Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Der arretierte Frühling

Eines Tages gefiel es dem Frühling nicht mehr an der Riviera. Er sprach also: »Ich will mich aufmachen und wieder ins alte Germanien ziehen. Da ist's für einen anständigen Frühling immer noch am besten.« Der Frühling packte also seine Koffer zusammen, lud sie auf einen Wagen, spannte vier Rosse davor und fuhr die alte Paßstraße bergan gen Norden.

Unterwegs sprang ein Büblein, das ein kleines Paketchen und eine winzige Armbrust trug, aus dem Gebüsch und hockte sich hinten auf den Wagen, wie Büblein zu tun pflegen. Der Kutscher bemerkte es und schmitzte mit der Peitsche nach ihm, wie Kutscher zu tun pflegen. Aber das Büblein blieb sitzen, und der Fuhrmann tat, als ob er es nicht weiter bemerke.

Als die Paßhöhe erreicht war und die kalte deutsche Tannenluft dem Frühling in die Nase fuhr, kriegte er einen Husten, spuckte und schneuzte sich. Die Augen tränten ihm, und er sagte erschrocken: »Ei verflixt ja! Das riecht nach Deutschland!« Dann aber fuhr er bergab und fror nach einer halben Stunde so jämmerlich, daß er in einer Herberge Einkehr halten mußte.

Die Wirtin erkannte ihn und fragte, ob ihm mit einem frischen Maitrank gedient sei, er aber wünschte einen heißen Punsch. Unterdes hüpfte das Büblein, das mitgekommen war, vor Kälte von einem Bein aufs andere, schlug mit den Armen und leckte immer mit der Zunge nach seiner Nase hin.

»Ist das Ihr Junge?« fragte die Wirtin.

»Nein, Mutter Renate,« fagte der Frühling; »ich bin glücklicherweise unverheiratet. Mein Bruder Sommer und mein Großonkel Herbst, die sind verheiratet. Sollen mal sehen, wie die geschnitten und gerupft werden. Der Bengel da stammt irgendwo unten aus Griechenland. Er heißt Amor. Geht mich eigentlich gar nichts an. Klammert sich aber an mich und hält mich für seinen Erbonkel. Geben Sie ihm eine heiße Milchsuppe.«

»Ich möchte lieber Champagner!« krähte das Büblein. »Veuve Clicquot

Worauf es eines hinter die Ohren und dann seine Milchsuppe kriegte.

Als der Frühling einen zweiten und noch einen dritten Punsch ausgetrunken hatte, zog er ein veilchenblau-gebundenes Notizbuch heraus und sagte: »Also da will ich mal kalendern und Programm machen. Zunächst ziehe ich natürlich wieder die alte Rheinrinne rauf. Bei den Rheinländern müssen die Kirschen vier Wochen eher blühen als anderswo. Und dann direktement nach Berlin. Dort kann ich lustig sein. Setz' mich der Reihe nach auf die 20 000 Schneeabfuhrwagen, und dann freuen sich die Berliner, zeigen auf die Wagen und sagen: »Seht man, det is der Frühling!« – Den Berlinern bin ich gut, die sind in manchen Dingen die bescheidensten Kerle von der ganzen Welt.«

Der Frühling wollte in seinem Programm fortfahren, aber die Müdigkeit übermannte ihn, er schlief ein. Das Büblein, das Amor hieß, huschte herbei, roch an dem Punsch, nippte einmal daran, wurde augenblicklich berauscht und fiel Mutter Renaten um den Hals, die infolge des Überfalls eine Herzkrankheit bekam und sechs Wochen später ihren um dreißig Jahre jüngeren Knecht heiratete.

Am anderen Tage fuhr der Frühling mit schmerzendem Kopfe weiter. Er fror wieder jämmerlich, mußte die Hufe seiner Rosse schärfen lassen und schließlich im lieben Österreich bei einem pfiffigen Händler seinen prachtvollen Wagen gegen einen alten Frachtschlitten vertauschen, weil er sonst nicht weiter gekommen wäre. Der Knabe Amor leckte den ganzen Tag nach seiner Nase hin und heulte gottsjämmerlich vor Frost. Er konnte es aber doch nicht unterlassen, in Innsbruck einem vorübergehenden armen Gymnasiasten eines seiner Geschosse an den Kopf zu werfen, was zur Folge hatte, daß der junge Mann erst in Liebe zu einer Reichsgräfin, dann in Schwermut und dann durchs Examen fiel.

Am dritten Tage wurde die Kälte so arg, daß der Frühling in einem Bauernhause einen alten Schafspelz für sich und eine Düffeljacke nebst Ohrklappenmütze für den Amor einhandeln mußte.

So kamen die beiden irgendwo an die Grenze des Deutschen Reiches, versuchten, mit verfrorenen Stimmen »Deutschland, Deutschland über alles« zu singen, und fuhren unbefangen fürbaß ihres Weges. Da sprangen plötzlich zwei Männer mit Gewehren aus einem Straßengraben und hielten das Gespann an. Es waren Zollwächter. Grenzer!

»Wo haben Sie Ihren Zollschein?« herrschte einer den Frühling an.

»Zollschein? Zollschein – was ist das? Ich kenne Sonnenschein und Mondenschein, aber keinen Zollschein.«

»Mach keine faulen Witze, du Schafbauer; den Zollschein her oder –«

Es gab ein Her und Hin, und der Schluß war, daß der Frühling samt all seinen Koffern zwangsweise nach dem Zollamt transportiert wurde. Dort gab es großes Hallo; der Kontrolleur, der Oberkontrolleur, der Inspektor und der Oberinspektor, alle stürzten herbei, und es begann eine hochnotpeinliche Untersuchung. Der ganze Frachtschlitten wurde abgeladen und Ballen um Ballen ins Amtslokal geschafft.

»Was ist in der gelben Kugel?« fragte der Oberinspektor.

»In dieser goldenen Kugel ist Licht!« sagte der Frühling, und seine Augen strahlten.

»Also wollen wir das Licht konfiszieren,« meinte der Oberbeamte.

»Erlauben Sie, ich komme ja eigens, um das Licht nach Deutschland zu bringen.«

»Eben, eben, und das ist straffällig! Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Weiter! Öffnen Sie mal den Ballen da! O – o, Parfüm! Veilchen, Reseda, Maiglöckchen – ei ei – das ist wohl Pariser Ware?«

»Aber – aber ich will doch gern Duft ins Deutsche Reich tragen.«

»Duft? – Mein Lieber, was wir an Duft brauchen, fabrizieren wir uns selbst.«

Amor hielt sich die Nase zu.

»Und hier – was ist in dem Paket?«

»Sonnengold und Quellensilber!«

»Ei der Taufend! – Edelmetall! Wer hätte das einem so schäbigen Kutscher angesehen. Herr Kontrolleur, sehen Sie bitte mal im Tarif unter »Qu« nach der Taxe für Quellensilber nach. Und da?«

»Sind Frühlingsgedichte, die man mir unterwegs gegen meinen Willen auf den Schlitten warf.«

»Gedichte sind in Deutschland das einzig Zollfreie,« sagte der Oberinspektor, »die können Sie behalten. Weiter! Das nächste Paket!«

»Blumen, Grasspitzen, grüne Blätter,« sagte der Frühling beklommen.

»Aha, Konfektion! Sie sind ja ein ganz gefährlicher Schwärzer, mein Lieber. Was hat denn der Kleine da in seinem Päckchen?«

Amor fing an zu heulen.

»Ich möchte gern ein Glas Champagner oder wenigstens eine Milchsuppe,« schluchzte er.

»Halt's Maul, dummer Bengel, hier ist kein Wirtshaus. Zeig her! I du meine Güte, lauter goldene Herzchen, goldene Pfeile, Ringe, Ketten, kurz, Goldarbeitersachen. Das nenn' ich einen Fang.«

»Aber die brauch' ich,« schluchzte Amor, »die Pfeile und die Herzchen brauch' ich so nötig, und was wollen denn Sie mit so viel Liebe anfangen, alter Herr!«

Der Herr Oberinspektor fühlte sich durch diese Einwendung beleidigt und wurde nun noch gröber und unfreundlicher.

»Kontrebande! Lauter Kontrebande!« brüllte er. »Seit Jahren ist mir eine so gefährliche Schmugglerbande nicht vor die Augen gekommen. Na, wartet mal ab, das kostet ein Vermögen von Strafe, und obendrein müßt Ihr sitzen, sicher sitzen!«

»Das kann ich nicht,« sagte der Frühling schlicht, »ich muß nach Deutschland. Ich bitte Sie, mein Eigentum wieder aufladen und mich ruhig ziehen zu lassen.«

»Sind Sie verrückt? Sie sind zunächst samt dem Jungen arretiert, und alles Weitere wird sich finden. Jetzt wollen wir mal die Personalien feststellen.«

Er nahm ein sehr amtlich aussehendes Formular zur Hand.

»Name?«

»Lenz.«

»Wie?

»Lenz!«

»Mit tz oder ohne tz?«

»Mit z, aber ohne t,« lächelte der Lenz.

»Mensch, grinsen Sie nicht! Wie soll ich Sie und Ihren Namen kennen? Also ohne tz! Vorname?«

»Sanfter.«

»Was?! – Sanfter?! – Is mir neu. Hab' was vom sanften Heinrich oder vom sanften Cornelius gehört, aber Sanfter Lenz – nee –«

»Es wird ein Österreicher sein,« mischte sich der Inspektor ein; »die haben so verrückte Namen, z. B. Rainer und so ähnlich –«

»Ja so, meinetwegen! Also »Sanfter Lenz«. Geboren?«

»Geboren den 21. März.«

»Anno?«

Der Frühling zuckte die Achseln.

»Ja so, Sie verstehen kein Latein. Natürlich! Ich meine also, Mann, in welchem Jahre sind Sie geboren? Wie alt sind Sie?«

»Ich weiß es nicht!« antwortete der Frühling.

»Er weiß es nicht. Unglaublich! Bei unseren heutigen Volksschulen. Zeigen Sie mal her!«

Er blickte dem Frühling prüfend in das strahlend schöne Gesicht.

»Junger Kerl noch! Sind Sie schon zur Gestellung gewesen?«

»Was ist das: Gestellung?« fragte der Lenz.

Hier mischte sich der Inspektor wieder ein. »Es wird, wie gesagt, ein Österreicher sein, der weiß nicht, was Gestellung ist; da müssen Sie deutsch mit ihm reden, müssen Sie fragen, ob er schon zur Assentierung war.«

»Also waren Sie schon zur Assentierung?«

»Nein,« lächelte der Lenz.

»So, – also wird er höchstens 19 Jahre alt sein. Wollen also schreiben: Sanfter Lenz, geboren 21. März 1893. Hinter 1893 ein eingeklammertes Fragezeichen. Was man mit dem ungebildeten Volk für Scherereien hat, ist unglaublich. Und nun weiter. Stand und Gewerbe?«

»Prinz!« sagte hoheitsvoll der Lenz.

»Wa – a – as?«

»Prinz!« wiederholte der Lenz, schlug den alten Schafspelz zurück und stand in flimmerndem Gewande da.

»Pr – Pr – Pr – doch kein r – r – richtiger Pr – Prinz?«

Der Frühling streckte lächelnd seine weiße Hand aus, an der ein Ring mit einer goldenen Krone blitzte.

Der Herr Oberinspektor beugte sich über die Hand und zählte mit fliegenden Augen die Zacken der Krone.

»Neunundneunzig Zacken,« keuchte er, »neunundneunzig Zacken, da – da – müssen Sie ja ein kolossal hoher – Pr – Prinz –«

»Der allerhöchste, den's gibt, und der allerreichste,« mischte sich das Kerlchen Amor darein. »Seht Ihr nicht, daß auf jedem Paket dasselbe königliche Wappen ist?«

Nun sahen sie nach und bemerkten erbleichend die Wappen. Und der Frühling griff in die Tasche und zog einen goldenen Adelsbrief heraus; denn der Frühling hat seinen Adelsbrief stets bei sich.

Als die Zolleute das sahen, knickte erst der Oberinspektor zusammen, dann der Inspektor, dann der Oberkontrolleur, dann der Kontrolleur, dann die Grenzaufseher.

»Königliche Hoheit – Kaiserliche Hoheit – Majestät – sehen uns vernichtet, – wenn eine politische – Verwicklung, – eine Feindschaft mit dem Deutschen Reich daraus entsteht –«

»Eine Feindschaft mit dem Deutschen Reich,« sagte der Frühling milde, »wäre schlimm für beide Teile. Aber ich bleibe dem Deutschen Reiche treu, ich liebe es. Und nun, meine Herren, wollen Sie mir meine Sachen, die nichts als Gastgeschenke für Ihr schönes Vaterland sind, zurückgeben?«

»Königliche Hoheit,« sagte der Oberinspektor, »das Eigentum regierender Fürstenhäuser ist natürlich zollfrei. Wir packen augenblicklich alles wieder zusammen und bitten untertänigst und flehentlich um Vergebung.«

»Es ist schon gut,« sagte der »Sanfte Lenz«; »ich zürne Euch nicht und werde Euch sogar etwas Sonnengold schicken für Eure graue Stube.«

»Aber ich will meinen Beutel auch zurück,« rief jetzt Amor; »denn erstens brauche ich ihn so notwendig und zweitens bin ich ein Königssohn wie jener.«

Das Kerlchen stellte sich bei diesen Worten in Positur und hätte fast hoheitsvoll ausgesehen, wenn sich bei ihm nicht gerade wieder die fatale Notwendigkeit eingestellt hätte, nach der Nase zu lecken.

Unter tausend Entschuldigungen wurden nun die aufgerissenen Pakete wieder verpackt. Der Herr Oberinspektor legte selbst Hand an. Als alles neu verladen war, setzten der Frühling und Amor ihre Reise fort, ausgestattet mit einem großen amtlichen Freizollschein.

Als sie ein Stückchen fort waren, lachte der Lenz und sagte:

»Amor, setz dich zu mir! Wir haben Glück, daß wir königliche Prinzen sind, sonst hätte man uns am Ende ins Deutsche Reich nicht hineingelassen. Nun aber wollen wir mitten hindurchziehen über Feld und Wald, Berg und Tal und durch alles Volk.«

Und so taten sie, und alle jungen, fröhlichen Menschen, die von ihrem Kommen hörten, gingen ihnen jubelnd entgegen.


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