Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Neunzehntes Kapitel.

Herbst. – Wie der alte Krügel »Ja« sagte. – Ausgang und Ausklang.

Herbst. Der Wald ist alt geworden. Sein Haar vergilbt. Es fällt aus. Oft stöhnt er, als ob er das Reißen habe; meist sitzt er gedrückt und still wie ein greiser Mann. Abends und morgens, wenn es kälter wird, hüllt er sich fröstelnd in filzig dicke Nebeldecken ein. Nur in wärmeren Stunden kokettiert er noch ein bißchen mit dem Leben.

Oft aber ist der Alte auch von großer, schöner Klarheit und tiefer Milde. Leidenschaftslos ... ungehetzt ... ungeängstigt vom Leben und ... vom Tode. Einer, der alles erlebt hat und nun zwar das Leben nicht verachtet, aber sich doch mit seinem Ende in lächelnder Ruhe abfindet. Ohne Toben und ohne häßliches Gestöhne.

Es war schön. Es ist aus. Gut. Ich bescheide mich. So altert ein Weiser. So altert der Wald.

Die Singvögel sind fortgezogen wie Millionen bunter Zwitscherfreuden, die von einem Alternden abrücken. Glückliche Reise! Ihr werdet euch an einen anderen hängen und dann auch wieder abrücken.

Um Allerseelen wird der Wald sterben.

Und zu Ostern wird er wieder auferstehen. Weil ihm diese Gewißheit innewohnt, ihm im Mark und in allen Adern sitzt, darum ist er so ruhig.


Herbst. In der großen Stadt habe ich nie das Herbsten in der Natur empfunden. Aber hier, als sich die Schwalben zur Abreise sammelten, konnte ich mich eines Bangigkeitsgefühls nicht erwehren. Ich habe zu den Schwalben ein viel weniger persönliches Verhältnis als zu anderen Tieren. Sie sind mir zu scheu, zu menschenflüchtig. Aber als die stahlblaue Zeile fortzog, wußte ich: sie hinterlassen uns der Finsternis, der Einsamkeit.

Alte Reiselust regte sich. Ich könnte mir ein Billett kaufen und auch nach Ägypten fahren. Brauchte allerdings zwanzigmal soviel Zeit, hätte tausendmal soviel Beschwernisse als die Schwalben, aber käme doch auch ins sonnige Land der Pyramiden.

Ich merkte bald, daß die Sehnsucht nach der Ferne auf schwachen Füßen stand. Es hat mir einmal ein Universitätsprofessor von New-York, ein Chirurg, mit dem ich von Karlsbad nach Nürnberg fuhr, gesagt: »Schöneres als deutschen Wald gibt es nicht.« – »Und was sagen Sie zu Italien?« fragte ich. – »Ach,« meinte er, »Italien ist ein Glatzkopf, mit einer Weinranke Ich will bei dem Wald bleiben, lieber noch beim im Todesschlafe ruhenden deutschen Wald als draußen fremd sein.

Für niemand ist es so ein Herzjubel, einmal auf Wochen in der Fremde zu sein, wie für den Deutschen; für keinen stellt sich nach einiger Zeit so sicher das Heimweh ein wie für den Deutschen.


Mir gruselte doch vor dem Winter. Wie sollte ich ihn überstehen? Ich war zu untätig. Meine Bücher konnten mich nicht retten; dazu waren meine Studien nicht ernst genug. Ich würde mich in Einsamkeit verlieren.

Da traf ich Erika Isenloh auf einem Waldweg.

Wir blieben voreinander stehen – der Herbstwind wirbelte rotes Laub um uns.

Warum errötete sie? Ahnte sie, was ich ihr sagen wollte?

Ich sagte es bald. Ganz gerade heraus. Ich weiß nicht, ob je ein Heiratsantrag simpler gemacht wurde.

»Erika, ich bitte, daß Sie meine Frau werden!«

Sie sagte zunächst gar nichts; sie ging minutenlang schweigend neben mir her ... dann fragte sie:

»Warum?«

Darauf sagte ich in aller Wahrheit:

»Ich habe Sie von Herzen lieb.«

Sie griff einmal mit bebender Hand nach meiner, ließ sie aber bald wieder los.

Als wir weiter wanderten, meinte sie:

»Aber ich bin bloß eine kleine Lehrerin vom Lande.«

»Erika, Sie sollen ja eine große Lehrerin vom Lande werden!«

Darauf sagte ich ihr von meinem Plan, das Gut zu kaufen. Es käme alles nur auf Balthassar an, der seit des alten Lohmann Anwesenheit und seitdem dieser nach einem furchtbaren Zank mit Balthassar samt dem verletzten Sohne abgereist sei, menschenscheu und unzugänglich sei. Wenn es gelänge, Balthassar zu gewinnen ... als Verwalter ... als Berater ... als Freund – dann wollten wir es versuchen. Waren ja beide Neulinge auf dem Lande ... aber wie es andere gelernt hatten, würden auch wir es lernen, und dann sollte dem Walddorf eine gute Gutsherrschaft werden, dann würde Erika für all ihre menschenfreundlichen Pläne eine Erfüllung, für ihr gutes Herz tausend Möglichkeiten finden.

An einer Waldeiche reichte sie mir ihre Hand und ihren jungen, keuschen Mund.

Es war keine wilde, flackernde, glührote Liebe – es war Liebe, die dauern wird: Sichgernhaben, Sichverstehen, Zueinanderpassen, Miteinandergehen!

Mit milden Augen segnete uns der herbstliche Wald.


Viel schwieriger war es mit Balthassar. Er sagte zu allen meinen Vorstellungen und Redereien klipp und klar: »Nein!« Seit seinen Erfahrungen mit dem jungen und dem alten Lohmann war er erbost, menschenfeindlich, schwer mißtrauisch geworden. Der Hochzeit der Emilie mit Timm, die schon vier Wochen nach unserer Zusammenkunft in der Klemmschen Konditorei stattfand, war Balthasar durch eine »Dienstreise« ausgewichen.

Seit der Zeit war er unsichtbar.

Ich verstand ihn nicht. Es war doch ganz gleich, welche von den beiden Traubentöchtern er nahm. Oder hatte er sich in den goldenen Backenzahn verliebt und trauerte er dem nach Berlin entschwundenen Mielchen nach? Das Malchen heulte sowieso Tag und Nacht aus Sehnsucht nach der Zwillingsschwester.

Nein, es war vieles andere, was den braven Gesellen quälte. Am meisten wohl mein Plan, das Gut zu kaufen. Der bereitete Balthassar die schwersten seelischen Kämpfe. Auf der einen Seite hielt er mich als Gutsbesitzer sicher für eine irrsinnige Unmöglichkeit, auf der anderen Seite hätte er das Gut, das nun doch in fremde Hände kam, niemandem so gern gegönnt wie mir. Helf sich einer heraus aus solchem Wirrwarr!

»Herr Hubertus,« sagte er eines Tages, »es geht nicht. Ich glaube, daß ich mir ein bißchen Freundschaft von Ihnen verdient habe, und da kann ich Sie nicht reinfallen lassen. Sie wissen, daß Sie das Gut nicht allein bewirtschaften können, daß Sie da Ihr Geld verlieren würden.«

»Lieber Freund, das weiß ich.«

»Ja, und sehen Sie, Herr Hubertus, wenn Sie in ihrer Villa sitzen bleiben könnten bei Ihren Büchern und Ihrem schönen Bechsteinflügel und Ihrer Mathilde und Ihrer Sturz und Ihren Hunden und Ihrer jungen Frau, und ich könnte der Gutsverwalter sein und Ihnen die Überschüsse rüber bringen – verdammt, ich würde mich schinden, daß sie nicht zu klein wären – also, da ginge es! Ich würde mich schon bescheiden, würde mir schon sagen: Balthassar, jetzt ist Herr Hubertus nicht mehr dein Freund, mit dem du Skat spielst, dem du gelegentlich mal deine deutliche Meinung sagst, den du als Amtsvorsteher zu bevatern hast, nein, er ist dein Brotherr, und du hast dich danach zu benehmen; ebenso hast du absolut zu vergessen, daß du mal Schulinspektor deiner jungen gnädigen Frau gewesen bist und dir über ihre Leistungen als Lehrerin in dein Notizbuch Quatsch notiert hast; also, in den richtigen Ton würde ich mich schon sofort hineinfinden –«

Hier unterbrach ich ihn.

»Der richtige Ton, lieber Balthassar, gegen mich und meine zukünftige Frau ist lediglich der, den ein aufrichtiger und wertgeschätzter Freund anschlägt.«

Er blickte zur Seite.

»Schön! – Schon sehr schön, Herr Hubertus. Aber es geht nicht. Nämlich – das Malchen will heiraten. Seit der Affäre mit dem Mielchen will sie nicht mehr warten. Und ich bin ja eigentlich schon seit zehn Jahren heimlich mit ihr verlobt. Na, daß ich zwischen den Zwillingen geschwankt hätte, werden Sie hoffentlich nicht vermuten, Herr Hubertus. Denn sehen Sie mal, wenn man die Wahl hat zwischen zwei Frauen, von denen die eine zweiunddreißig eigene Zähne und die andere nur einunddreißig und einen künstlichen goldenen hat, dann nimmt man doch die erstere.

»Sicher!«

Er lächelte.

»Ich bin immer fürs Vollzählige gewesen. Die anderen Defekte der Emilie will ich nicht anführen; denn das Malchen hat mir gebeichtet, daß sie auch gerodelt hat. Jetzt – um ernst zu sein, die ›Traube‹ können wir nicht fallen lassen. Es ist Vaters Erbgut. Und man will doch auch mal selbständig sein. Und dann, der Herr Timm, der hat nur wenig Geld herausgezogen; ich kann mit dem, was ich selber habe, das Nachbargut dazu kaufen, eine schöne Wirtschaft bilden. Um die Ausschänkerei in der Kneipe werde ich mich allerdings mein Leben lang nicht kümmern; das überlasse ich angestellten Leuten und die Beaufsichtigung der Frau. Ja, Herr Hubertus, Sie werden es ja schrecklich selbstsüchtig von mir finden, daß ich mich selbständig machen will, und ich hab' wochenlang mit mir in Strabelkatze gelegen, ob ich nu lieber heiraten oder bei Ihnen Inspektor sein soll; aber schließlich, ich bin halt doch dem Malchen gut, und wenn man siebenundvierzig ist, ist es ja zum Heiraten nicht zu früh. Nehmen Sie es mir übel?«

»Nein, Balthassar! Ich werde nun das Gut natürlich nicht kaufen.«

Er ließ den Kopf hängen.

»Nein, Herr Hubertus, das können Sie auch nicht. Ohne mich würden Sie pleite!«


Gestern ist Emil Bünisch abgeurteilt worden. Zwei Jahre Gefängnis. Mildernde Umstände. Ich glaube, es ist ein Mindestmaß von Strafe, das er bekommen konnte. Ich war den Richtern dankbar für den menschlichen Spruch. Der Kerl, der dem jungen Lohmann den Arm zerschlagen hat, hat anderthalb Jahre bekommen. Ich fand das nicht zu hoch. Schließlich hat der eine das Land um eine Brettschneide, der andere um einen begabten, wenn auch leichtsinnigen Künstler gebracht.

Die Elisabeth Ranke ist in der Stadt. Sie wartet. Wartet auf die Erlösung aus Schande und Leid, wartet auf den Liebsten. Ich habe sie beide besucht: den Emil im Gefängnis und die Elisabeth. Emil hat mir eine Vollmacht ausgestellt, sein väterliches Erbe zu verkaufen.

»In die Heimat komm ich nicht mehr,« sagte er. »Ich kann mich nicht von jedem Schubiack schief ansehen lassen. Aber ich werde mich in einem anderen schlesischen Dorfe neu ankaufen. In einem, wo es auch viel Wald gibt.«

»Denken Sie nur immer an den Wald, lieber Emil. Zwei Jahre sind keine Ewigkeit. Im grünen Wald werden Sie wieder froh werden, werden Sie immer wieder zu Hause sein. Der Wald ist überall gleich.«

Die Elisabeth Ranke fand ich recht zuversichtlichen Gemütes.

»Ich denke,« sagte sie, »Emil wird gut zu mir sein. Wir haben einander verziehen, und es ist bloß dafür zu sorgen, daß wir uns nie wieder etwas zu verzeihen haben.«

Ich staunte, wie das Mädel das so sagte, wie klar sie ihre Lage erkannte und wie sie mit wenigen Worten ihre fernere Lebensaufgabe kennzeichnete.

Balthassar und ich wollen nach einiger Zeit ein Gnadengesuch für Emil Bönisch an den König richten.


Erst heute kam der alte Krügel heim. Es macht viel Umstände und dauert lange, ehe ein Unschuldiger durch ein Wiederaufnahmeverfahren in Freiheit gesetzt wird.

Balthassar hat bei dieser Haftentlassung Krügels eine doppelte Rolle gespielt. Erstens hat er selber als Angeklagter vor Gericht erscheinen müssen; denn er hat den Beamten, der sich seinerzeit um die Beweisführung für Krügels Schuld am meisten »verdient« gemacht hatte, öffentlich einen »Idioten« genannt und hat diese Injurie mit Abbitte und 200 Mark Geldbuße sühnen müssen. In seiner Verteidigungsrede hat er angeführt, er habe den Beamten nicht kränken, sondern nur kritisieren wollen; alle hätten in dieser Sache fehlgeschossen; seine eigenen und Herrn Hubertus' Detektivkünste seien auch idiotisch gewesen. So opferte er sich und mich auf dem Rachealtar der Justiz, was ihn aber nicht vor der Verurteilung schützte; denn der beleidigte Beamte war ein humorloser Mensch und nahm die Klage nicht zurück.

Die zweite Rolle, die Balthassar bei der Haftentlassung Krügels spielte, war wesentlich schöner und erhebender. Er hat den alten Krügel in einer zweispännigen Kutsche selber aus dem Zuchthaus abgeholt und hat vorher einen Anschlag ans Spritzenhaus gemacht:

Achtung!

Unser Gemeindegenosse Joseph Krügel ist unschuldig verurteilt und fast zugrunde gerichtet worden. Er hat furchtbare Zeit verlebt. Unsere Gemeinde wird ihn bei seiner Heimkehr festlich empfangen. Ehre, wem Ehre gebührt, und wem gebührt mehr Ehre als denen, die unschuldig gelitten haben? Zu einer festlichen Gemeindeversammlung am nächsten Sonnabend, abends 7 Uhr, in der ›Traube‹ ladet ein

der Amtsvorsteher.

Die Haustür der »Traube« war bekränzt. Im »Saal« stand ein bekränzter Stuhl. Bierfässer waren bereitgestellt. Die ganze Gemeinde war versammelt. Ein Wagen fuhr vor. Balthassar trat mit dem alten Krügel in den Saal. Der hatte sich erst mit Händen und Füßen gegen die ihm zugedachte Ehrung gesträubt. Da hatte ihm Balthassar zugeredet und, als das gar nichts nützte, ihn mächtig angeschnauzt, Krügel hätte sich zu fügen und keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu machen, wenn diese ihn ehren wolle, und so war Krügels verängstigte Seele in sich zusammengekrochen, und er ließ nun alle Ehren- und alle Freundlichkeitsbezeigungen willenlos über sich ergehen.

»Bloß nicht mehr einsperren!« sagte er immer wieder. So wie einst auf der Anklagebank, so saß er nun auf dem bekränzten Ehrenstuhl – wie ein Häuflein Jämmerlichkeit, guckte scheu um sich und schämte sich offenbar halb zu Tode.

Balthassar hielt eine Rede:

»Da heißen wir immer ein friedliches Waldtal. Hat sich was! Zugegangen ist es in diesem Jahre bei uns, meine Damen und Herren – ich will nichts sagen als: zugegangen! In diesem Wort liegt alles: Mord, Selbstmord, Brand, Hagelschlag und Überfall nebst schwerer Körperverletzung. Bei den Indianern kann es nicht wilder zugehen. Aber woher kommt das? Es kommt von den menschlichen Leidenschaften, die immer mehr überhand nehmen, es kommt von der zunehmenden Respektlosigkeit gegen die Obrigkeit und kommt daher, daß alte Vätersitte nicht mehr hoch genug geachtet wird.«

»Amen!« rief einer der anwesenden Sozi dazwischen, um Balthassar zu verhöhnen, weil er ein wenig in den Predigerton gefallen war. Der war nun aus dem Predigerton sofort wieder heraus und mitten in einer saugroben Tonart darin. Es wurde Tumult, und der alte Krügel, der durch diese Vorgänge geehrt werden sollte, machte immer ängstlichere Augen. Balthassars Stimme bekam Obergewicht. Er fuhr fort in seiner Rede:

»Aufregen wollen wir uns nicht. Ich möchte bloß konstatieren, daß, wie sich so ein Bierfaß, wie es dahier vor mir steht, vermittelst der Reifen hält, sich die Sozialdemokratie vermittelst der Unreifen hält.« Nun gab es wieder neuen Lärm, und Krügel, der Ehrengast, begann leise zu flennen. Ich fürchtete schon, Balthassar würde ob seines Wortwitzes, der gar nicht mal von ihm selber stammte, tätlich angegriffen werden.

Aber nach einigem Rummel wurde es ruhig. Balthassar fuhr in würdigem Ernste fort:

»Meine Damen und Herren! Sie wissen, wer die Bianka war und welch grausamen Tod sie gefunden hat. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu richten. Sie ruhe in Frieden! Und Sie wissen, wer der alte Brettschneider war und wie er gestorben ist. Auch er ruhe in Frieden!«

Da nickte der alte Krügel mit dem Kopfe und sagte laut: »Ja!« Die ganze Gemeinde erschrak; auch durch Balthassars Körper ging ein Schüttern, als der Krügel »Ja« sagte. Mit weicher Stimme fuhr Balthassar fort:

»Und so wollen wir ganz in unserem Herzen Frieden machen und auch den Emil Bönisch, die Elisabeth Ranke und den Maler Werner Lohmann in Frieden ziehen lassen. Sie werden wohl nie in unser Waldtal zurückkehren; sie haben hier gefehlt, sie haben hier gelitten, sie haben davongehen müssen aus unserem schönen Walde, und es ziemt sich nicht, daß wir anderen hinter ihnen herschimpfen, sondern wir wollen an das denken, was Gutes an ihnen war und daß sie einmal unsere Gemeindegenossen waren, die viele Freunde bei uns hatten.

»Heute nun haben wir einen unter uns, dem schweres Unrecht angetan worden ist. ›Des Menschen Wissen ist Stückwerk‹ steht in der Bibel –

(Hier machte Balthassar eine lauernde Pause, ob wohl wieder einer »Amen!« rufen würde; aber es rührte sich niemand.) »Also Stückwerk! Und wenn es ans Richten und ans Abmessen von Schuld geht, sind die Menschen Stümper. Wir haben uns alle getäuscht, nicht nur die Herren vom Gericht, auch ich und Herr Hubertus und Fräulein Isenloh und ihr alle. Keiner hat klar gesehen; alle waren wir auf falschen Fährten. Aber das habe ich gewußt, und das haben die meisten von euch gewußt: unser alter braver Krügel, der konnte kein Verbrecher sein, der war unschuldig.«

Krügel brach in lautes Schluchzen aus.

»Na, lieber Vater Krügel, nu flennt nicht; nun ist ja alles rausgekommen und alles gut geworden; nun werden wir alle dafür sorgen helfen, daß Ihr in Eurem lieben Walde einen friedlichen Lebensabend habt. Flennt nicht so sehr, Vater Krügel, Ihr bringt mich sonst aus dem Text. Seht Ihr, die ganze Gemeinde ist Euch zu Ehren da, alle haben die Sonntagsjacke an, obwohl heute erst Sonnabend ist. Das ist alles Euch zu Ehren. Und wir werden alle zu Euch halten, und Ihr sollt es gut haben.

»Meine lieben Gemeindemitglieder! Der Wald ist ein strenger Richter; die Schuldigen scheidet er aus, sie müssen in die Fremde oder gar ins Grab; die Unschuldigen beschützt er und ruft sie zu sich zurück. Vater Krügel war immer ein schlichter armer Mann, er hat wenig Ehrung genossen im Leben. Heute, wo wir ihn wieder bei uns haben, wollen wir ihm unsere Achtung ausdrücken, indem wir uns vor seinen unschuldig erlittenen Leiden von den Plätzen erheben.«

Die ganze Gemeinde stand auf. Nur der alte Krügel saß ganz zusammengebrochen auf seinem Stuhl.

Krügel ist in mein Haus gezogen. Ich habe ihm ein bequemes Stübchen einrichten lassen. Meine alte Mathilde betreut ihn. Er geht wie im Traume umher und steht oft blinzelnd in der Sonne. Ein so wüstes Leben mit der alten Waldhexe, und dann das Zuchthaus – und nun solch ein Friede! Er kommt über das Wunder nicht hinweg.

Selbst die Sturz respektiert den alten Krügel und benimmt sich selten unpassend gegen ihn. Denn auch sie ist bei der Versammlung in der »Traube« gewesen, hat Herrn Balthassars Rede gehört und sich mit »von ihren Plätzen erhoben«. Daß die Sturz ein wenig mißgünstig ist, liegt in ihrer Art. Sie hat sich beklagt, ihr seliger Sturz sei auch einmal unschuldig eingesperrt gewesen (acht Tage wegen einer Prügelei!). Da hätte sich aber damals kein Mensch darum gekümmert; es gehe eben alles nach Gunst in der Welt.

Mir hat der alte Krügel gesagt, er wolle gern alle Arbeit tun; nur, er möge keinen Baum mehr fällen. Das könnte er nicht mehr; da würde er das Zittern in die Arme kriegen. Ich verstand das; der Waldsohn hatte sich im Zuchthaus so bitterlich nach dem Walde gesehnt, daß er ihm nun mit der Axt nicht mehr wehe tun konnte.


Es ist etwas nachzutragen über die Geldschatulle, die Emil Bönisch nach dem Brande in die Hexenschlucht geschleudert hat. An die achttausend Taler Werte hat der Kasten enthalten, in der Hauptsache Pfandbriefe. Wir mußten den Schatz natürlich suchen, mußten ihn für Emil und Elisabeth erhalten. Mit Balthassar bin ich in die Hexenschlucht hinabgekrochen. Die Schlucht ist schmal und tief und hat steile Wände. Wir mußten uns langer Seile bedienen, um hinabzukommen. Von früheren Kaminklettereien in den Alpen her hatte ich einige Übung und Erfahrung.

Wir fanden nichts, und schon wollten wir uns an den Aufstieg begeben, da sagte der noch immer umherspähende Balthassar:

»Da – es ist jemand vor uns dagewesen, hat den Kasten geholt und war so freundlich, eine Visitkarte zurückzulassen –«

Zwischen Gestrüpp und Gestein zog er ein schmutziges Kartenblatt hervor: Treff-Sieben!

»Die alte Klügeln?«

»Ja! Das Scheusal muß Lunte gerochen haben von dem Reichtum, der hier lag. Wer hat es ihr aber gesagt? Ein Mensch sicherlich nicht. Niemand wußte darum, außer Emil Bönisch und uns beiden. Also woher wußte sie es? Aus den Karten? Wissen Sie, manchmal überläuft mich's kalt wie vor etwas Dämonischem.«

»Sie kann für ihre Quacksalbereien hier nach irgendwelchen Kräutern gesucht und den Kasten zufällig entdeckt haben. Daß sie ihn dann stahl, war selbstverständlich.«

»Ja, aber wie kommt das alte Gestell hier herunter? Wir haben doch die allergrößte Mühe gehabt.«

»Sie wird weniger Mühe gehabt haben als wir. Sie ist im Wald zu Hause von Jugend an.«

»Das elende Gespenst! Ich glaube, wir finden sie niemals mehr wieder. Und wenn wir sie finden, werden wir ihr nichts beweisen können.«

»Lassen wir sie laufen. Wohin läuft sie? Mit schlechtem Gewissen auf das nahe Grab zu. Das ist kein Weg, um den man jemand beneidet, selbst wenn er eine gefüllte Geldschatulle unter dem Arme trägt. Emil Bönisch löst aus dem Verkauf der fast schuldenfreien väterlichen Besitzung noch genug, um sich ein sorgenfreies Leben zu schaffen.«

Wir klommen unter großen Beschwernissen die Hexenschlucht wieder hinauf. Wer weiß wie lange und warum dieses Loch die Hexenküche hieß! Nun war doch einmal eine wirkliche Hexe dagewesen. Aber die war jetzt auf und davon.


Gestern abend um 10 Uhr kam Balthassar zu mir. Er war in einer Hast und Aufregung, wie ich sie in solchem Grade bei ihm nie wahrgenommen hatte.

Japsend sank er in einen Sessel.

»Also – also – also – Herr Hubertus, Sie können das Gut kaufen.«

»Wieso?«

»Wieso? – Weil Sie den besten, den ehrlichsten, den großartigsten Inspektor bekommen können, den es in Europa gibt.«

»Na, der sind doch Sie!«

Er sah mich böse an.

»Keine Injurien bitte – und keine ungehörigen Witze in so einer ernsten Sache. Es handelt sich natürlich nicht um mich; es handelt sich um einen Gutsverwalter, dem ich nicht mal das kalte Wasser reichen kann.«

»Oha!«

»Nichts – oha! Mein Mann ist ein anerkanntes Verwaltungsgenie. Er hat kolossale Erfolge aufzuweisen – Rechnungsabschlüsse, über die ich schamrot werde. Dabei alles goldehrlich. Kein Schieber oder Wucherer oder Macher! Einfach ein Organisator und genialer Arbeiter! In jetziger Stelle elf Jahre. Das verlodderte Gut zu glänzender Blüte gebracht. Warum er nun geht? Der Sohn seines Herrn ist schuld! Wie bei mir! In seinem Fall ein Oberleutnant, der etwas hastig den bunten Rock ausziehen mußte und fand, daß er nichts Besseres tun könne, als nun die Verwaltung seines väterlichen Gutes zu übernehmen. Ja, in solchem Falle geht ein anständiger Kerl; er mag doch nicht zusehen, wie sein durch jahrzehntlangen treuen Fleiß geschaffenes Werk in Grund und Boden ruiniert wird. Geht mir ja auch so. Ich hab' ja immerfort einen sauren Geschmack im Maul und ein Kratzen in der Kehle, weil ich daran denke, was nun aus meinem lieben Gut wird, wenn es in falsche Hände kommt. Ich kam mir oft so miserabel vor wie ein Deserteur. Aber Ihnen zureden, Herr Hubertus, das konnte ich nicht. Hab' mir's hin- und hergekugelt. Hab' gedacht: er kriegt ja wohl einen tüchtigen Inspektor, und wenn er mich als Freund und Nachbar gelten läßt, da halte ich schon die Augen für ihn mit offen. Aber es war' was Halbes. Ich muß mich doch – da ich ja nicht reich bin – ums Eigene kümmern, und da könnte bei Ihnen zuviel kaput gehen. Da riet ich ab. Aber jetzt – da rat ich Ihnen tausendmal zu. Wenn Sie jetzt zugreifen, da werden Sie einfach ein völlig gemachter Mann.«

»Das muß ja nicht bloß eine Perle, das muß ja ein Kronjuwel sein, von dem Sie sprechen!«

Es flog ein Schatten um Balthassars Stirn, und er wurde kleinlaut.

»Ja, einen Haken hat ja die Geschichte, Herr Hubertus, wie gemeinhin alle guten Dinge im Leben einen sogenannten Haken haben. Nämlich – jetzt schäme ich mich; denn eigen Lob stinkt, Freundes Lob hinkt – und der Mann, von dem ich sprach, ist nämlich mein Bruder Felix. Bitte, Herr Hubertus, reden Sie nicht – ich weiß, es ist greulich peinlich, daß Felix Balthassar nun gerade in diesem Falle mein Bruder ist. Es sieht so anschleicherisch aus. Schmeckt so nach Nepotismus, nach Sippenwirtschaft. Ich kann das in den Tod nicht ausstehen, so das Schieben von Verwandten in gute Stellen. Ich hab' mich immer gefreut, daß Felix mein Bruder ist. Aber nu wünschte ich, ich kennte den Kerl nur von weitem her. Da könnte ich ja mit einem ganz anderen Brustton der Überzeugung reden. Bitte, Herr Hubertus, noch einen Augenblick, unterbrechen Sie mich nicht! Nicht ich urteile so über meinen Bruder – die Tatsachen urteilen so – und die Urteile der Standesgenossen und Sachverständigen lauten so. Es ist wirklich wahr, daß er ein tüchtiger Kerl ist, auch wenn's mein Bruder ist. Er ist ein Jahr jünger als ich, sieht mir äußerlich ähnlich wie ein Ei dem andern, obwohl ja nicht so genau wie die Traubenschwestern. Aber obwohl er jünger ist, hat er mich weit überholt. Ich bin ein Waisenknabe gegen ihn – ein Waisenknabe. Ja, das ist nicht Freundeslob oder gar Bruderlob, das ist einfach simple Wahrheit! Fragen Sie sich rum in landwirtschaftlichen Kreisen und dann ziehen Sie mich zur Verantwortung, wenn ich auch nur eine Silbe übertrieben habe!«

Ich saß still da und sagte gar nichts. Dann ging ich an meinen Schreibtisch.

»Was schreiben Sie denn da, Herr Hubertus?« fragte Balthasar. »Machen Sie sich etwa eine Notiz über mich?«

»Fällt mir nicht ein. Ich setze nur ein Telegramm an Ihren Bruder auf. Wie ist doch seine Adresse?«


Wir saßen beim Wein.

»Eine Bedingung habe ich noch, lieber Balthassar, wenn, wie ich hoffe, der Gutskauf zustande kommt: Sie müssen dann Amtsvorsteher bleiben.«

Ich sah eine große Freude in seinen Augen aufblitzen. Aber der Blick umschattete sich rasch.

»Das ist dann Ihres Amtes, Herr Hubertus, oder, wenn Sie nicht wollen, das meines Bruders. Es muß immer die respektabelste Persönlichkeit des Bezirkes Amtsvorsteher sein.«

»Es ist Bedingung, Herr Balthassar.«

»Na, wenn ich muß, da füge ich mich,« antwortete er und trank seltsam vergnügt sein Glas aus. Es wäre ihm furchtbar schwer geworden, aus seinem Amte zu scheiden.

»Und dann noch einen Vorschlag, lieber Freund. Kaufen Sie die Brettschneide samt der verbrannten Moorhütte. Was sollen wir erst einen fremden Käufer ins Tal lassen?«

Balthassar stand auf und stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand. Er wollte mich nicht sehen lassen, was in ihm vorging. Ich ließ ihn in Ruhe nachdenken. Endlich wandte er sich um.

»Ausgeschlossen!« sagte er mit etwas verschleierter Stimme. »Denn, Herr Hubertus, die Brettschneide müssen Sie selber kaufen. Mein Bruder hierherkommen und augenblicklich sehen, daß Sie das Gelände an der Moorhütte oben zur Abrundung des Besitzes brauchen, das ist eins. Ich hab' ja selber mit dem alten Brettschneider vom Dominium aus durch ungezählte Jahre unglücklich prozessiert. Jetzt fällt das so wie selbstverständlich dem Dominium in den Schoß.«

»Nun schön! Kaufen wir den Besitz des Brettschneiders zusammen und teilen wir ihn. Das Dominium übernimmt das Moorhüttenland, das andere mit der Brettschneide selbst übernehmen Sie.«

Balthassar machte abermals Kehrt nach der Mauer und betrachtete Bilder. Dann sagte er:

»Das geht auch nicht. Sehen Sie, es ist um das Wasserrecht, das die Brettschneide nicht entbehren kann. Deshalb hat sich ja der alte Bönisch so gesträubt, die Moorhütte herzugeben. Der Mann – das muß ich ja jetzt nach seinem Tode zugeben – hat eigentlich recht gehabt. Ohne die Moorhütte ist die Brettschneide futsch. Also nehmen Sie schon alles! Sonst – es ist blamabel zuzugeben – müßte ich als Brettschneider mit dem Dominium prozessieren.«

Ich mußte lachen über den gewandelten Balthassar.

»Ja, sehen Sie, lieber Balthassar, bei den Menschen bleibt eben das ›Ich‹ immer ›Ich‹ und kommt genau wie beim Konjugieren der kleinen Jungen immer vor dem ›Du‹ und dem ›Er‹.«

Balthassar sann nach.

»Stinkiger Egoismus wollen Sie sagen, Herr Hubertus schandmäßig ist es. Aber was soll man machen?«

»Ja, was soll man machen, Balthassar? Ich will Ihnen was zum Troste sagen: Ohne die allen Geschöpfen im Selbsterhaltungstrieb eingeprägte Selbstliebe könnte die Welt nicht bestehen. Außer den Selbstmördern gibt es kein lebendes Wesen auf Erden, das sich nicht selbst liebt und schützt.«

»Geistreich!« sagte Balthassar, ohne daß ich mich darum geschmeichelt fühlte.

»Geistreich, aber trotz alledem wahr!«

Und er fuhr dann fort:

»Ja, sehen Sie – die Brettschneide! In meinen Träumen ist sie mir eingekommen. Wenn ich die ›Traube‹ habe und noch dazu das angrenzende Gut vom Gürtler und dann noch das ja auch angrenzende Besitztum von der Brettschneide hätte, ja, dann hätte ich ja selber ein kleines Rittergut. Dann wär' ja von Gastwirt – verflixt, die Gastwirte sind alle höchst achtbare Leute; aber mir liegt das nu mal nicht – also dann wär' ja von Gastwirt gar keine Rede. Dann hätte ich doch das Wirkungsfeld, das mir liegt, könnte so im Großen wirtschaften. Aber mir fehlen die Mittel.«

»Die Mittel, Balthassar, verschaffe ich Ihnen.«

Das dritte Mal kehrte sich Balthassar gegen die Mauer. Als er sich wieder umwandte, sagte er leise:

»Ich schäme mich vor Ihnen, Herr Hubertus. Aber ich warne Sie auch. Wer auf dem Lande zu gutherzig ist, den fressen die Hühner.«

»Danke schön!« sagte ich auf diese Warnung hin, aber ich blieb bei meiner Meinung.


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