Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Kleine Legende.

Es waren zwei Engelchen im Himmel, die langweilten sich.

»Laß uns auf den Sandhaufen gehen, den uns der liebe Vater aufgetürmt hat,« sagte das eine.

»Das wollen wir,« sagte das andere.

Und sie gingen auf den Sandhaufen, wo dicht geschichtet Körnlein neben Körnlein lag, und spielten. Am meisten machte es ihnen Spaß, einen silbernen Becher voll Sand zu füllen und ihn rieselnd wieder ausrinnen zu lassen.

Schließlich sagte das eine der Englein: »Ach, das ist auch langweilig. Komm, wir wollen ein Mikroskop holen und eines der Körnlein betrachten.«

»Das wollen wir,« sagte das andere.

Und sie schlichen in das Laboratorium von Gott Vater und holten ein Mikroskop. Sie mußten sich vorsehen, nicht erwischt zu werden, denn was wollten solche kleinen Engelchen mit einem Mikroskop? Sie verstehen wenig davon und können so etwas leicht zuschanden machen. Aber die Engelchen entwischten mit ihrem Mikroskop ungesehen zu dem Sandhaufen.

»Ein Körnchen legen wir unter die Linse, nicht mehr,« sagte das eine.

»Das wollen wir,« sagte das andere.

Und sie nahmen ein Körnlein aus dem silbernen Becher, legten es unter die Linse und beobachteten es.

»Welch ein Spaß!« rief das erste, »sieh, wie es wimmelt!«

»O,« rief das zweite, »wieviel krabbelt da herum!«

»Was alles in so einem Körnchen steckt,« sagte das erste anerkennend: »Sieh mal, die einen gehen auf die andern los, eine Reihe flieht, die andere macht sich hinterher – drollig!«

»Drollig,« sagt auch das zweite. »Jetzt sind ganze Reihen nicht mehr zu sehen. Sie liegen auf dem Rücken. Die anderen rennen und recken die Arme oder die Fühler! Was da sein mag?«

»Ja, was nur da sein mag,« sagte das erste nachdenklich. Just kam Gott Vater daher. Er lächelte milde, aber ernst und sagte zu den Engelchen:

»Gebt das Mikroskop her; was versteht Ihr junges Volk – von der Völkerschlacht bei Leipzig!«


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