Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Dorfgeschichten.

Herbstabend.

Ein Herbsttag ist zu Ende. Das Wetter ist trübe geblieben von Morgen an. Zwischen der Erde und der Sonne hingen dicke Wolken den ganzen Tag. Es ist eigentlich sehr lächerlich, daß ein so dünnes Spinnwebnetz, wie die Wolken es sind, den protzigen, klobigen Koloß der Erde vom Licht seiner Sonne trennen kann. Oder vielmehr nicht lächerlich, sondern weise darauf hinausgehend: Ihr Menschlein, bildet Euch nichts ein, ein bißchen Wasserdampf pustet Euch die Lampe aus! Ein Bauernbub, der später »auf die Schule« soll, hat den ganzen Nachmittag gelernt. Nun sieht er nicht mehr zum Lesen und Schreiben. Fahl fällt der letzte Abendschein zum kleinen Fenster der Bauernstube herein, deren Wände ein Meter dick sind, so daß das Fensterbrett eine bequeme Lagerstatt für den Buben bildet. Der hat in privatem Unterricht neben der Dorfschule her schon mancherlei gelernt: er weiß, wer Walther von der Vogelweide war, und er kennt die Jugendstreiche des stolzen Alcibiades, er kann sogar die »Kongruenzsätze beweisen«. Nur eines kann er oder darf er nicht: er darf nicht die kleine Petroleumlampe anzünden, denn die Großmutter dazu sei er noch zu dumm.

Wenn nur Großvater und Großmutter bald vom Felde kämen; es wird schon so unheimlich finster. Vater und Mutter sind fort. Droben im Waldenburger Bergland sind sie, um für sich und den Buben das Nötige zu verdienen. Oft geht ihnen die Sehnsucht des Jungen nach in die nebelbehangenen Berge.

Gestern war's schön. Da hat er sich seine Armbrust umgehängt und ist auf die Jagd gegangen. Er schießt famos, aber er trifft nichts. Das macht, weil die Holzpfeile nur 10 Meter weit fliegen und die Hasen sich in weit größerer Entfernung aus dem Staube machen, wenn sie einen solchen Jäger sehen.

Mitten auf dem Felde ist er dem Landrat begegnet. Wenn man es weiß, daß er der Landrat ist, hat man viel Respekt vor ihm. Der Landrat ist in großer Ausrüstung gewesen: Jagdjoppe, Muff, Jägerhut mit Feder, lange Stiefel, eine Flinte mit zwei, drei oder noch mehr Läufen, eine große Jagdtasche, einen Operngucker, all das hat er gehabt.

»Oho, junger Mann!« hat er gesagt; »du gehst wohl auch auf die Jagd? Hast du auch einen Jagdschein?«

»Ich treff nichts,« hat das erschreckte Büblein zu seiner Legitimation geantwortet.

»Nun, ich treff auch nichts!« hat der Landrat gelacht. Dann hat er an sich runter und um sich herum geguckt und gesagt: »Meine Mobilmachung war ja besser als deine; aber die Schlacht hab' ich auch verloren!«

Das Büblein hat den Spaß nicht gleich verstanden, aber weil der Landrat lachte, lachte es aus Leibeskräften mit, und dann haben sie sich gegenseitig mit einem freundlichen Kopfnicken verabschiedet.

Finster wird's. Wenn nur Großvater und Großmutter bald heimkämen! Die Uhr tickt so laut. Es ist komisch, daß sie abends immer eine stärkere Stimme bekommt. Irgendwo in der Welt werden jetzt Räuber aus ihrer Höhle schleichen und durch das Dunkel des Waldes auf einsame Mühlen und Bauernhäuser losziehen.

Wie der Wind da draußen geht! Vom Kastanienbaum fallen Blätter wie große braune Hände. Das ist schauerlich anzusehen. So braune Hände wird jetzt die alte Geistert haben, die vor zehn Tagen begraben wurde. Dem Buben wird schwül. Als die Geistert noch lebte, hat er einmal eine Papiertüte voll Laub gestopft, hat sie kunstvoll zugepackt und auf die Straße gelegt, auf der zur bestimmten Stunde das alte geizige Weib kommen mußte. Und sie kam, sah mit gierigen Augen auf den Fund, bückte sich, griff mit ihren großen Händen nach dem vermeintlichen Schatz und ergriff schreiend die Flucht, als sich die Tüte gespensterhaft unter ihren Fingern nach dem Straßenrande fortbewegte. Daß an der Tüte ein grauer Zwirnsfaden befestigt war und daß hinter einem Busch ein Junge an dem Faden zog, hatte sie nicht bemerkt. Nun war sie tot und würde schon wissen, wer sie gefoppt hatte.

Ein Schrei. Der Junge springt vom Fensterbrett, zwei braune Hände kleben draußen drohend an den Scheiben. Zitternd steht der Bub in der Stube. Grüne Katzenaugen glimmen aus dem Ofenwinkel, ein Seufzen geht um die Hausecken.

Hier ist's nicht auszuhalten. Also hinaus in den Garten; dort ist's wenigstens lichter. In lauter Angst und Schreck ißt der Junge sechs große Birnen auf, die er im Grase findet, dann setzt er sich auf die Gartenmauer. Vielleicht kommt irgendein Mensch vorbei. Es kommt auch einer; aber es ist der Bienert Emil, von dem die Leute sagen, daß er der Scheunenanzünder ist. Das ist auch nichts Tröstliches.

Endlich knarrt das Hoftor. Mit einem Jubelschrei stürzt der Junge hin. Ein mit Kartoffeln beladener Wagen knarrt herein, nebenher gehen Großvater und Großmutter. Der Junge klettert auf den Wagen, wirft sich auf die Kartoffeln und saugt ihren reinen starken Duft ein. Es gibt nichts auf der Welt, was besser riecht als frisch ausgegrabene Kartoffeln. Das weiß der Junge; und ob er sich auch nie an der Feldarbeit beteiligt, er liebt doch deren Resultate. –

Ein wenig später geht er mit dem Großvater durch den Garten. Der Bub hat aus Holunderstäbchen eine Vogelfalle gebaut und den Kasten aufgestellt. Da sitzt nun ein Rotkehlchen drin und piepst ängstlich. Der Junge schreit vor Vergnügen laut auf; aber der Großvater wendet besorgt ein: »Wer weiß, ob es nicht Junge hat!« Da läßt der Bub traurig den Vogel fliegen, und gerade drei Sekunden später fällt ihm ein, daß im Herbst kein Vogel Junge hat. »Nimm den Kasten als Sparbüchse!« tröstet der schmunzelnde Großvater. »Da fällt doch das Geld zu den Seitenritzen raus,« wendet der Junge ein. »Es fällt nicht heraus,« sagt der Großvater, »denn du hast keines hineinzutun.« Und das stimmte. –

Wieder eine Weile später hat der Großvater zwei Ziegelstücke auf eine Steinplatte in Hofe aufgestellt, zwischen den Ziegeln ein helles Holzfeuer entzündet und einen Eisentopf mit Kartoffeln darüber gestellt. Bald brodelt das Wasser, das Feuerchen glimmt, der Wind singt leise, und die beiden träumen in den rotgelben Glanz hinein. Weit über ihnen ziehen nordische Wolken nach Süden.

»Was werd' ich wohl einmal werden?« fragt der Bub.

»Feldmarschall,« sagt der Großvater wie immer. Aber damit gibt sich der Junge nicht zufrieden. Eine Menge Berufsarten führt der gutmütige Großvater auf. Aber auf das eine ist er doch nicht gekommen, was sein Bub nach seiner ganzen Anlage und Erziehung werden mußte:

»Ein Schreiber – ein Geschichtenerzähler.«


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