Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Überflüssigen

Wie ich mit dem lieben Gott im Schlitten fuhr.

Eine Kindheitserinnerung von Paul Keller.

Daß Bauernbuben eine besonders starke Abneigung gegen das Schlittenfahren hätten, wird niemand so leicht behaupten. Als ich vor etwa dreißig Jahren noch ein Bauernbub war, gehörte auch für mich das Schlittenfahren zu den allergrößten Genüssen des Lebens. Nur einmal war ich ein wenig bedenklich, als ich mitten in einer bitterkalten Winternacht geweckt wurde und es hieß: ich solle augenblicklich aufstehen und mit dem Herrn Pfarrer zum Kranken fahren. Hinaus nach der Kolonie, dort liege der Maurer Henschel im Sterben.

Frierend saß ich auf dem Bettrand und bemühte mich, in meine Stiefel hineinzukommen. Ich hatte immer nur ein Paar Stiefel. Sie waren von Rindsleder, hatten lange Schäfte und waren vom Ruppert-Schuster so verzwickt gebaut, daß es nur einem völlig Ortskundigen überhaupt gelang, in sie hineinzufinden. Und dann hatte es noch seine liebe Not. Ich mußte erst immer, die Ösen der Schäfte stramm emporgezogen, fünfmal um die ganze Stube hupfen und siebzehnmal gegen den Fußboden stampfen, ehe ich »drinne« war.

Ich haßte diese Stiefel. Jedes Paar war bestimmt, ein Jahr lang auszuhalten. Und sie hielten auch aus, namentlich die Schäfte; dagegen waren die Fußspitzen meist nach vier Wochen schon »durch«, was dann den Ruppert-Schuster veranlaßte, »Kappen« aufzuflicken, Lederflecke von einer geradezu grotesken Gestalt und alles mit ganz windschiefen Nähten von grauem abscheulichem Schusterzwirn. Mit solch einer Beschuhung soll man nun einen jungen Gentleman herausbeißen, wenn's mal aus irgend einem Grunde nach was aussehen soll!

Ich war also auch in dieser Nacht froh, als ich »drinne« war und mich überzeugte, daß sogar beide Fersen richtig unten aufsäßen. Meine andere Toilette war rasch beendet, und ich stampfte alsbald durch den tiefen Schnee der Kirche zu. Tot und öde war die Dorfstraße, der Schnee knirschte unter meinen Füßen, und der Mond, der hinter Wolken steckte, verbreitete ein düsteres, geisterhaftes Licht auf der Gasse. In der Schule holte ich die Kirchenschlüssel und wandte mich nach dem Friedhof, in dessen Mitte unser Gotteshaus aufragte. Vor den Toten hatte ich keine Angst. Bis auf einen einzigen! Das war der Winter-Wirt, mit dem ich zu seinen Lebzeiten auf Kriegsfuß gestanden hatte. Er hatte immer ein besonderes Vergnügen daran gefunden, mich an den Haaren oder an den Ohren zu ziehen, und ich hingegen hatte ihm einige unschöne Streiche gespielt. Man tut ja als Schulbub, was man nur irgend kann. Nun lag der Winter-Wirt auf dem Friedhof, gerade am Gange, und wenn ich bei seinem Grabe vorbeiging, hatte ich immer das peinliche Gefühl: jetzt fährt er mit dem Fuße heraus und gibt dir eins in den Rücken, daß du auf die Nase fällst! Zur mitternächtigen Stunde nun gar verstärkte sich dieses Angstgefühl, und es wollte nichts helfen, daß ich mich selbst beschwichtigte und mir gut zuredete: der Winter-Wirt würde sich schön hüten, aus seinem warmen Grabe mit dem Fuß an die kalte Luft herauszufahren, wo er doch so oft an der Gicht gelitten hatte. Nein, es war nicht zu leugnen, ich fürchtete mich. Und so ging ich erst ganz leise und behutsam, und wie ich in die Nähe vom Winter-Wirt kam, sauste ich im Galopp an ihm vorbei. Dabei fiel mir nun wieder meine Großmutter ein, die auch am Wegrande lag und zu ihren Lebzeiten tausendmal gesagt hatte: »Junge, tritt doch nicht so auf, du weißt doch, daß ich Kopfschmerzen habe!«

In der Kirche wurde mir wohler. Ich hatte als Ministrant fast alle Tage Kirchendienst und fühlte mich in der Kirche völlig zu Hause. Es gab da nichts, was mich im mindesten hätte schrecken können, auch nicht diese tiefe Finsternis, die nur durch die ewige Lampe ganz matt erhellt wurde. Ich schloß die Sakristei auf und holte den »Krankenbeutel«. Das war ein braunes Leinensäcklein, in dem ein Kreuz steckte, zwei Leuchter, zwei Kerzenstummel, eine kleine Glocke und etliches, was zur heiligen Ölung gebraucht wurde.

Da schallte eine Stimme durch die Kirche: »Bist du da?«

»Ja!« sagte ich.

Es war der Pfarrer. Er stieg die Altarstufen hinauf und öffnete den Tabernakel. Ich kniete nieder und schlug an meine Brust.

»Herr Jesus, dir lebe ich! Herr Jesus, dir sterbe ich! Herr Jesus, dein will ich sein jetzt und in Ewigkeit!«

Der Pfarrer entnahm dem Ciborium eine heilige Hostie, legte sie in eine goldene Kapsel, steckte die Kapsel in die seidene Burse, die er auf der Brust hängen hatte, schloß den Tabernakel, und wir gingen.

Auf der Straße wartete des Pfarrers Kutscher mit dem Schlitten; ich schwang mich zu ihm auf den Bock, er schlug eine Decke um meine Knie, und die Fahrt ging los.

Der Mond trat aus den Wolken und beleuchtete den weißen Weg. Das Dorf lag bald hinter uns; wir fuhren übers freie Feld, der kleinen Ansiedlung zu, wo der Henschel-Maurer im Sterben lag. Es wurde mir ganz eigen und nachdenklich zu Mute. Vier waren wir auf dem Schlitten: Ich, der Kutscher, der Pfarrer und der liebe Gott! Ich betete ein Vaterunser und ein Paar fromme Reimlein, dann brach meine etwas derbe Bauernbubennatur wieder durch, und ich geriet ins Spekulieren. Es fiel mir ein, daß ich den lieben Gott selten einmal für mich so allein hätte wie jetzt. In der Kirche, da waren immer viele Leute, und alle hatten ein Anliegen oder zehn oder tausend. Aber jetzt – wo wir so allein waren in diesem Schlitten – da konnte ich leicht zu Worte kommen und auf Erhörung rechnen. Es war aber eine tiefe Scheu in mir und ich wandte mich erst mit dem Kopf halb nach hinten, ob ich es wagen dürfe und ob es auch der Pfarrer nicht hören würde. Und es war mir, als ob mir jemand zurede: Sag nur alles in deinem Herzen! Da sagte ich alles, und ich will hier nichts beschönigen und mein sonderbares Gebet wiedergeben.

Ich fing an, daß ich doch in der Schule gelernt hätte, der liebe Gott verlange nichts umsonst, er belohne auch die kleinste gute Tat. Nun sei es doch gewiß gar nicht so einfach, nachts aus dem warmen Bett aufzustehen, sich die engen Stiefel anzuziehen und über den Kirchhof zu gehen an Winter-Wirts Grabe vorbei und dann bei der Großmutter, die soviel Kopfschmerzen habe. Das alles habe ich dem Heiland zuliebe getan, und wenn es deshalb nicht zu viel verlangt sei, so möge er es doch, bitte recht schön, so fügen, daß ich nicht immer in diesen häßlichen Stiefeln laufen müsse, sondern einmal ein Paar richtige Gamaschen aus der Stadt bekäme. Mit Gummizug! So, wie sie der Sohn des Briefträgers hatte, als er in den Ferien mit seinem Vater in unserm Dorfe war.

So – nun war's heraus! Ein Weilchen saß ich still; dann wandte ich wieder den Kopf zur Seite, ob nicht von rückwärts eine Antwort käme. Es kam aber keine – kein Ja und kein Nein. Ganz bedrückt saß ich da.

»Fahr schneller!« rief der Pfarrer den Kutscher an. Der trieb die Pferde an, und bald darauf hielten wir vor Henschel-Maurers Haus. Die Henscheln kam uns mit ihren sechs Kindern entgegen, und alle fielen schluchzend auf die Knie. Der Pfarrer hob das höchste Gut segnend über sie und sprach den vorgeschriebenen Gruß: »Friede sei mit diesem Hause und mit allen, die darin wohnen!« Dann stiegen wir eine enge steile Treppe hinauf. In der Oberstube lag der Henschel. Hatte sein ganzes Leben so schwer gearbeitet und so schwer gedarbt, daß er mit fünfunddreißig Jahren am Ende war. Die roten Schwindsuchtsrosen blühten auf seinen Wangen und seine Augen glänzten, als seien sie aus Glas.

Über den Tisch war eine weiße Decke gebreitet; ich stellte das Kreuz und die Leuchter darauf, entzündete die Kerzen, deren gefrorene Dochte erst lange knisterten, ehe sie brannten, und dann legte der Pfarrer das hochheilige Sakrament auf den Tisch des Arbeiters. Nun da sein armes Leben zu Ende ging, kam der König der Welt zum Henschel-Maurer.

Der Pfarrer winkte stumm; wir gingen alle hinaus. Der Kranke beichtete. Wir standen derweil draußen auf dem schmalen Flur und halb die Treppe hinunter. Ich war in schwerer Seelennot. Ich schämte mich meines Gebetes im Schlitten. War ich nicht wie jener Pharisäer im Tempel gewesen, der sich hinstellte und dem lieben Gott seine Verdienste vorzählte? Hatte ich den Heiland, der seinen goldenen Kelch verließ und zu einem Sterbenden fuhr und der gewiß auf dem langen Weg nur an dessen Seele dachte, nicht gestört mit meinem albernen Stiefelgebet?

O, es war auch alles danach angetan, daß selbst ein Bauernbub in sich gehen mußte. Die Henscheln rang die Hände zum Himmel, und die sechs Kinder, die um sie standen, weinten und zitterten vor Kälte und Herzeleid.

Und da fiel mein Blick auf die Füße der Kinder. Keines von ihnen hatte Schuhe oder Stiefel an; in Holzpantoffeln standen sie da mit schlechten, geflickten Strümpfen, und eines stand barfuß in den Pantoffeln. So arm waren sie gewesen, da der Vater lebte, und nun lag er drin im Sterben. Was würde dann werden? Die Henscheln rang die Hände zum Himmel! Ich schluchzte mit und dachte an meinen Vater, der gesund war und der in ehrlicher Arbeit es sich schwer genug verdienen mußte, mir diese festen Stiefel zu kaufen, die ich anhatte. Ich konnte nicht anders: ich bückte mich und fuhr einmal streichelnd über die ledernen Schäfte.

Der Pfarrer öffnete die Tür – die Beicht war vorbei. Wir gingen alle in die Krankenstube. Ich war so in Verwirrung, daß mich der Geistliche erst leise mahnen mußte, das allgemeine Sündenbekenntnis zu sprechen. So fing ich an: »Confiteor Deo omnipotenti ... qiua peccavi ... mea culpa, mea culpa ...« und legte auch meine Schuld hinein und fühlte es auch für mich als einen großen Trost, als der Pfarrer durch die Stille der Nacht das »Indulgenitiam, absolutionem et remissionem peccatorum turorum« sprach.

Dann öffnete er die goldene Kapsel, und wie ein weißer Stern stieg die heilige Hostie empor, auf die der Sterbende mit glühenden Augen schaute als auf den letzten Trost, den letzten Halt.

»Herr, gib mir nichts, gib alles den Henschel-Kindern!« betete ich inbrünstig, indes ich dreimal das kleine Glöcklein läutete zum »Domine, non sum dignus».


In tiefem Herzensfrieden bin ich nach Haus gefahren. Wir waren nur noch drei auf dem Schlitten: ich, der Kutscher und der Pfarrer. Der beste von uns war beim Henschel-Maurer geblieben. So hörte ich auch in Frieden am nächsten Tage die Botschaft, daß der Henschel noch in selber Nacht hinübergegangen sei. – – –

Das alles ist nun an die dreißig Jahre her. Aber ich weiß, ein wie guter Fahrgast der liebe Gott im Schlitten war. Ich bin zeitig genug in die Stadt-Gamaschen gekommen, und die Henschel-Kinder gehen heute alle in ehrlichen festen Schuhen und Stiefeln durch die Welt.


 << zurück weiter >>