Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Neuntes Kapitel.

Balthassar verzweifelt am Roten Adlerorden. – Von primitiver Tragik. – Timm blamiert sich. – Der Rauschmaler. – Ich gehe in die Naturgeschichtsstunde.

Gar zu sehr will ich mich von den Waldgeschehnissen doch nicht gefangen nehmen lassen. Der Schauplatz des Dramas hat auch gewechselt. Es sind Leute aus der Stadt gekommen, Beamte, die haben uns klar gemacht, daß wir so gut wie alles falsch angefangen, daß wir durch allerhand verkehrte Maßnahmen die Spur der Übeltäter, die sonst mit Sicherheit sofort entdeckt worden wären, verwischt hätten. Sie schimpften besonders darüber, daß wir die Leiche Biankas nicht unberührt hatten liegen lassen.

Balthassar war geknickt. Ich meinesteils erlaubte mir zu bemerken:

»Es müßte besonders ein Tadel gegen den Wettergott ausgesprochen werden. Der hat nämlich, ohne die Genehmigung der Staatsanwaltschaft abzuwarten, gegen Morgen der Mordnacht einen so furchtbaren Wolkenbruch gesandt, daß die Schneeschmelze urplötzlich eintrat und wahrscheinlich der Leichnam von einem Sturzbach weggespült worden wäre, wenn er noch dagelegen hätte.«

Der Herr Kommissar zürnte mir ob dieses Einwands, aber da ich ein unabhängiger Mann bin, lachte ich das wichtig tuende Menschlein aus. Eine neue Kommission kam, und es gab Lokaltermine und unerträglich lange Vernehmungen; heraus kam dabei gar nichts.

Balthassar, der nach meiner Ansicht seine Sache viel besser gemacht hatte als diese amtliche Kommission, war ob verschiedener Rüffel, die er bekommen hatte, tief gebeugt.

»Passen Sie auf,« sagte er, »ich bekomme den Roten Adler-Orden niemals.«

»Nu, wenn schon!« sagte ich.

Über diesen Gleichmut wunderte sich Balthassar; dann aber sagte er: »Ja, ja, wenn Sie nur selbst einen solchen in Aussicht hätten, würden Sie ganz anders reden!«

Der Anführer der Untersuchungsarmee war mit seinem Urteil bald fertig.

»Der alte Krügel hat aus Wut über die Kündigung seine Enkeltochter erschlagen. Die Frau kommt als Mitwisserin in Betracht. Beide – Mann und Frau – kommen in Untersuchungshaft. Über Emil Bönisch ist nichts festzustellen, doch scheint er hinreichend des Diebstahls verdächtig und wird steckbrieflich verfolgt werden.«

Der Ansicht, daß Emil flüchtig sei, waren Balthassar und ich neuerdings nicht mehr. Wir suchten im Walde nach der Leiche Emils. Wir fanden aber nichts. Der alte Bönisch schnitt sich den Steckbrief seines Sohnes aus der Zeitung aus und nagelte ihn über seinem Tische an die Wand. Darauf aß er nicht mehr in der Stube; er aß im Stalle.


Es wird Frühling. Das ist wichtiger für die Welt und also auch für mich als das Einzelschicksal aus der Moorhütte. Manchmal staune ich über mich und sage mir: Du bist ja in eine ganz wilde Romantik hineingeraten: Diebstahl, Brand, Mord – in ganz brutaler Art. Ja, der Wald und das Waldvolk! Das ist so unvernünftig primitiv. In der Großstadt freilich ist alles viel feiner, viel komplizierter. Fällt gar keinem ein, dem andern das Haus anzuzünden; er gründet lieber eine G. m. b. H. mit ihm, wenn er ihn ruinieren will.

In der Großstadt mordet man nicht mit der Axt; das ist viel zu gefährlich und abgeschmackt. Man vergiftet lieber einem das Leben, wenn man ihn haßt. Dann geht er von selbst. Eine Kommission schreitet dann nicht ein. Viel feiner und aparter ist das alles, nicht so plump, nicht so roh, wie es im Walde geschieht.

Die alten Epen und Volksgesänge sind brutal, da zünden die Leute an, schlagen Schädel ein; die neue Kunst weist auf unendlich zartere Art nach, wie einer den anderen zugrunde richten kann.

Die Motive freilich sind immer die gleichen: das Weib, das Geld, der Machthunger. Alles andere ist drum und dran, im günstigsten Fall Beleuchtung.

Alle Tragödien menschlicher Schuld, ob sie nun in Salons, Geschäftsräumen, Regierungssälen, Bürgerwohnungen, Dirnenheimen, Räuberhöhlen, Klubs oder Spelunken sich abspielen, sind auf dem gleichen Fundament errichtet: auf der menschlichen Selbstsucht. Die verfeinerte Ehebrecherin, der »gewiegte« Kaufmann, der Intrigant am Hofe, der Strolch, der einen Raubmord begeht, sie sündigen alle aus demselben Grunde: sie wollen, daß ihnen wohl werde.– –

Es wird Frühling. Der Star aus Spalato ist da, hat Herrn Hippel und Frau aus dem Starkasten herausgeworfen und sich mit seiner Gattin häuslich bei mir eingerichtet. Die Hunde haben eine Stunde lang den Baum angebellt, auf dem die neuen Vögel saßen, haben alberne Versuche gemacht, den Stamm hinaufzuklettern, und es dann aufgegeben. Die Köter ärgern sich, daß der Vogel oben pfeifen kann. Alle Beller kläffen die Pfeifer an. Und noch einer ärgert sich. Das ist Timm. Er hat sich blamiert, indem er die Stare für junge Krähen gehalten hat. Darüber hat sich die Sturz fast einen Herzschlag gelacht. Dieses Weibsbild hat überhaupt ein alarmierendes Lachen. Es ist ein Gemisch von Krächzen, Zischen, Spucken, Husten, Glucksen, Kollern, und begleitet von krampfartigen Erscheinungen, von Händeschlagen, Augenübergehen und Beinetrampeln.

Darüber, daß der großstädtische Timm Stare für junge Krähen hält, kann ein Menschenkind so lachen! Als ob das ein Witz wäre! Und ausgerechnet die Sturz! Sie hat ihre Eltern, ihren Mann und zehn Kinder begraben und kann so unsinnig vergnügt lachen. Was für schnurrige Gehirn- und Herzkonstruktionen fabriziert doch der liebe Herrgott.

Unten in die »Traube« ist auch neues Leben gekommen. Der junge Lohmann ist erschienen, der Maler. Er wohnt auf dem Schlosse, da das Dominium doch seinem Vater gehört; aber er sitzt meist in der »Traube«. Die Schwestern erzählten mir, daß sie immer ein Faß roten und ein Faß weißen Wein bestellen, wenn der junge Lohmann kommt. Er trinke beileibe nicht alles selber, aber er gebe allen Leuten zum Besten, und wenn sie ein bißchen beduselt seien, zeichne er sie. – Auch ein Standpunkt!

Wir lernten uns in der »Traube« kennen. Werner Lohmann lud mich gleich zum Weine ein. »Ich bin kein gutes Modell, Herr Lohmann,« sagte ich.

»Ach,« lachte er, »Sie wissen Bescheid? Bitte, sagen Sie es nicht weiter. Sie nähmen den Leuten sonst die Zutraulichkeit und den Appetit. Ja, ich mache hier meine Studien. Ich will nämlich mal ein Album herausgeben; Titel: »Der Rausch«. Alle Stadien des Rausches vom leichtesten Spitz bis zur völligen Viechigkeit. Sehr schwer – so was! Sehen Sie, das kleine Irrlicht aufzufangen, das etwa in dem Auge einer hübschen Dame nach dem zweiten Glase Sekt aufblitzt, und dann die ganze tolle Skala weiter bis zu dem Kerl, der wie ein Schwein im Rinnstein liegt, das ist doch 'ne schöne Aufgabe. Das ist psychologisch blödsinnig schwer, vom rein Technischen gar nicht zu reden. Also ich mache mein Album: »Der Rausch«. Sie werden mir vielleicht zugeben, daß die Idee originell ist.«

»Jawohl, mit solcher Bilderserie könnte sich der Teufel sein Vorzimmer tapezieren lassen.«

»Wie? Wie sagten Sie das?«

»Ich sagte: Mit solcher Bilderserie könnte sich der Teufel sein Vorzimmer tapezieren lassen.«

»Famos! Gestatten Sie, daß ich den Satz in mein Notizbuch schreibe? Ich möchte ihn im Vorwort zu meinem Album anbringen. Er ist herrlich!«

Das war Werner Lohmann. Ein sehr hübscher Mann von 28 Jahren.

Am nächsten Tage schon besuchte er mich. Ich zeigte ihm meine kleine Kunstsammlung. Er war von der überschwenglichen Begeisterung, von der nur Männer unter dreißig Jahren sein können. Dann tranken wir; denn der Maler von »Rausch« trinkt selber gern. Timm bediente uns, und da er wußte, daß es sich um den Sohn unseres Gutsherrn handelte, drehte er so feierlich diskrete Allüren heraus, wie sie nur die Kellner der ersten weltstädtischen Weinrestaurants haben. Endlich wurde Werner Lohmann auf Timm aufmerksam.

Er beäugte ihn; er fixierte ihn; er zeichnete ihn mit den Augen.

Dann rief er:

»Mensch – wie heißen Sie doch? Timm? – ja richtig, Timm! Also, Timm, ich muß Sie zeichnen. Ich bin begeistert für Ihren Kopf, Ihre Figur, Ihre Haltung! Köstlich, ganz köstlich! Sind Sie bereit, mein lieber Freund Timm, sich von mir zeichnen zu lassen?«

Timm wurde puterrot. Solche Ehre war ihm ja noch nie widerfahren. Er machte eine Verneigung, als ob er mit der Nasenspitze den Mittelpunkt des Erdballs ergründen wollte.

»Also abgemacht, Timm, ich zeichne Sie! Sie kommen zu mir aufs Schloß! Vorausgesetzt natürlich, daß es Herr Hubertus gestattet!«

O, ich gestattete es gern. Ich gönnte Timm, dem eitlen Knaben, den Reinfall, den ich ahnte, und dachte: Kugel, die du rollen willst, rolle! – – –

Am nächsten Tage kam Balthassar zu mir. Er war sichtlich schlechter Laune.

»Nun, Herr Balthassar, was gibt es Neues in unserer Mord- und Brandgeschichte?«

»Gar nichts! Wenn erst die Herren Beamten etwas ln die Hand kriegen, gibt's überhaupt nichts Neues mehr.«

»Hm! Und sonst?«

»Sonst ist leider der junge Lohmann gekommen.« »Weiß ich! Er war schon bei mir.«

»Schon? Na ja, der schmeißt sich überall 'ran.«

»Wo schmeißt er sich 'ran?«

»Na, zum Beispiel unten in der ›Traube‹ an die Zwillinge.«

»An welchen Zwilling?«

»Weiß ich's? An die oder die oder an beide. Ich sage Ihnen, Herr Hubertus, hüten Sie sich vor diesem Werner Lohmann. Er ist der Sohn meines Herrn, leider muß ich sagen – leider! Was hat der junge Mensch schon für Geld totgeschlagen – in Italien – in Griechenland – in Ägypten – in Indien – in Japan – in Kalifornien. Nun, glauben Sie, daß ein Maler, der was können soll, nötig hat, in all' diesen Ländern Unsummen von Geld zu vergeuden?«

»Durchaus nicht!«

»Also: das sage ich auch! Der Alte – mit Respekt zu sagen, mein Herr, schindet sich in seinem Bureau von morgens fünf bis abends zehn. Und der Sohn strolcht in der Welt umher und bringt ein Heidengeld durch.«

»Das ist oft die Tragik reicher Söhne.«

»Sie haben es wieder mit der Tragik. Ich sage einfach Lumperei. Etwas Tragisches finde ich daran nicht, wenn sich einer Tag ein, Tag aus amüsiert.«

»Doch, Herr Balthassar; es ist der drohende Untergang.«

»Ah bah – der Alte ist so reich; dessen Geld kann selbst dieser Sohn nicht klein kriegen.«

»Es ist nicht das Geld, von dem ich rede.«

»Sondern?«

»Sondern sein Ernst ist in Gefahr und damit seine Kunst und vielleicht sein Leben. Doch er ist noch jung; er tobt noch; er findet sich wohl noch zurecht; ich wünsche ihm das Beste.«

Balthassar brummte.

»Also, wenn er von den Zwillingen nicht abläßt, da geschieht etwas, da vergesse ich mich. Er ist ein toller Weiberjäger. Ist es nicht traurig – kaum ist der eine Giftpilz weg, die Bianka, so schießt ein neuer und noch viel schlimmerer in die Höhe.«

»Ja, so geht es zu im Walde. Aber Sie können doch ganz ruhig sein, Herr Balthassar; Sie wissen doch, wie brav und solide die Mädchen in der ›Traube‹ sind.

»Beide nicht! Nur die eine! Die andere hat gerodelt!«– –

»Alle Vögel sind schon da,
Alle Vögel, alle.
Amsel, Drossel, Fink und Star
Und die ganze Vogelschar
Wünschen dir ein frohes Jahr,
Lauter Heil und Segen.«

Jubelnde Kinderstimmen drangen durchs offene Fenster.

»Das ist Fräulein Isenloh mit ihrer Klasse,« sagte Balthassar. »Sie hält ihre Naturgeschichtsstunde im Freien. Sie hat mich, da ich doch Lokalschulinspektor bin, erst angefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie mit den Kindern in den Naturgeschichtsstunden in den Wald oder auf die Wiese ginge. In den Wald, habe ich gesagt, ja; auf die Wiese: nein; denn da würde zuviel zertrampelt, und da verträgt sich die Pädagogik mit der Landwirtschaft nicht. Da zieht sie nun los. Singen hübsch, die Kinder, nicht wahr? Hab' immer auf hübschen Gesang in meiner Schule gehalten. Wollen wir mal hin und bissel zuhören?«

»Dem Gesang?«

»Nein, den Gesang hören wir ja hier. Aber zuhören, wenn sie unterrichtet! Immerfort singen darf sie nämlich in der Naturgeschichtsstunde nicht lassen; das wäre unpädagogisch. Bloß auf dem Hin- und Herweg wird gesungen. Draußen wird unterrichtet, werden alle Naturobjekte an Ort und Stelle gezeigt, wird alles nach seinen Lebensbedingungen und wechselseitigen Beziehungen erläutert, alles – wissen Sie – so aufs Biologische zugeschnitten. Das ist die moderne Methode, wie sie Jungnickel und Reinsch und Speil und die anderen bekannten Reformer gelehrt haben.«

»Sie sind ja riesig bewandert, Herr Balthassar.«

»Hm! Na, ich will zugeben, Fräulein Isenloh hat mir vorgestern über die Sache 'nen kleinen Vortrag gehalten; aber sonst – tja, als Lokalschulinspektor muß man doch Bescheid wissen. Wollen also jetzt mal hingehen und bissel zuhören.«

»Doch nicht ich; ich habe doch gar kein Recht dazu!«

»Wieso? Ich kann doch wohl in meiner Schule zuhören lassen, wen ich will. Kann ich Sie zusehen lassen, wie mein Knecht Gerste sät, kann ich Sie auch zuhören lassen, wie meine Lehrerin Naturgeschichte gibt. Oder interessiert Sie's nicht?«

»Es würde mich sehr interessieren, aber ich würde doch den Unterricht stören!«

»Nanu, Sie werden doch nicht schwätzen oder mit den Füßen scharren oder Papierkugeln schmeißen wie die anderen Rangen. Machen Sie keine Flausen, kommen Sie mit! Ich hab' mir's in den Kopf gesetzt. Wenn ich mal meine Lokalschulinspektorei aus Mangel an Zeit oder Mangel an finanziellem Interesse (die Geschichte bringt einschließlich aller Spesen jährlich 48 Mark) – also wenn ich mal die ganze pädagogische Aufsichtschose aufgeben sollte, können Sie mein Nachfolger werden. Es ist zeitweise ganz ulkig. Und nu los! Haben wir zusammen Amsvorsteher und Mord- und Brandkommission gespielt, können wir auch zusammen Schulaufsichtsbehörde sein.«

Er nahm mich wirklich mit.


Erika begegnete meiner verlegenen Entschuldigungsrede ob des unberechtigten Eindringens in ihr Schulreich mit freimütiger Herzlichkeit. Eine Schaustellung sei ja wohl eine Schulstunde nicht, sagte sie, aber der Schade läge ganz auf meiner Seite. Ich würde mich wahrscheinlich sehr langweilen. Herrn Balthassar begegnete sie mit dem ihm als ihrem Vorgesetzten gebührenden Respekt, und ich merkte ihr sogar eine kleine Aufgeregtheit an, da sie hier so »unter Aufsicht« unterrichten sollte.

Es war ganz herzig. Die Kinder gingen langsam und artig neben der Lehrerin her, bezeichneten die einzelnen Bäume des gemischten Waldes mit Namen, wiederholten, was sie zuletzt von den Kätzchenblüten und von den Blattknospen gehört hatten und pflückten gelegentlich einige Veilchen ab. Sie betrachteten mit Forschermiene die Blüten, zählten die Blütenblätter und die Staubfäden und machten alle kluge Gesichtlein.

Plötzlich prustete Balthassar los:

»Sehen Sie doch das Mädel dort – die Kleine mit dem quittegelben Zopf – die frißt ihre Veilchen auf – wie ein Kalb.«

Es war so. In Gedanken versunken stand das kleine Mädel da, blinzelte in die Sonne und kaute Veilchen.

Balthassar zog ein dickes Notizbuch heraus und machte sich eine Notiz. Oho, dachte ich, der nimmt's aber ernst. Auch Erika bemerkte Balthassars Schreiberei, errötete ein wenig, gewahrte nun ebenfalls die Veilchenfresserin und rief sie mit einem tadelnden Wort zur Ordnung.

»Schade!« brummte Balthasar, »der schmeckte es gerade so gut!«

Wir gingen weiter. Ein Kuckuck rief. Die Kinder zählten.

»Acht mal!« rief ein Knirps. »Fräulein, nun leben Sie noch acht Jahre.«

»Das wäre mir viel zu wenig!« sagte die Lehrerin freundlich.

»Nein,« rief ein Mädel; »das ist ganz anders: das Fräulein kriegt acht Kinder.«

»Aber Selma!«

»Es soll so heißen,« sagte ein brauner Schelm, »wir werden alle achtzig Jahre alt.«

Balthassar machte sich wieder eine Notiz. Der Kuckuck schrie auf's neue.

»Wo ist er? Wo ist er?« riefen die Kleinen. »Wir wollen ihn sehen.«

»Ich will ihn fangen,« schrie ein strammer Bursch, »und ihn in ein Gebauer sperren.«

Da erzählte die Lehrerin den Kindern, ein wie scheuer Vogel der Kuckuck sei. Er sei der Einsiedler des Waldes, ungesellig, menschen- und tierscheu. Es gäbe selbst Jäger, die niemals einen lebendigen Kuckuck gesehen hätten.

»Weiß der Kuckuck,« sagte Balthassar zu mir, »ich habe auch noch keinen lebendigen Kuckuck gesehen.«

Im Dahinschreiten unterhielten sich die Kinder. Nicht eben sehr geistreich.

»Große Tiere haben große Junge, kleine Tiere haben kleine Junge,« bemerkte ein Knabe.

»Nicht immer,« sagte die Lehrerin. »Ihr habt ein Bild vom Känguruh gesehen. Das Känguruh ist doch ein großes Tier. Sein Junges ist aber anfangs nur so groß wie ein Maikäfer.«

Die Kinder rissen die Augen auf. Balthasar auch.

»Nanu,« sagte er; »jetzt verkohlt sie uns. Fräulein, darf ich mal einen Augenblick bitten?«

Er trat mit Erika und mir zur Seite.

»Also, das mit dem kleinen Känguruh, das ist doch bloß Ulk?«

»Nein, es ist so!«

»So groß wie ein Maikäfer? Schon – schon auf der Welt?«

»Ja, schon auf der Welt.«

»Also, Fräulein, wenn das wahr ist, wenn Sie mir das schwarz auf weiß zeigen können, gebe ich eine Maibowle von zehn Flaschen Sekt zum besten und trinke sie ganz allein aus.«

Er nahm sein Notizbuch und schrieb. Die Lehrerin ging zu den Kindern zurück.

Wir kamen zu den Buschröschen. Tausende liebliche rosarote Blüten träumten über grünem feuchten Waldgrund. Die Kinder schrien vor Entzücken auf.

»Das sind die Rosen des Frühlings,« sagte Erika, »die Buschröschen.«

Sie schwelgte mit den Kindern in der Pracht der Blüten und der großen dünnen Blätter, die so groß und so dünn sind, damit sie das karge Licht, das an der schattigen Stelle ist, auffangen können. Dann grub sie ein Pflänzchen aus.

»Seht, die Wurzel geht nicht in die Tiefe; sie geht wagerecht unter der Erde hin. Man nennt dies einen Wurzelstock. Warum mag das wohl so heißen?«

»Weil sich vielleicht die Zwergemännchen einen Stock daraus machen!« sagte ein kleines Mädel. Die großen Jungen lächelten spöttisch, aber die Lehrerin lobte das Kind und sagte, es habe lieb und gut geantwortet. Dann erklärte die Lehrerin den Kindern, wie immer ein Teil des wagerechten Wurzelstockes absterbe, aber der andere neue Knospen und Triebe bekomme, sodaß die Pflanze mit ihrem Wurzelstock im Boden weiterwandere, dorthin, wo sie neue Nahrung bekomme; sie erzählte, wie im Herbst schon sich unter der Erdkrume ein Wurzelbogen bilde, an dem eine Erdknospe hängt. Das sei wie ein Torbogen mit einer weißen Laterne. Und dann dehnt sich der Bogen nach oben, im ersten Frühlingslicht sprengt er die Erde, die Knospen könnten ins Freie, würden zum lieblichen Rosenbusch erster Lenzzeit, und der alte gute Wurzelstock nährt sie mit seinem Mehl, das er wie ein guter Hausvater im Winter aufgespeichert hat.

Balthassar machte sich abermals eine Notiz.

Nun mußte ich doch mal sehen, was er denn beständig zu schreiben hatte. Ich sah ihm heimlich über die Schulter. Da las ich:

Biernowski soll 3 Ztr. Viehsalz mitbringen. – Biernowski dito Fäßchen Heringe. – Kleines Känguruh wie Maikäfer? 10 Flaschen Sekt. – Schmied, der Lumpenhund, Rechnung zu groß. – Sache mit Wurzelstock sehr merkwürdig. – Schwarzen Stier an Dietlein verkaufen, nicht an Hampel. – Wenn möglich, für Schule ausgestopften Kuckuck anschaffen. – Lehrerin sehr gut.

Dieses Gemisch von Wirtschaftssorgen und Schulangelegenheiten machte mir Spaß.

Die Lehrerin sah nach der Uhr.

»Wir müssen zurück!«

Alle stellten sich in Reih und Glied. Die Kinder sangen:

»Vögel singen, Blumen blühen,
Grün ist wieder Wald und Feld,
Und wir ziehen hin und wandern
Von dem einen Ort zum andern,
Durch die weite grüne Welt.«

Balthassar schulterte den Stock, marschierte im Takt hinterdrein und sang mit tiefer Baßstimme das Lied mit. Da er den Text nicht kannte, sang er auf »Lala« oder »Hem hem!«

Am Waldrande rief eine laute Männerstimme: »Stehen bleiben! Alles stehen bleiben!«

Werner Lehmann, der Maler, stand auf einer Wiese mit einem photographischen Apparat.

»Hier ist Schulstunde!« rief Balthassar verdrossen hinüber.

»Eben! Eben! Das will ich ja!« schrie der Maler zurück und knipste.

»Das ist das Famoseste von allem,« sagte ein Junge.

Da kriegte er von Balthassar ein Kopfstück.

Der Maler sprang lachend heran. Er begrüßte Erika sehr herzlich, nickte uns zu, zog die Mädel an den Zöpfen, warf den Jungen die Mützen in die Höhe und jodelte. Die Kinder jauchzten.

»Zum Donnerwetter!« stampfte Balthassar mit dem Stock auf. »Das ist doch Schulstunde! Das ist Dienst!«

»Heimweg, Herr Balthassar,« beschwichtigte ich ihn. »Lassen Sie ihn!«

»O, wenn er nur nicht der Sohn meines Herrn wäre, dem würde ich heimleuchten!«

Werner Lohmann ging neben Erika, sprach und lachte auf sie ein, und sie sprach und lachte auch.

Was war das?

Auch in mir stieg etwas auf wie Ärger und bittere Eifersucht.


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