, sich an den rechten Platz zu setzen, aber die Mutter winkte ihr ab und befahl sie streng an ihre Seite. Da nun gleichzeitig von oben her wieder zwei schlaue Augen unter einer Brille schalkhaft zu ihr niederblitzten, so fügte das Fräulein sich, ohne zu bemerken, daß jemand im Tenor dieses Blickspiel 518 aufgefangen hatte und infolgedessen in gesteigerter Aufregung sie weiter zu beobachten beschloß.

Die Kirche hatte sich immer mehr gefüllt auf den Emporen und im Schiff; man wußte im Chor, daß man mit Toilette und jeglichem Tun allen Blicken ausgesetzt war. Da bekam endlich Herr Hähnel geheime Angst. Er hätte zwar gern den drohenden Skandal gehabt, denn der konnte ihm nur nützen; aber daß seine Frau als Mitanstifterin erscheinen mußte durch ihre gezwungene, ausgesetzte Stellung neben der Rittmeisterin, das jagte ihm ungeahnte Furcht ein. Nach langem Zögern trat er daher zu den beiden Damen hin und sagte:

»Wäre es doch nicht besser, wenn die Damen sich auf die Seite ihrer Stimmen begäben? Ihre berechtigte Entrüstung, Frau Rittmeister, ist ja sichtbar für alle zum Ausdruck gekommen, und wenn der Professor es merkt – er ist ja nicht so taktvoll –«

»Bedaure,« erklärte die Rittmeisterin, so laut sie konnte. »Aber wenn Sie den Sopran veranlassen, unter Führung der Frau Professor zu uns zu übersiedeln, und die Altdamen hinübergeleiten, dann ist ja alles in Ordnung –«

Ein Rauschen und kurze Ausrufe der Entrüstung kamen von allen Seiten aus der Pyramide der Damenschar; man merkte sogar in der Gemeinde, daß im Chor ein Ereignis sich vorbereite. Die seidenen Stoffe rauschten so eigentümlich, Gruppen der Damen bildeten sich wie Gewitterwolken, die 519 sich zusammenballen; man merkte, wie die Luft immer schwüler wurde.

In diesem Augenblick betrat der Professor den Chor, selbst noch etwas verwirrt von seiner Zusammenkunft mit dem Pastor. Es war höchste Zeit zum Beginn, er schritt zum Dirigentenpult und erhob bereits die Arme mit dem Taktierstab. Die Damen hatten sich in atemloser Spannung auf ihren Plätzen erhoben, aber keine wagte ein Wort zu sagen, weil jede fühlte, daß sonst ein allgemeiner Redesturm sich entfesselt hätte. Nur die Frau Professor warf in diesem kritischen Augenblick ihrem Mann einen Blick zu, der ihn veranlaßte, schnell noch einmal den Chor zu mustern. Denn seine Frau hatte mißbilligend mit den Achseln gezuckt. Da erblickte er die beiden kriegführenden Damen. Er stutzte einen Augenblick. Er erkannte Frau Hähnel und fühlte sofort, was hier gegen ihn im Schilde geführt würde.

Rasch ließ er den Taktierstock wieder sinken. Dann winkte er Herrn Hähnel heran. Dieser kam geflissentlich in Erwartung des famosen Skandals, der nun losbrechen mußte, denn schon sah man die Rittmeisterin in Kampfstellung und seine Frau dazu, gefaßt, auf keinen Fall ihre Plätze zu verlassen und sich damit volle Genugtuung zu verschaffen. Als Hähnel am Pulte stand, klopfte der Meister rasch noch einmal mit dem Stocke und sagte:

»Werter Herr Hähnel, ich bemerke eben, daß Ihre Frau mit noch einer Dame sich aus Versehen 520 in den Alt gesetzt hat. Wahrscheinlich wollen die Damen heute nur mitschweigen. Jedenfalls haften Sie mir dafür, daß keine von beiden auch nur einen Laut von sich gibt, denn wenn sie sich dessen in unwillkürlicher Sangesbegeisterung unterstehen sollten, so müßte ich sie angesichts der ganzen Gemeinde unter Namensnennung ersuchen, die Kirche zu verlassen.«

»Achtung!«

Der Meister klopfte, fast alle hatten es verstanden im Chore, Hähnel stand wie geknickt da und nickte nachdenklich dem Professor Zustimmung. Die beiden Damen hatten sich erst ganz starr angesehen. Jetzt wollte die Rittmeisterin kalt lächelnd im letzten Augenblicke die Tribüne verlassen, um dann sogleich ihren Austritt zu erklären. Aber da fand sie die anderen Damen, die Altstimmen, neben sich und Frau Hähnel so unbeweglich auf ihrem Platz, daß an ein Vorbeikommen nicht zu denken war. Der Meister dirigierte bereits, und die Sänger erhoben ihre Stimmen begeisterungsvoll zu einem »Kyrie eleison«, niemand wich auch nur einen Zoll breit, um die empörten Kriegerinnen herauszulassen. Über die Bänke zu steigen war angesichts des Gottesdienstes unmöglich, setzen durften sie sich ebendeshalb nicht. Sie sahen aber, wie der Meister mit Argusaugen darüber wachte, daß sie keinen Laut sangen. So mußten sie schweigend stehen, stumm wie die Salzsäulen. Und als die ersten Gesänge verklungen waren, hatte sich die stille Verschwörung 521 aller Damen bemächtigt. Trotz eines erneuten Versuchs, aufzubrechen, wich niemand vom Platze. Die Rittmeisterin mit ihrer Freundin blieb wie mit Palissaden umpflanzt, denn die nächsten Damen hielten beim Sitzen sogar ihre Beine, scheinbar absichtslos, langausgestreckt und übereinander gelegt vor sich hin, sodaß man über eine ganze Kolonne hätte wegsteigen müssen. Was blieb übrig? Schweigen und dulden, schweigen und aufstehen mit den anderen! Schweigen und sich niedersetzen mit den anderen bis zum Schluß! Herr Hähnel hatte sich ganz zurückgezogen hinter den breiten Rücken des Amerikaners, um lieber gar nichts von diesem Unglück zu sehen. Welche Rachegedanken, welche wilden Pläne in diesen Stunden gegen den Meister reiften, das vermögen Menschenworte nicht zu sagen, nicht zu denken!

In einer Ecke beim Altar, über dem die milde Gestalt Jesu mit hilfsbereit segnender Hand in weißem Marmor unter einem goldig leuchtenden Tabernakel steht, saß andächtig der Hauptprediger und lauschte mit leise geneigtem Kopfe den Tönen der Motette, die gegenüber von den schwebenden Höhe der Orgel zu ihm herniederklangen. Geflügelte schöne Engelgestalten trugen unten schwebend den Balkon des Chores, und wie der Pfarrer die holden Frauen so in der Pyramide übereinander stehen und singen sah, wurden sie ihm selbst zu holden Engeln in den schillernden Gewändern von Seide und Sammet. Das Bewußtsein seines 522 menschenfreundlichen Verhaltens gegenüber dem Meister, der da droben die holden Engelsgestalten zum einheitlichen Klange der Harmonien leitete und mit dem Ausdruck tiefer Empfindung anfeuerte, dieses schöne Bewußtsein guter Menschlichkeit rührte den Pfarrer selbst ein wenig. Nun lauschte er mit doppelter Innigkeit dem Melodiengange, den der Meister beschwor, hörte die Stimmgruppen bald vorschwellen und machtvoll brausend in den Höhen des Kirchenraumes verhallen, bald in zarter Leisheit und Dämpfung fromme Scheu und die Empfindung der allgemeinen Menschenliebe versinnlichen und preisen. Und da ward es dem Pfarrer ganz wundersam ums Herz. Er wußte wohl, wie wenig der schöne Gedanke »Liebet euch untereinander« unter den Singenden da oben verwirklicht war. Er wußte ja, welche Ränke gegen den Meister schwebten, wie der Orgelspieler heimlich an höherer Stelle gegen ihn arbeitete, um selbst den Chor in die Hand zu bekommen, wie der Ingenieur sich bis zur schlimmen Angeberei hatte verleiten lassen. Zwar, welche sonstigen Minen noch zu explodieren drohten nach dem jüngsten Ereignis, was in der Seele kriegführender Frauen grollte und in den Gemütern scharf beobachtender Tenore lauerte, er wußte es nicht. Aber was er wußte von all dem kleinen »Seelenunfug« seiner Mitmenschen da droben, wie es der Professor genannt hatte, das ging ihm zu den begeisterungsvollen Melodienströmen, denen jetzt alle diese Gemüter hingegeben 523 waren, durch den Sinn. Und gleichzeitig schien sich ihm die milde Gestalt des marmornen Erlösers zu beleben; er sah dieses Antlitz voll Ernst und Milde mit dem Drange, segnend die Hände zu erheben über die ganze lauschende Gemeinde und die Sänger, segnend auch über den guten Meister, der, selbst ohne Glauben, doch alle Töne der Liebe und des hehren Gottgefühls, des All-Gefühls der Seelen, der Harmonie des Daseins erweckte und mit Dreingabe all seiner besten Gemütskraft anschwellen und sanft ausklingen ließ. Da war es dem Pfarrer, als ginge es um dem Mund des gütigen Heilandes wie ein ganz leises, seliges Lächeln, ein Lächeln, vor dem all die winzigen Menschenschwächen und die höchsten Menschengefühle göttlicher Begeisterung in Eines schwanden und zart sich umwerteten in ein ewiges Wohlwollen, liebenden, leisen Humors.

Und jetzt hörte der Pfarrer wiederholt einen zitternden Ton aus dem Schwellen der Harmonienmassen, ein Tremolo, das ihm wiederklang wie das eigne stillselige Erzittern seiner Seele. Er wußte nicht, daß es der Tenor war, der Bankbeamte, der durch das verbotene Anschlagen solcher Schallwellen eine Art von stillem Racheakt verübte. Mit Eifersucht hatte er gesehen, daß zwischen der Meisterstochter und jenem kaltlächelnden Amerikaner Blicke des komischen Einverständnisses gewechselt worden. Nun hatte er absichtlich tremoliert, um zu prüfen, ob man sich heimlich über ihn lustig 524 machen wollte. Und in der Tat, Gebärden und Mienen waren gefolgt, die sich nur auf ihn beziehen konnten. Der Meister hatte ihm einen scharfen Blick zugeworfen, die Frau Professorin sogar leise mit den Achseln gezuckt über diesen musikalischen Fehler. Da mischte sich das Gefühl der Kränkung mit dem Bedürfnis der Vergeltung, daß der Sänger nunmehr halb unwillkürlich, halb absichtlich seine Stimme stoßweise erzittern ließ, daß es sich gelegentlich anhörte wie der Triller einer klagenden Nachtigall. Mit finsterer Miene dirigierte der Meister weiter, er fürchtete, seine Motette werde an ihren schönsten Stellen Schaden erleiden.

Unten aber bei der Jesusstatue saß der wohlwollende alte Pfarrer in einem leisen Seelenrausche von den Klängen der Orgel und der Menschenstimmen. Und als jetzt wie aus einem Piano von neuem das schluchzende Nachtigallentremolo hervorzitterte, da trieb es dem guten Pfarrer ganz langsam eine Träne der überirdischen Seligkeit in die Augen. Der Dom mit seinen Wölbungen und Hallengängen ward ihm zur Wölbung des Himmels selbst und der unendlichen Himmelsräume. Die Menschen seiner Gemeinde, die ebenso andächtig lauschten wie er selbst, die er alle vom gleichen Gefühl, von gleicher Schönheitsempfindung bewegt wußte, wuchsen ihm zu einem einzigen Liebeswesen in jenem himmlischen Jenseits seiner Gefühle zusammen, verklärte Engelsgestalten, unter denen segnend der Eine, marmorne Gütige als 525 Seelenreiniger und Seelenerlöser waltete. Und indem der Pfarrer fühlte, wie das Werk seines neuen Freundes sichtlich in die Seele der lauschenden Gemeinde tiefer und tiefer eindrang, da pries er seinen Gott und den Gott des Meisters oben zugleich, und sein Sehnen nach Unsterblichkeit ward ihm zum gegenwärtigen Besitze einer noch höheren Ewigkeit des Vorgenusses aller himmlischen Hoffnungen im Sinne des Meisters.

Aber auch oben im Chore waren die Gefühle der Rache geschwunden und ausgeglichen. Der Meister hatte mit dem Instinkt, mit dem der tätige Künstler fühlt, was in der Seele seiner Zuhörer wirkt, empfunden, daß das Tremolo gar nicht so schlecht klang, ja, tief rührend sich bewährte. Er dachte an alte italienische Musik und alten Gesang Italiens, wo man ja dies Gesangsmittel nicht wie in Deutschland verpönte. Er fühlte, es war doch schön, und er faßte eine heimliche Sympathie für den Tenor. Diesem selbst aber hatte sein Nachtigallenschlag so außerordentlich gefallen, daß er darüber auch vergaß, was in ihm gegrollt hatte. Und als die Motette ihrem Ende nahte, hatte der Strom der Töne und der Strom der ausgewirkten schönen und höheren Gefühle eine Stimmung der Weihe und Rührung über alle gebracht, daß zuletzt der Meister selbst, ergriffen vom Gefühl des Dankes und der Schönheit des Gemeinsamkeitswirkens auch etwas Feuchtes in seinem Auge spürte, das ihm beim Notenlesen hinderlich wurde und 526 ihn nötigte, mit der Hand rasch einmal sich über das Auge zu wischen.

So endete dieser Gottesdienst, und alle gingen auseinander mit dem Gefühl, bereits hienieden in einem besseren Jenseits zu Gaste gewesen zu sein, wo Harmonien der Töne in sich alle Mißklänge der kleinen, vergänglichen Ichheit aufzehren, und wo selbst das Übelwollen und der Übelgedanke dienen müssen, die schönsten Seelenklänge der Menschheit hervorzulocken.

 


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