Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Später Herbst.

Ein Stimmungsbild.


Die Großmutter.

Bärbel.

Der Hund.

Die Katze.

Eine Wachtel.

Eine alte Fliege.

Der Kachelofen.

Die Wanduhr.

Später der Briefträger.

Spätherbstnachmittag in einer niederen Bauernstube. Die Großmutter zupft Federn am Tische; Bärbel näht am Fenster, von der Großmutter abgewendet. Hund und Katze liegen einträchtiglich unter der Ofenbank. Im Bauer eine Wachtel. Am kleinen Fenster eine alte Fliege. Fahlgraue Beleuchtung und schwere Stille.


Die Wanduhr (rasselnd). Rrr! Rrr! Rrr! – Mmmm! – Tak – tak – tak – tak –

Hund (gähnt). Schon wieder dreie! Wie die Zeit vergeht!

Katze (mißlaunig). Was schläfst'n nich? Wenn du nich ruhig liegst, leg' ich mich wo anders hin!

Hund (faul). Ich schlaf schon wieder.

Katze. Na, da räkele dich nich immer!

Großmutter. Bst!

Wanduhr. Tak – tak – tak – tak –

Lange Pause.

Großmutter (leise den schmerzhaften Rosenkranz betend). Der für uns Blut geschwitzet hat.

Bärbel hustet hohl und schwindsüchtig.

Großmutter (aufsehend). Hast du schon Tee getrunken, Bärbel?

Bärbel (schüttelt den Kopf). Es nutzt nichts!

Großmutter. Du mußt trinken, Bärbel, du mußt trinken! Es wird dir schon helfen, wenn's Frühjahr kommt. Es wird schon helfen! (Sie seufzt schwer.) Der für uns ist gegeisselt worden!

Wanduhr. Tak – tak – tak – tak –

Die Fliege (zitternd am Fenster auffliegend). Uuiih! – Uuiih – Sonne – ein bißchen Sonne!

Die Wachtel (im Bauer klagend). Sommer ist aus! Sommer ist aus! Alle sind fort! Brüderlein fort! Schwesterlein fort! Ich bin allein!

Der Kachelofen (brennt dem Hunde und der Katze das Fell an). Weg, ihr faulen Gespenster!

In rascher Folge:

Hund Au!

Katze Au!

Hund Hau!

Katze Miau!

Großmutter. Bst! Mietze! Fips! Bst! Wollt ihr wohl stille sein!

Die beiden Tiere sehen den Ofen gekränkt an, schleichen fort und legen sich in die Mitte der Stube.

Hund (zufrieden). Es geht hier auch!

Katze (zornig). Der Grobian! Mein schönes Fell!

Hund (schon wieder faul). Verschlaf's halt!

Wanduhr. Tat – tat – tat – tat –

Bärbel (für sich). Ist das trübe! Ob er heute schreibt – ob er schreibt? O Gott – ich – ich halt's nicht mehr aus – nein, ich halt's nicht mehr aus! Es liegt so auf der Brust – es tut so weh – wenn er schriebe – würde es besser werden – (Sie hustet.)

Großmutter (betet). Der für uns mit Dornen gekrönt worden ist –

Fliege. Uuiih! – Uuiih – Sonne – ein bißchen Sonne!

(Sie flattert am Glase empor und fällt kraftlos auf den Rahmen zurück.)

Die Wachtel (sehnsüchtig). Fern im Süd – weit überm Meer – ist meine Braut!

Pause; nur die

Wanduhr. Tak – tak – tak – tak –

Hund (auffahrend). U! – U! – Huuuuuh!

Katze. Was hast'n wieder?

Hund. Es kommt wer! Huuuuh!

Großmutter (aufsehend). Wer kommt denn?

Bärbel (springt auf; sehr erregt). Ach, Großmutter – es ist nichts – es ist bloß – ich will mal 'raussehen –

Großmutter. Bleib'! Es ist zu kalt für dich draußen.

Bärbel. Ich nehm' ein Tuch – ich muß – ah – da – ist er schon –

Der Briefträger tritt ein; Hund und Katze springen auf; die Großmutter sieht verwundert auf den Mann; Bärbel ist sehr blaß.

Großmutter. Nanu? Bringen Sie einen Brief? Wer schreibt denn an uns?

Bärbel sieht den Briefträger flehend an, nichts zu verraten.

Briefträger. Nö, nö, Großmutter! Kein Brief! Nichts da für euch! Die Pfeife ist mir bloß ausgegangen. Um ein bissel Feuer bitt' ich.

Großmutter. Ach so, – ich wüßte auch nicht, – na, da gib ihm, Bärbel. Sie haben auch ein schweres Brot jetzt!

Bärbel (leise zum Briefträger). Ich danke Ihnen! (Sie öffnet den Ofen und zündet einen Span an.)

Der Ofen (mit bösem Hohn). Zischschsch!

Briefträger (während er Bärbel heimlich einen Brief gibt). Ja ja, Großmutter, das Wetter ist schlecht, und der Weg ist weit. Da tut die Pfeife gut! Na, ich danke, und behüt' Gott zusammen!

Großmutter und Bärbel. Adje!

Hund. Huuuuh!

(Briefträger ab.)

Bärbel geht zitternd an ihren Platz und betrachtet vorsichtig die Großmutter; dann öffnet sie leise den Brief und liest.

Wanduhr. Tak – tak – tak – tak –

Bärbel (weh – aufschreiend und zusammensinkend). Jesus – Maria!

Großmutter (auffahrend). Was hast'n, Bärbel, was hast'n, Kind?!

Bärbel. Ach – ach, – ich – die – die Nadel – die Nadel –

Großmutter. Gestochen! Und da schreist du so? Du bist krank, Bärbel, – krank. (Setzt sich.) Sehr krank! – Du armes Mädel! – Ach, du mein Heiland! – – –

Pause.

Großmutter (betet). Der für uns das schwere Kreuz getragen hat ...

Wanduhr. Tak – tak – tak – tak –

Bärbel (schaut mit toten Augen zum Fenster hinaus). Das tut er mir an – das kann er tun – er konnte nicht so lange warten – er wollte nicht warten – bis ich – bis ich – erlöst (sie hustet lange), nun, nun ist's ganz gut so – (sie legt sich mit dem Gesicht schwer aufs Fensterbrett).

Fliege (mit feinem Stimmchen). Son – ne, – – Wär – me, – ich – ich – sterbe – uuiiih – (stirbt und fällt herab).

Die Wachtel (mit leisem, wehmütigem Schlage). Es war einmal – im Erlenbusch – die Sonne schien – Frühling war draußen – und Liebe im Herzen – es waren einmal zwei glückliche Leute – nun ist's vorbei – nun ist's vorbei – –

Es wird dunkel. Der Regen klopft ans Fenster.

Wanduhr. Tak – – tak – – – tak – – – – (sie bleibt stehen).

Großmutter (ganz leise betend). Der für uns am Kreuze gestorben ist ...


 << zurück weiter >>