Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Von armen Beladenen.

Die unschuldigen Kinder.

Das war am 28. Dezember, dem Tage der unschuldigen Kinder. Die Nacht war gekommen, eine jener sieben Nächte, die als die bösesten des Jahres gelten seit alter Zeit. Der Sturm heulte um ein Bauernhaus, aber sein Johlen und Pfeifen wurde übertönt.

Eine Kuh schrie.

Die rote Kuh, deren Kalb der Fleischer am Morgen weggeholt hatte. Der Schrei war voll lebendigen, schrecklichen Schmerzes und kam aus der Tiefe der gemarterten Tierseele.

»Ku–u–u–umm! – Ku–u–u–umm! – Ku–u–u–umm!«

So ging der Sehnsuchtsschrei. Die trüben Augen starrten ins Leere, der plumpe Körper zitterte, die Kette klirrte am Halse.

»Du–u–u! – Du–u–u! – Du–u–u!«

Ein blonder Mädchenkopf schmiegte sich an das Tier, die harten Hände einer Magd fuhren liebkosend über das rote Fell.

»Sei stille, Rutschecke, sei stille, 's is doch nich anders, 's läßt sich ja doch nich ändern!«

Hart fuhr der Wind ans kleine, blinde Stallfenster und die Kuh schrie aufs neue.

»Ku–u–u–umm! – Ku–u–u–umm!«

Der stumpfe, hohle Wehschrei erschütterte den Körper des Tieres und das Zittern ging über auf den jungen, dicht angeschmiegten Mädchenleib.

»Rutschecke, mir haben sie ja mei Kindel auch genummen!«

Die Kuh fuhr mit dem Kopfe herum und starrte das Mädchen an aus großen, trüben Augen.

»Freilich, mei Kindel lebt, – aber 's doch furt, und ich bin hier im Stolle wie du!«

Die menschliche Mutter und die Tiermutter schmiegten sich dichter aneinander. Die warme, dunstige Luft des Stalles umfing sie, aber Sehnsucht und Rufen des Herzens ging auf die Suche durch Nacht und Schnee.

Langsam setzte sich das Mädchen auf einen niederen Schemel. Sie hörte das Klagen der Kuh, hörte das Pfeifen des Windes und geriet ins Träumen. Eine alte schwere Legende ging ihr durch den Sinn.

Das ist am 28. Dezember, am Tage der unschuldigen Kinder, da stehen weiße Geister auf aus kleinen Gräbern bei Bethlehem. Das sind Geister von Knäblein, die zwei Jahre und darunter alt waren. Sie erwachen aus tausendjährigem Schlaf und recken die Ärmchen und stehen da in weißen Hemdchen.

Und auf den Hemdchen glänzt die Spur von dem roten Blut, darin ihr junges Leben verrann.

So stehen sie, und durch die ewigen Palmenkränze auf ihren Stirnen fährt der Nachtwind der Erde, der sie gehörten und die sie doch nicht kennen gelernt haben.

Sie wandern in langer Reihe, immer zu zweien, Hand in Hand, so wie ganz brave Kinder gehen, und kommen an die große Stadt, die Jerusalem heißt. Die liegt in lichtloser, lautloser Ruh.

Unter den Schläfern aber ist einer, der erwacht, – einer, der entsetzt emporspringt, – einer, dem der stille Schritt der Kinder dröhnend in die toten Ohren dringt und den Geist aufrüttelt – –

Herodes!

Die Steinplatte der alten, vergessenen Königsgruft hebt sich empor, ein frischer Lufthauch dringt in die Moderhöhle, goldene Sterne blinken in die schwarze Tiefe, aber der Mann, der da unten haust, schaut nicht zur Höhe, zur ewig vermißten, frischen, sternglänzenden Höhe, – an den Fußboden drückt er aufheulend das Knochengesicht.

In der Ecke der Gruft liegt eine schmutzige, goldene Krone. –

Herodes, sie sind da! Herodes, sie stehen an deinem Grab! Höre, sie singen:

Uns wiegte die gute Mutter
Unter dem Feigenbaum
Mit stillen Liedern und Küssen
In wonnigen Traum.
Du hast uns rauh geweckt,
Du hast uns aufgeschreckt,
Du hast unser Glück verdorben,
Wir sind so früh gestorben:

Uns sah mit Wonne die Mutter
Ins Kinderauge hinein,
Sie hört' unser Herzlein schlagen
Und konnte so selig sein.
Du endest jäh ihre Lust,
Du rissest uns ihr von der Brust,
Du hast unser Aug' gebrochen,
Du hast unser Herz zerstochen:
Herodes!

Da springt er auf, da springt er aus dem Grab, da steht er mitten unter den weißen Kindern. Die Knochengestalt eines Verfluchten unter Verklärten. Die leeren Augenhöhlen richten sich blind auf die singenden Kinder, die dürren Finger tasten über ihren Köpfen hin, die vermoderte Nase wittert in die freie Luft. Wittert nach der Himmelsgegend.

Fliehen! Er muß fliehen!

Nicht nach Ost, da sind die drei Männer aus dem Morgenland, die er für dumm hielt und die doch pfiffig waren und ihn betrogen. Nicht nach Süd! Da zog das Kind, das er haßte und suchte. Hin nach West, da wohnte der Kaiser, der ihn schützte!

Und er flieht nach West. Und es folgt ihm die Weiße Schar. Das Meer spritzt auf, tobt in der Mitternacht. Herodes springt von Klippe zu Klippe. Auf Weißen Wolkenschiffen fahren die Kinder ihm nach. Er weiß eine verrufene Insel, wo Baalsdienerinnen wohnten, weiß auch heut dort ein verrufenes Haus. Dorthin kann kein heilig Kind ihm folgen. Aber die Baalsdienerinnen schließen schaudernd vor Herodes die Tür. Er flieht weiter hinaus aufs hohe Meer, er klammert sich an den Mast eines Piratenschiffes. Das schüttelt ihn ab. Er steigt ans feste Land, flieht in dunkeln Wald, wo ein Räuber haust. Kinder fürchten sich vor dunkeln Wäldern und Räubern. Aber sie folgen ihm, und der Räuber segnet die Kinder und treibt ihren Mörder davon. So wankt er nach dem Schindanger, wo die Gehängten liegen. Aber die stehen auf und schwingen ihre Stricke wie Geißeln und jagen ihn fort. Und mit seinen hohlen und marklosen Knochen wankt das Gerippe weiter und kommt an eine christliche Kirche. Es ist nordisches Land, weitum Eis und Schnee. Aber da Herodes den Kopf an die Mauersteine der Kirche drückt, glühen sie wie Feuer. Da richtet er sich empor, sein Mund, in dem noch drei gelbe Zähne sind, verzieht sich zum Grinsen, und grinsend geht er entlang im nämlichen Dorf.

Vor einem unordentlichen kleinen Hause bleibt er stehen. Höhnisch hebt er den Arm und zeigt auf das Haus und sagt zu den Kindern:

»Schaut hinein auf das Weib, das hier wohnt! Über ihrem Bette hängt ein Bild der Jungfrau und das Kreuz des – des – andern. Und doch ist sie so schlecht wie ich!«

Der Kinderfuß stockt. Da öffnet sich die Tür des kleinen Hauses. Ein neues, weißes Seelchen, das Seelchen eines eben gestorbenen Kindes, kommt heraus und stellt sich zu den andern in die Reihe.

Drinnen aber beugt sich ein altes Weib, eine Engelmacherin, über eine Kinderleiche, und sagt grinsend:

»Kalte Milch ist gut! Drei Tage nichts als kalte Milch, das führt zum Ziele.«

Dann nimmt das Scheusal ein Tuch um und kommt heraus. Sie geht die Dorfstraße hinunter und dann über's weiße Feld. Herodes, das Gerippe, geht ihr nach, schmiegt sich an sie, schiebt sacht den Arm unter den ihren, geht so mit ihr Arm in Arm. Und ihre Seele weist ihn nicht ab.

Die Kinder aber folgen furchtsam von ferne.


»Du–u–u! – Du–u–u!«

Die Magd schreckt empor aus ihrem schweren Traum.

Ein trübes Ollämpchen brennt nahe der Tür. Die öffnet sich sacht und ein Mann tritt ein.

»Wer? – Wer? – Wer? – Hero –«

»Was schreiste denn? Und was machst'n so lange? Du hast wohl geschlafen?«

Es ist der Bauer.

Die Magd weiß nichts zu sagen.

»Zeig' die Milch her, – die Abendmilch von der Roten! D' hast se doch extra gegossen?« herrscht er sie an.

Die Magd weist auf einen Eimer.

»Was? – Nich mehr? So a Tröppel? Von eener Neumelke? Ich hab's ja bald gewußt, se taugt nischt! – Sie hat mich angeschmiert, die verfluchte Bande – – So a Tröppel Milch! Na, mach' wir's kurz, 's Fleisch is jetzt teuer, ich verkauf' se zum Schlachten!«

Die großen Augen der Kuh leuchteten aus dem Dunkel. Die Magd macht eine müde Gebärde. Sie weiß ja, da ist kein Widerspruch möglich.

»'n Nutzkuh kauf ich dafür, 'n Nutzkuh vom Lindnerbauer.«

Der Bauer geht ein paarmal im Stalle auf und ab. Er flucht und schimpft auf die schlechte Zeit. Und plötzlich bleibt er vor der Magd stehen und sagt brutal:

»Zum Pankerottwerden is es. Und in solcher Zeit da kann a Pauersohn nich a Mädel nehmen, die kaum a Hemde auf'm Leibe hat, da muß a sehn wie a zu was kommt. Der Berthold heiratet die Lindner Emma, und du – du ziehst zu Ostern ab!«

Sie zuckt nicht einmal zusammen; sie steht nur ganz müde und gebrochen vor ihm.

»Und – und – das Kindel?« lallt sie. »Unser Kindel.«

Der Bauer wendet sich zur Seite.

»Für den Balg – ich meine, für das Kind, werd' ich alle Wochen einen Taler zahlen, solange wie's lebt.«

Er wartet auf eine Antwort, aber er bekommt keine.

»Das hat man davon!« sagt er und zuckt die Achsel. Langsam wendet er sich nach der Tür und dreht sich dort noch einmal um.

»Also, meine Meinung weißte! Da wird nich dran gerüttelt! Willste nu zu Ostern abziehen?«

Sie steht ganz regungslos da, dann nickt sie wie geistesabwesend mit dem Kopfe.


»Du–u–u!«

Es klingt nur noch leise ... gebrochen ...

Das schöne rote Tier läßt tief den Kopf hängen.

Furchtsam, scheu sieht das Mädchen nach der Kuh.

Hat sie's – hat sie's verstanden?

Das Lämpchen flackert, und es gleiten schwarze Schatten an den Wänden hin und her.

»Rutschecke, – sie – sie brauchen – Nutzkühe!«

Das Tier atmet laut.

Die Schatten schleichen hin und her zwischen der stummen Qual der beiden.

Da kommt jemand auf die äußere Stalltür zu.

Eines – oder zwei? Es ist nicht zu unterscheiden.

Und nun wird die Stalltür geöffnet.

Was ist das draußen? Der ganze Hof ist weiß, ist flimmernd weiß.

Und nun schaut ein böses Gesicht um die Kante der Tür.

Eines oder zwei?

»Wer – wer ist das?«

»Schrei nicht! – ich bin's!«

Es kommt auf die Magd. zu.

Sie hört Worte, – hört eine entsetzliche Botschaft – hört, daß sie sich freuen soll darüber – hört ein furchtbares Prahlen der Engelmacherin.

Der Mund öffnet sich ihr krampfhaft, sie würgt um Luft.

»Tot?«

Heiser, erstickt, kaum verständlich, fragt sie es.

Sie sieht, daß das alte Weib nickt, hört, wie sie sagt, es sei doch das beste für sie, der Bauer würde auch zufrieden sein –

Und stößt einen gurgelnden Schrei aus und reißt aus einem Schaff die schwere Holzkeule, mit der die Rüben zerstampft werden – und schlägt die Alte tot.

Schlägt auf sie immerfort ein und reißt die Augen weit auf, bekommt ganz weite, helle, funkelnde Augen.

Und tut eine irre Frage:

»O, du bist auch da – du auch – du auch – Herodes – du auch –«

Schlägt zur Rechten und Linken der Alten und hört nicht auf, bis kreischende Leute herbeilaufen.

Da stützt sie sich auf die Keule und sagt:

»Ich habe den Herodes totgeschlagen – der hat die unschuldigen Kinder ermordet – und ich hab' das Weib totgeschlagen – das hat mein Kind ermordet.«

Sie schreien alle, – sie wollen nach ihr greifen, – sie sind alle zu feig und weichen zurück.

»Sie ist verrückt geworden,« zischeln sie.

Sie hebt das fiebernde Auge und schaut hinaus in den Hof.

Mit der Hand zeigt sie hinaus und sagt mit plötzlich ganz heller Stimme:

»Seht Ihr sie? – Seht Ihr sie stehen? – Seht Ihr, wie weiß der Hof ist? –Das sind sie – das sind die schönen, weißen Kinder von Bethlehem! – Und dort – dort – dort – o mein Gott, mein Gott! – dort steht mein Junge – mein kleiner, lieber Junge mitten unter ihnen!«

Sie breitet die Arme aus und geht mit Tränen der Freude hinaus in den weißen Hof.

Niemand wagt sie zu hindern.

So schreitet sie hinaus aufs Feld.

Sie bückt sich oft zärtlich zur Seite.

Sie glaubt, an ihrer rechten Hand ihren kleinen Sohn zu führen.

Und sie hört selig lächelnd, was die Weißen Kinder singen, und sie hört, wie ihr eigenes Kindlein mitsingt:

Nun wehet, ihr weihen Schleier,
Nun blühe, du lichter Kranz,
Nach Gottes ewigen Wiesen
Zieh'n wir zum Reigentanz.
Früh ist das Werk vollbracht,
Kurz war die Erdennacht,
Herodes, der uns verdorben,
Hat Fried' uns und Heil erworben:
Alleluja!


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