Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Sechstes Kapitel.

Das Gebot des Waldes. – In der Moorhütte. – Ich lasse mir von Mathilde erzählen. – Das Unglück im Tal.

Ich zog mit meinem Rodel nach der »Traube«. Dort war ich der einzige Gast. Eines der Mädchen, es war das Malchen (wie sie mir sagte), setzte sich zu mir. Ich erzählte auch ihr von den Begebnissen an der Brettschneide. Es wird ja doch nicht lange dauern, bis alles herum ist.

Da sagte sie: »Der alte Krügel ist vorhin hier gewesen. Er hat mir gesagt, der Bönisch wolle ihn aus seinem Häusel jagen. Und er hat sich einen ganzen Liter Schnaps gekauft. Ich wollt's ihm gar nicht geben, aber er ließ nicht locker.«

»Sie hätten ihm den Schnaps wirklich nicht geben sollen!«

»Ach der! Der treibt's manchmal so. Manchmal trinkt er wochenlang gar nichts und dann mal tagelang hintereinander.«

»Also ein Quartalstrinker! Seine Frau ist so eine Art Wahrsagerin?«

»Ja, die verdient mehr Geld mit dem Kartenlegen als der Krügel mit seiner Axt. Von weit und breit kommen Leute zu ihr, hauptsächlich auch feine Damen aus der Stadt.«

»Na ja, das sind doch die Dümmsten!«

»O, die alte Krügeln trifft vieles. Am sichersten sagt sie Sterbefälle voraus. Das ist oft unheimlich, wie das eintrifft!«

»Sie sollten an so was nicht glauben, Fräulein Malchen! Um auf etwas anderes zu kommen: die Elisabeth Ranke ist ja die Nachbarin vom Brettschneider Bönisch.«

»Ja, der junge Bönisch hatte die Elisabeth früher sehr gern. Die Liesel ist ja auch ein sehr schmuckes Mädel. Ist sogar zwei Jahre in die Stadtschule gegangen. Sie hat jetzt noch den Emil unsinnig lieb. Sein Vater – der Brettschneider – hat die Liebschaft nicht zugeben wollen; denn es paßte ihm nicht, daß sein Sohn nur eine Krämerstochter kriegen sollte. Der Emil war eigensinnig und hielt an der Liesel fest. Aber dann kam er zum Militär; in der Stadt traf er die Bianka, die dort diente, und dann, als er nach Hause kam, war's aus mit der Liesel. Nun ist es so gekommen. Das hat der Alte davon! Mit der Liesel wäre es tausendmal besser gewesen.« – –

Der Abend war hereingebrochen. Als ich auf die Straße trat, merkte ich, daß sich der Wind gedreht hatte und zu großer Stärke angewachsen war.

Südwind! Tauwind! Nun würde es mit der Rodelbahn ohnehin zu Ende sein. Schadete wohl nichts! Die »Traube« lag auf der Talsohle; ich mußte nun die Südlehne hinauf nach meinem Hause. Aber es war mir, als ob mich eine unbekannte Macht zwänge, die Nordlehne wieder hinaufzusteigen nach der Moorhütte.

Der alte Krügel ging mir nicht aus dem Kopf. Wenn eine so vereinsamte, unbeholfene Seele eine schwere Erschütterung trifft, wie der Schreck war, aus dem altgewohnten lieben Hause verjagt zu werden, dann konnte Schlimmes geschehen. Zumal der Alte viel Schnaps mit nach Hause genommen hatte. Ich beschloß, Krügel nicht erst eine furchtbare Nacht durchleben zu lassen, sondern ihn bald aufzusuchen und ihm einen Vorschlag zu machen. Er sollte Bianka nach der Stadt in Dienst zurückschicken. Ich selbst wollte ihr eine gute, ordentliche Stelle verschaffen. Und nachdem so der Stein des Anstoßes beseitigt war, wollte ich den Brettschneider Bönisch bitten, die alten Klügelleute in ihrem Häuschen zu belassen. Ich weiß nicht, warum mir einfiel, ein solches Vorgehen würde den Beifall von Erika Isenloh haben.

Vielleicht blühte – wenn mir mein Plan gelang – auch für Elisabeth Ranke das gestorbene Glück wieder auf!

Der Südsturm stieß an meinen Rücken, als ich die Lehne hinaufstieg. Dann auf heim zu – gegen den Wind – würde es einen beschwerlichen Weg geben!

Ich wunderte mich über mich selbst, daß ich jetzt zur alten Moorhütte hinaufpatschte, anstatt mich in meinem behaglichen Heim zu einem guten Buch zu setzen. Es war irgend ein Imperativ in mir, dem ich folgte. Früher, in meinem Großstadtleben, war mein Grundsatz: »Kümmere dich nie um die Angelegenheiten fremder Leute!« Ach, was wäre mir da so ein Holzhackerschicksal gewesen! Ich hätte gar nichts von dem Lose so kleiner Leute erfahren, und wenn ich davon gehört hätte, so wäre es mir langweilig und gleichgültig gewesen. Wie war das doch jetzt so anders!

Der Wald! Der Vater aller, die bei ihm wohnen! Der macht alle zu Geschwistern. Der will, daß alle seine Kinder um ihre gegenseitigen Leiden und Freuden, Tugenden und Sünden wissen, der fügt alle Schicksale der Einzelnen zusammen zum großen Familielos, an dem jeder mitzuschaffen das Recht und die Pflicht hat.

Ich konnte nicht anders, ich mußte eingreifen bei dem, was ich heute erlebt hatte. So, als ob es meine eigene Sache wäre. Also war Hubertus bereits ein Sohn des Waldes geworden!

Brausend fuhr der Frühlingssturm, das ungestüme Südlandskind, durch das Geäst der Bäume und hüllte mich in ganze Schneewolken ein. Es war ein rauher Weg.

Ich kam zur Moorhütte. Zwei Fenster waren erhellt. Ich klopfte an.

»He, Krügel, hier steht Hubertus! Macht auf! Ich möchte noch etwas mit Euch besprechen.«

Es rumpelte und scharrte drinnen. Ich hörte Knurren und Sprechen, Wirtschaften und Rumoren im Hausflur. Sie räumten wohl erst auf! Endlich wurde die Tür geöffnet.

Das Weib stand da mit einer Laterne.

»Ah – Herr Hubertus! – Sie müssen schon verzeihen, mein Mann schläft schon!«

»Es ist nicht wahr!« knurrte es im Hintergrund. »Ich schlaf nicht! Ich – ich stehe dahier in der Stubentür!«

»Er ist betrunken!« sagte das Weib.

»Lassen Sie mich eintreten!«

Ich trat in einen dunklen Flur, stolperte über einen Kartoffelsack und einen Korb und war froh, als ich die erhellte Wohnstube erreichte. Auch da sah es höchst liederlich aus. Krügel lehnte am Tisch. Er war wirklich nicht mehr nüchtern.

»Was wollen Sie?« fragte er., »Es ist alles gehackt – alles gehackt!«

Nun bedauerte ich allerdings, hierher gekommen zu sein. Es ist schwer, verlorenen Schafen nachzugehen, und nicht immer dankbar; das hatte Erika Isenloh heut nachmittag erfahren, und nun erfuhr ich es.

»Wo ist Bianka?« fragte ich.

»Sie treibt sich noch rum!«

»So! – Wegen der Bianka komme ich her. Ich hätte für sie eine gute Dienststelle in der Stadt.«

»Sie will nicht dienen! Sie will zu Hause bleiben.«

»Ja, aber dann müßt Ihr raus aus Eurem Hause. Das hat der Bönisch heute gesagt!«

Der alte Krügel schüttelte drohend die Fäuste.

»Der Bönisch – der Bönisch!«

»Den Bönisch soll der Teufel holen!« sagte das Weib.

Ich setzte mich auf einen Bretterstuhl, den mir die Frau hinschob. Nun ich einmal da war, wollte ich meine Mission ausführen.

»Es wäre für Euch und auch für die Bianka, denke ich, das beste, wenn sie fortkäme. Da hörte das Ärgernis auf, und Ihr könntet ruhig und in Frieden wohnen bleiben.«

Da sah mich das Weib mit einem unheimlichen Blick an.

»Es ist nicht nötig, daß Bianka fortzieht – sie wird bald sterben.«

»Ihr seid wohl nicht recht bei Euch? Das blühende, gesunde Ding!«

»Sie wird bald sterben!« wiederholte die Alte.

»Woher wißt Ihr denn das?«

»Ich habe es aus ihrer Hand gelesen.«

»Ach so, Ihr wißt es aus Eurer Chiromantie? Nun, das wollen wir nicht so ernst nehmen.«

Die Alte lachte hämisch.

»Ob es der Herr Hubertus ernst nimmt oder nicht – ich weiß es! Ich habe es schon lange gewußt. Nun aber ist es nahe.«

»Wie könnt Ihr denn das mit solcher Sicherheit behaupten?«

Sie ergriff meine linke Hand, die ich ihr willenlos überließ.

»Da –«, sagte sie und fuhr zwischen Daumen und Zeigefinger die Handfläche entlang, »da – Sie wissen wohl, daß das die Lebenslinie ist – da oben in der Lebenslinie hat sie das Kreuz, das auf die Liederlichkeit weist und darunter die zwei scharfen Striche – das bedeutet plötzlichen Schluß. Und da mitten auf der Gesundheitslinie ist das Kreuz, das bedeutet unbedingt das letzte Jahr und da – die Gesundheitslinie ist bei Bianka nicht in der Mitte der Hand, hier oben stößt die Glückslinie mit der Lebenslinie im Winkel zusammen – es ist klar, sie stirbt noch dieses Jahr; sie wird ermordet werden.«

»Krügeln!«

»Ja, es ist so! Ihnen, Herr Hubertus, kann ich sagen, daß Sie noch heiraten und vier Kinder bekommen werden.«

»Lassen Sie doch solchen Unfug! Das ist greulich!«

Sie knurrte und ging vom Tische weg. Aus der Ofenröhre nahm sie eine Kaffeekanne, trank daraus, setzte sich auf die Ofenbank und äugte wie eine Eule herüber. Der alte Krügel stierte blöde vor sich hin. Der Sturm stieß an die Holzwände der Hütte, und die Lampe rauchte. Ich schraubte sie zurück.

Da kam die Alte wieder an den Tisch heran.

»Sie glauben es nicht von der Bianka? Wollen Sie mit mir wetten um eintausend Mark?

»Ihr seid wohl nicht gescheit?«

»Ich bin ganz gescheit. Und ich habe tausend Mark zum Wetten; ich kann sie Ihnen zeigen.«

»Das ist ja scheußlich !«

»Wahr ist es!« sagte sie und zuckte die mageren Achseln.

»Ich gehe!« sagte ich. »Macht, was Ihr wollt, überlegt es Euch wegen der Bianka und wegen der Stadt.«

»Ist nichts zu überlegen!«

»Sie ist ein alter Teufel, Herr Hubertus,« lallte Krügel.

Ich war froh, als ich draußen war, obwohl mir nun der Sturm so hart ins Gesicht fuhr, daß ich Mühe hatte, vorwärts zu kommen.

Unten in der »Traube« kehrte ich erst noch einmal ein, um mich etwas zu erholen, und als ich endlich zu Hause war, war es acht Uhr vorüber.

Das Abendbrot schmeckte mir nicht, trotz der weiten Märsche, die ich am Tage gemacht hatte. Selbst eine Flasche alten Burgunders, die mir Timm bringen mußte, erhöhte meine Behaglichkeit nur wenig. Da nahm ich wieder einmal zu meiner alten Mathilde die Zuflucht. Ich rief das Weiblein mit seinem Strickstrumpf in mein Zimmer.

»Kommen Sie, Mathilde, setzen Sie sich ein wenig zu mir. Ich bin so allein. Trinken Sie ein Glas Wein mit mir!«

»Nur einen Schluck, Herr Hubertus, wegen der Kopfschmerzen!«

»So! – Und nun erzählen Sie mir was von meiner Mutter!«

»Ach Gott, ach Gott, der Herr Hubertus! Wie würde sich die gute gnädige Frau gefreut haben, wenn sie das erlebt hätte, wie der kleine Hubertus groß geworden ist. Aber so – schon gestorben, als er erst vier Jahre alt war. Und der gnädige Herr Vater ein Jahr vorher bei Gravelotte gefallen. Das war's ja!«

»Wie hat denn meine Mutter ausgesehen, Mathilde? War sie groß?«

»Ach nein, ein kleines zierliches Frauchen. Hat eigentlich gar nicht wie eine Frau ausgesehen, sondern wie ein ganz junges Mädchen. Einmal sind wir in der Stadt gewesen; da hat die gnädige Frau den kleinen Hubertus an der Hand geführt, und da hat ein Junge hinter uns hergeschrien: ›Sie, Fräuleinchen, Ihr kleener Bruder hat die Mütze verloren!‹ Ach Gott, was haben wir doch da gelacht!«

»Es mag schön gewesen sein, Mathilde!«

»Wie schön ist es gewesen! Wie der Herr Papa noch lebte, da hat er den kleinen Hubertus immer so in die Höhe geworfen wie einen Ball und immer aufgefangen. O Gott, was hat doch da die Frau Mama für Angst dabei gehabt! Wie hat sie da gejammert. Aber wenn der Herr Papa aufhörte mit dem Ballen, da jammerte der Junge.«

»Ja – Mathilde, ja! Erzählen Sie nur so weiter.«

»Da ist auch ein Esel zum Reiten gewesen. Aber der kleine Hubertus hat immer gesagt: ›Nicht Esel reiten – lieber Papa reiten!‹ Und da hat immer die gnädige Frau so sehr darüber gelacht. Und sie hat selbst auf dem Esel geritten und der Hubertus auf dem Papa, und sie haben zusammen ein Wettrennen gemacht. Ach, was haben wir da gelacht, wenn wir es vom Küchenfenster aus sahen. Der Herr Papa war so lustig. Geb' ihm halt der liebe Gott die ewige Ruhe und der guten gnädigen Frau auch!«

Ich trat ans Fenster. Ich sah lange hinaus.

Auf einmal ein heller Strahl und prasselnder Donnerschlag.

»O Gott, o Gott – ist denn das ein Gewitter?«

»Ja, Mathilde, ein Frühlingsgewitter. Das wird nicht lange dauern.«

Wir horchten hinaus. Es regnete nicht; auch der Sturm schien sich gelegt zu haben. Es blitzte und donnerte noch zweimal, dann setzten Wind und Regen ein.

So saß ich mit Mathilde wohl noch eine Viertelstunde lang zusammen.

Auf einmal kam Timm hereingestürzt und rief: »Gnädiger Herr, es brennt unten im Dorfe!«

Wir fuhren erschrocken auf. Ich zog rasch ein paar langschäftige Stiefel über die Beinkleider, fuhr in einen Wettermantel und setzte eine Ohrklappenmütze auf. »Los, Timm, zieh' dich an, wir müssen hinunter.«

Krachend schlug der Wind die Haustür hinter mir zu.

Da unten schlug Feuer gegen den dunklen Nachthimmel. Qualm stieg auf, von der Lohe rot beleuchtet.

Das war die »Traube«, die brannte! Timm kam mir nachgerannt, auch die Sturz und leider auch die wie wahnwitzig bellenden Hunde. Vergebens versuchte ich, sie zurückzutreiben. Die Sturz, der ich befahl, die Köter einzufangen und nach Hause zu schaffen, griff nach dem Dackel, stolperte dabei über den Pudel und rollte kreischend den vereisten Abhang hinab. Timm lachte aus vollem Halse; mir war nicht zum Lachen zumute. Unterdes wurde auf dem Kirchturm Sturm geläutet, ein Feuerhorn tutete schauerlich, zuweilen warf uns der Sturm ein paar Fetzen aufgeregter Menschenschreie zu.

Die »Traube«! Nein, es war nicht die »Traube«. Der Feuerherd lag weiter den Nordabhang hinauf.

Die Brettschneide!

Ein Schreck durchzuckte mich. Wer hatte das getan? Der Blitz? – Oder – oder –?

Die Moorhütte fiel mir ein.

»Den Brettschneider soll der Teufel holen!« hatte die unheimliche Alte gesagt. Und Krügel war angetrunken.

»Schneller, Timm, schneller!«

Unten in einer Windswehe lag die Sturz, brüllte, sie habe beide Beine gebrochen, und rannte dann hinter uns her.

Auf der Dorfstraße hasteten Menschen mit Wassereimern. Sie waren alle in höchster Aufregung.

»Wo brennt es?«

»In der Brettschneide!«

Also doch! Bald waren wir an der Brandstelle. Das große Wohnhaus stand unversehrt, aber die Brettschneide selbst brannte und der große Schuppen mit den Holzvorräten. Das Feuer fand an den trockenen Brettern, Stämmen und Spänen einen willkommenen Fraß und machte kurze, rasche Arbeit. Zum Glück schlug der Südwind die Glut an die schneeige Nordlehne, und der Regen übergoß das Wohnhaus mit seinen Fluten. Die windschiefe Feuerspritze, die etwas größer als ein Kinderspielzeug war, hätte es sicher nicht geschafft. Trotzdem arbeitete sie, und die Dorfleute bildeten eine lange Kette bis zum Dorfteich, wo man das Eis aufgehackt hatte. Durch die Kette der Menschenhände wanderten die vollen und leeren Wassereimer hin und zurück. In dieser Kette standen Erika Isenloh, der Kantor und auch das Malchen aus der »Traube«.

Dieses Mädchen stand im bloßen Hauskleid mitten in Regen und Sturm. So wie sie die Schreckensnachricht erreicht hatte, war sie auf und davon gestürzt.

»Sind Sie das Malchen?«

»Ja!«

»Fräulein Malchen, gehen Sie sofort nach Hause. Sie erkälten sich auf den Tod!«

»Ich kann nicht!«

»Lassen Sie mich an Ihre Stelle!«

»Gehen Sie lieber weiter nach dem Teiche zu; da fehlt es –«

»Sie müssen sich wärmer anziehen!«

Ich drängte sie einfach aus der Reihe heraus und nahm ihren Platz ein. Da sagte sie dicht an meinem Ohr:

»O Gott, die Leute sagen, der alte Krügel ist es gewesen. Und ich habe ihm den Schnaps gegeben!«

»Das kann ja niemand behaupten. Gehen Sie doch nach Hause und legen Sie sich zu Bett!«

»Ich kann nicht!« Sie lief davon, hinab nach dem Teiche zu.

Hin und her gingen die Wassereimer. Das Feuer erreichte den Höhepunkt. Weithin erleuchtete es die Nacht, warf unheimliches Licht auf die schwarzen Wälder, die sich im Sturm bogen, schreckte die Menschenhäuser aus dem Schlummer der Nacht, daß es aussah, als ob nun alle Häuser mit weißen Gesichtern und vor Entsetzen funkelnden Augen zuschauten, wie eines von ihnen den Feuertod sterben mußte.

Balthasar schritt mit Feldherrnschritten auf und ab und gab zehn nützliche und hundert unnütze Befehle.

Da rief eine schrille Stimme:

»Emil! Emil! Emil!«

Es war der alte Brettschneider, der so rief. Er rief nach seinem Sohne.

»Emil! Emil! Emil!«

Der Sohn war nirgends zu finden.

Nun kam Bewegung in die Menge.

»Die Krügelleute kommen!«

Richtig, da war der alte Krügel und sein Weib. Der Brettschneider stürzte auf sie zu.

»Wo ist mein Emil? Wo ist mein Junge?«

»Wir wissen es nicht!«

»Ihr wißt es, Ihr elenden Luder!«

»Die sind's ja gewesen!« schrie ein Weib. »Schmeißt sie doch ins Feuer!«

»Schmeißt sie doch ins Feuer«! schrillte eine zweite.

Halloh! Nun ging es los!

»Schmeißt sie ins Feuer, die Anzünder! Die Krügeln ist eine Hexe! Schmeißt sie ins Feuer!«

»Herr Balthassar!«

Balthassar kam herangehastet.

»Herr Balthassar, Sie als Amtsvorsteher müssen ein Unglück, müssen eine Lynchjustiz verhüten.«

»Schmeißt sie ins Feuer!«

Eine Rotte von Menschen umdrängte die Krügelleute. Ich eilte mit Balthassar hin, auch der Kantor und Erika kamen gelaufen. »Im Namen des Gesetzes – alle Mann stillgestanden!« brüllte Balthasar.

Sie gehorchten wirklich. Sie standen still wie die Soldaten. Gegen ein richtig gebrülltes »Stillgestanden« ist in einem preußischen Menschenleib kein Widerstand vorhanden.

»Platz gemacht!«

Sie wichen zurück. Balthassar stand vor den Krügelleuten.

»Ihr seid beide verhaftet. Im Namen des Gesetzes! Amtsdiener! Schulze! Schöffen!«

Vier Männer erschienen; einer von ihnen trug eine Dienstmütze und einen Degen. Balthassar befahl:

»Diese beiden Leute sind verhaftet! Der Mann wird ins Spritzenhaus gesperrt, das Weib wird nach dem Dominium geführt und in den kleinen Kohlenkeller eingeschlossen. Verstanden?«

»Jawohl!«

»So ist diese Sache erledigt. Zurück zur Arbeit! Weiter löschen!«

»Herr Amtsvorsteher!«

»Was wollt Ihr?«

»Herr Amtsvorsteher, ich kann's doch nicht gewesen sein; ich bin doch der alte Krügel!«

»Haltet das Maul! – Abmarsch!«

Krügel wurde gepackt und fortgezerrt. Das Weib wehrte sich, schlug um sich, kratzte und spuckte. Zwei starke Männer faßten sie und schleppten sie fort.

Halloh, ging das wüste Geschimpfe wieder los, und alles Volk wollte den Arretierten nachdrängen und sie begleiten. Aber alles Gejohle überdröhnte Balthassars mächtige Befehlshaberstimme: »Hiergeblieben! Wer vom Feuer wegläuft, bekommt zehn Mark Ordnungsstrafe!«

Da blieben alle. Wieder standen die Leute in der Reihe, wieder wanderten die Eimer hin und her. Ich stand mitten unter den Arbeitenden. Ich sah freilich ein, daß unsere Tätigkeit gar keinen Zweck hatte; denn das Wohnhaus war durch Wind- und Wetterlage außer Gefahr, das Sägewerk sowieso verloren, und ein so lächerliches Instrument, wie diese Miniaturspritze zu bedienen, hatte gar keinen Sinn. Aber ich hielt natürlich aus.

Nach etwa zwei Stunden sanken die Flammen ziemlich plötzlich zusammen, nur knirschende Glutmasse blieb, aus der von Zeit zu Zeit eine Flamme explosionsartig emporzuckte. Auch wurde der Regen wolkenbruchartig, sodaß Balthassar zu den Leuten sagte:

»Ihr könnt nach Hause gehen! Nur eine Brandwache bleibt zurück!«

Da trollten die meisten eiligst davon. Ich war noch im Hofe. Erika Isenloh stand neben mir.

»Das war das größte Erlebnis meines Lebens,« sagte sie. »So etwas gibt es in der großen Stadt nicht.«

»Sie meinen die gewaltigen Schauer, das Malerische.«

»Und das Menschliche!«

»Emil! Emil! Emil!«

»Hören Sie – er sucht fortwährend den Sohn. Er sucht ihn im Wohnhaus, im Hofe, bei der Brandstätte; er schreit draußen auf der Dorfstraße.«

»Ja, wo ist Emil? Er müßte doch da sein.!«

»Emil! Emil!«

Durch die aufgeweichten Schnee- und Wasserlachen kam der Brettschneider über den Hof. »Herr Bönisch,« sagte ich, »Ihr Sohn wird gar nicht im Dorfe sein.«

»Er wird auswärts sein,« fügte Erika hinzu.

»Auswärts!« lallte der Alte, »auswärts! Er wird doch nicht, er wird mir doch nicht angezündet haben – der Emil –«

»Herr Bönisch, meine Überzeugung ist, daß der Blitz bei Ihnen eingeschlagen und angezündet hat –«

»Der Blitz –« lachte er heiser, »der Blitz! Schöner Blitz! Ich weiß schon – weiß schon – was das für ein Blitz war –«

Er schlürfte davon und rief wieder: »Emil! Emil!«

»Schrecklich!« sagte Erika und begann jäh zu weinen. »Das unglückselige Rodeln –«

»Erika!« sagte ich streng, »nun lassen Sie diesen Unsinn! Dafür sind Sie zu klug. Unser unschuldiges Rodeln hat mit diesen Tragödien, die viel tiefer begründet sind, rein nichts zu tun.«

Ich führte sie hinaus auf die Straße. Da sahen wir eine Frauensperson am jenseitigen Gartenzaun lehnen.

Elisabeth Ranke.

An sie hatte ich den ganzen Abend gar nicht gedacht.

»Elisabeth, was tun Sie hier noch?«

Sie sah uns mit irren Augen an.

»Hat er – hat er – ist er's gewesen? Warum ruft der alte Vater immerfort?«

»Elisabeth, wer es gewesen ist, weiß niemand. Ich denke, es war der Blitz.«

»Der Blitz? Nein!«

»Elisabeth, gehen Sie ins Haus. Sie sind ja für den Emil viel zu schade!«

»Zu schade?« wiederholte sie müde. »Es kann sein! Wenn er wegen einem solchen Frauenzimmer –«

Die Tür des Krämerhauses wurde geöffnet. Elisabeths Mutter erschien.

»Ist sie schon wieder draußen? Fünfmal habe ich sie schon hereingeholt. O Gott, solch ein Unglück!«

Willenlos ging das Mädchen ins Haus. Die Mutter sagte zu uns:

»Sie ist heute nicht vom Fenster weggegangen, hat immer gepaßt, wenn der Emil vorbeirodelte. Da ist sie zu spät zum Kreuze hinauf. Die Ewige Lampe ist ausgelöscht, und so kam das Unglück. Aber sagen Sie es niemand sonst!«

»Brennt denn die Lampe jetzt wieder?«

»Sie brennt wieder!« sagte die Frau und schlug die Hände vors Gesicht.


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