Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Der dicke Pfahl und das junge Bäumchen.

An einem rosenroten Frühlingsmorgen waren sie mit einander verbunden worden, der Pfahl und das schlanke Bäumchen. Das Bäumchen starrte gleichgültig in die Luft, der Pfahl freute sich. Und darum grinste er. Er konnte gut grinsen, denn von seinen Ast-Augen war eines groß und eines klein, stand eines hoch und eines tief, und sein Maul ging von links oben nach rechts unten.

Der Pfahl war nicht schön anzusehen, und das schlanke Bäumchen liebte ihn darum auch gar nicht. Wohl – wenn ein Wetter kam oder ein stoßender Wind anhub, klammerte sich das Bäumchen an den Pfahl; – wenn aber der Donner verrollt, der Wind über die Berge war, stellte sich das Bäumchen so weit abseits von dem Pfahl, als es nur immer konnte, und klagte ... klagte alle Tage, wie sehr weh ihm die fesselnden Bande täten an seinem jungen Fleisch.

Der Pfahl grinste wehmütig zu diesen Klagen und klagte selber nie.

Eines Tages aber begehrte das schlanke Bäumchen von dem Gärtner: »Ich will mich von dem Pfahl scheiden lassen.«

Der Gärtner bedachte sich die Sache zwei Minuten lang, nahm dann eine Schere und schied das Bäumchen.

Als der Pfahl fortgeschafft wurde, schaute er mit verzerrtem Antlitz auf das Bäumchen, das in tausend Blüten stand. Und er dachte in Liebe, Sehnsucht und Treue in all den trüben Tagen an sein Bäumchen, da er herumgestoßen wurde in öden Gartenwinkeln und dunklen Höfen.

Der Baum trug Blüten und Früchte jedes Jahr, lebte immer in klarer Luft und Sonnenschein. Als aber ein paar Jahre vergangen waren und das Bäumchen nachdenksamer geworden war, bekam es einmal Gewissensbisse, und es sagte zu einem Spatz, der auf ihm saß: »Spatz, flieg doch einmal und sieh, wie es meinem alten dicken Pfahl geht. Es verdirbt mir die Laune, wenn ich denke, daß er sich kümmert. Ich hoffe, es geht ihm gut.«

Der Spatz flog fort und traf den Pfahl, der eben zum Verbrennen in ein flackerndes Herbstfeuerchen geworfen wurde und sagte:

»Pfahl, es verdirbt deiner Trauten die Laune, wenn sie daran denkt, daß es dir am Ende nicht gut gehe!«

Da jauchzte der dicke Pfahl selig auf und rief: »O, sie ist gut, sie ist gut! Sie kümmert sich um mich! Sie denkt an mich! Flieg hin, lieber Spatz, und sage meinem Liebling: sie soll sich nicht länger um meinetwillen die Laune verderben lassen. Sage ihr, es gehe mir gut, sage ihr, ich sei vergnügt, sage ihr, ich gewöhne mir soeben das Rauchen an!«


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