Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Achtzehntes Kapitel.

Schwere Beichte. – Selbstmörderbegräbnis. – Vom alten und jungen Lohmann.

Abend. Ich war eben aus dem Bett aufgestanden. Den ganzen Nachmittag hatte ich in schweren Träumen geschlafen. Nun war ich müder als vorher.

Ich setzte mich ans Klavier und versuchte eine Beethovensche Sonate. Es gelang nichts; der Friede, den ich wollte, kam nicht.

Es war Neumondzeit. Mein Zimmer war völlig dunkel. Den Diener, der mit einer Frage gekommen war, hatte ich kurz abgewiesen. Ich mußte immer wieder nach dem schwarzen Walde hinausstarren, der unter totem Himmel lag.

Da regte sich etwas an meinem Gartenzaun. Ich konnte nicht sehen, was es war; aber ich öffnete das Fenster und rief mit halber Stimme hinaus:

»Emil?«

»Ja!« kam es dumpf zurück.

»Warten Sie, ich komme hinaus!«

Ich hatte es geahnt, daß er durch diese Dunkelheit kommen müsse.

Ich ließ ihm keine Zeit, bald zu reden, sondern zog ihn weiter vom Hause fort. Er ging schwer wie ein Kranker. Schließlich fiel er an den Wegrand. Mit ganz fremder Stimme fragte er:

»Herr Hubertus, mein Vater hat – Schluß gemacht; ich erfuhr es in der Stadt. Ich will auch Schluß machen!«

Ich setzte mich neben ihn und faßte seine Hand.

»Sie dürfen nicht, Emil; Sie müssen an Elisabeth Ranke denken.«

Da weinte er leise. Nach einer recht langen Weile sagte er:

»Was hat sie denn von mir, wenn ich eingesperrt bin?«

»Sie hat die Hoffnung. Sie kommt nicht in Verzweiflung.«

Es ist Nacht um uns her. Im Tal blitzen Lampenlichter. Nur die Brettschneide liegt finster. Die Knechte und Mägde sitzen wohl dort alle furchtsam in der Hinterstube.

Der junge Bursche neben mir stöhnt. Auch seine Augen sind hinunter nach der Brettschneide gegangen. »Ich müßte ihn noch einmal sehen; ich bin der Sohn. Aber wenn ich ihn so sähe, dann würde ich mich ganz bestimmt auch hängen.«

»Lassen Sie den Toten ruhen, Emil.«

Langes und schweres Schweigen. Lasten in Körper und Seele.

»Glauben Sie an Gott, Herr Hubertus?«

»Ja.«

»Was wird Gott mit meinem Vater tun?«

»Er weiß es besser als wir. Und ist barmherziger als wir!«

Wieder langes Schweigen.

Plötzlich wird der junge Mann erregt.

»Ja, sehen Sie, Herr Hubertus, und wenn man es recht überlegt, war doch mein Vater unschuldig, und die ganze Schuld habe doch ich. Die Bianka war wohl ein schlechtes Mädchen. Der Vater wollte nicht, daß ich hinter ihr her war. Er hatte doch recht damit. Und an dem Abend da wußte er, daß ich nach der Moorhütte hinauf war, da ist er mir nach, da ist er wohl ganz irr gewesen vor Wut, und da ist ihm zum Unglück die Bianka, die nach der Traube ging, im Walde begegnet, und da hat er sie in seinem Zorn erschlagen. Und ich lief hinter der Bianka her und traf den Vater neben Biankas Leiche. Herr Hubertus, das war – das war – ich habe damals furchtbar geschrien.«

Die Fingernägel des Burschen krampften sich in seine Beine, sein Oberkörper zuckte hin und her; er lallte: Speichel lief aus seinem Munde.

Ich konnte nichts tun, als den Arm um seine Schultern legen, die auf und ab zuckten. Ich ließ ihm Zeit; ich hielt ihn nur schweigend fest – ließ ihm Zeit.

»Da – da hab' ich ihn ins Gesicht geschlagen – und er hat mich verflucht!«

Hintenüber bricht Emil Bönisch zusammen und röchelt wie einer, der Herzkrämpfe hat. Ich beuge mich über ihn und halte ihm die Hände. Die greifen – tasten – schlagen –

Das geht eine Zeit so, dann schnauft Emil ein paarmal tief auf und dann liegt er ruhig mit geschlossenen Augen, als ob er schlafe.

Eine Grille geigt im Gras auf ihrem klirrenden Instrument. Das ist alles, was zu hören ist in diesem weiten Waldtal. Alle Sterne sind hinter Wolken. –

Emil Bönisch reibt sich die Augen und richtet sich auf.

»Entschuldigen Sie, Herr Hubertus, ich mache Ihnen viel Verdruß.«

»Nein. Ich will Ihnen ja helfen.«

»Es wird mir wohl nicht zu helfen sein. Wenn einen der eigene Vater so verflucht hat –«

»Den Fluch hat Ihr Vater tausendmal zurückgenommen. Schon damals am Feuer, als er jammernd nach Ihnen rief.«

»Hat er nach mir gerufen?«

»Ja, hundertmal. Vielhundertmal.«

»Er hat es gewußt, daß ich die Brettschneide angezündet und ihm das Geld genommen habe. Ich habe es aus Rache getan, aus Wut, daß er die Bianka erschlagen hatte. Ich war verrückt, Herr Hubertus, Sie können es mir glauben, ich war verrückt; ich wußte nicht mehr, was recht und unrecht ist; ich mußte so etwas machen. Aber wie die Flammen aufgingen, da wurde es hell in meinem Kopfe – das war ja doch unser Haus, was brannte, wo die Mutter und meine Geschwister –«

Jetzt dauerte es sehr lange, ehe Emil Bönisch weiter sprach, wohl eine Viertelstunde. Aber dann sprach er schnell, fast hastig:

»Von dem Geld, das ich genommen hatte, habe ich mir bloß ein paar Scheine in die Tasche gesteckt, damit ich was hatte, wovon ich leben konnte. Das andere, das hab' ich in das Felsenloch geworfen, das die Leute die Hexenküche heißen. Vielleicht liegt es noch dort. Und dann bin ich gerannt ... gerannt ... Ich bin viele Wochen gelaufen. Und da bin ich endlich nach Hamburg gekommen. Ich wollte nach Amerika. Aber ich hatte nicht die nötigen Papiere. In Hamburg wurde ich Hafenarbeiter. Es ging mir da sehr schlecht. Nachts konnte ich nicht schlafen und bei Tage mußte ich arbeiten. Und dann fiel mir Elisabeth Ranke ein, und ich kriegte das Heimweh und da rückte ich aus, – und nu – nu – wo ich heimkomme, hängt sich mein Vater auf!«

Was sollte ich sagen? Es war einer der trübseligen Augenblicke, wo die Kraft des Tröstens fehlt, wo man herumsucht in Herz und Hirn und in allen Schubfächern des Wissens und Fühlens nach einem Tröpfchen Balsam vergebens forscht. Aber es kam erlösendes Weinen!

Wenn die Tränen rinnen, sollen die Menschen stille sein. Tränen sind der labende Quell in der Wüste unserer Leiden. In andächtigem Schweigen hörte ich den gnadenvollen Bronnen fließen.


Nach einer halben Stunde war Emil Bönisch bereit, mit mir in mein Haus zu gehen und bei mir zu übernachten. Niemand außer mir sollte von dieser Nächtigung wissen.

»Herr Hubertus,« sagte Emil, »ich verspreche Ihnen, daß ich mich der Polizei stellen werde. Aber erst, wenn mein Vater unter der Erde ist. Der darf's nicht mit ansehen, wie ich eingesperrt werde! Ich will auch nicht hier in meinem Heimatsdorf eingesperrt werden. Am Tage nach Vaters Begräbnis gehe ich in der Stadt zur Polizei.«

Auf mein Zureden nahm Emil Bönisch Abstand von dem Wunsche, die Leiche seines Vaters zu sehen und an dem Begräbnis teilzunehmen. Ich führte ihn vorsichtig in meine Bibliothek, die zu ebener Erde liegt und die ich abschloß. Ich selber trug dem heimlichen Gaste Lebensmittel zu.

Am nächsten Morgen stand das Fenster offen. Emil Bönisch war verschwunden. Die Lebensmittel hatte er mitgenommen. Ich erkundigte mich vorsichtig. Niemand im Hause oder im Dorfe hatte Emil gesehen.


Selbstmörderbegräbnis. Ohne Sang und Klang. Ohne christliche Segnung. Wer geht, ohne von Gott in die Ewigkeit gerufen zu sein, wird nicht geleitet.

Trotzdem war die ganze Gemeinde beim Begräbnis, auch ich und Balthassar, der seinen alten Prozeßgegner auf dem letzten Gang nicht allein ließ. Das Urteil der Gemeinde war nicht ganz gegen den Brettschneider. Die Bianka war ein tolles Ding gewesen, das den Zorn des Alten herausgefordert hatte. Und der alte Bönisch hatte übermenschlich gelitten und sich selber gerichtet. Vielleicht war er auch gar nicht recht klar im Kopf. Das sagten die Leute.

Und so kam der Bönisch nicht ganz in den hintersten Selbstmörderwinkel auf dem Friedhof; zwei Meter von der Mauerecke lag sein Grab. Ganz hinten lag auch die Bianka nicht. Auch zwei Meter von der Mauer war sie begraben. Zwischen ihrem Grabe und dem des alten Bönisch war eine feine Grenze. Da lag ein Mädchen von zehn Jahren, das Kind armer Leute.

Da habe ich gedacht: Kleines in Gott ruhendes Jungfräulein, nun strecke doch deine reinen Kinderhände nach rechts und links und sage dem alten Brettschneider und sage der Bianka: »Hier ruhen wir nun. Und wir wollen in Frieden ruhen. Und ich will euch beiden ein Schutzgeist sein! Hört ihr nicht, wie lieb die Vögel singen auf der Kirchhofmauer? Hört ihr nicht, wie schön unser Wald rauscht? Schlaft – schlaft mit mir in Frieden!«

Es ist schon Abend, wie wir mit dem alten Bönisch zum Dorfkirchhof hinaufziehen. Wenn die Abendglocke klingt, soll er versenkt werden. Es soll nicht ohne Glockenklang sein. Es ist wohl ein erborgtes Geläut, wenn man einen Selbstmörder bei der Abendglocke bestattet, und ein liebloser Mensch könnte sagen, es sei ein erstohlenes Geläut; aber in aller Erbarmung Namen soll es so geschehen, und die Glocke wird klingen zum Himmel und zur Erde und über den grünen Wald, dem hier ein Sohn verscharrt wird, der ihn heimatstreu geliebt hat.

Wie es ist bei solcher Gelegenheit: der Sarg wird über das Grab gestellt, und dann weiß niemand was anzufangen, da kein Geistlicher und kein Sängerchor da ist.

Da tritt Balthassar vor. Er hat den Hut in der Hand und sagt:

»Liebe Gemeinde! Dieses Begräbnis ist das ernsteste, das ich mitgemacht habe. Der alte Bönisch, der hier im Sarge liegt, ist ein braver Mann gewesen. Das wißt ihr alle besser als ich. Es hat ihn furchtbares Unglück betroffen, und er ist wohl geistig schon lange nicht mehr ganz klar gewesen. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet –«

Ein Kind schreit auf, zeigt mit der Hand nach der Ecke der alten Holzkirche. Da lugt ein Kopf herum.

Emil Bönisch.

Weiber schreien, Männer treten zurück – Emil Bönisch stürzt auf das Grab zu, kniet nieder – legt die Hände auf den braunen Sarg und beginnt zu beten – das Vaterunser zu beten – verspricht sich – stockt – betet immer von neuem: »Vater unser, der du bist im Himmel!« In jagender Angst sagt er das hochheilige Gebet.

Die Abendglocke beginnt zu läuten. Da senken ernste Waldbauern den alten Bönisch ins Grab. Emil kniet am Rande, ohne Tränen, aber mit weitaufgerissenen Augen. Knie und Hände wühlen sich in das aufgeworfene Erdreich.

Scheu ... erschrocken ... verliert sich die Menge ... Einige Gaffer, die stehen bleiben wollen, werden von den anderen fortgestoßen ... Der Totengräber wirft rasch ein paar Schaufeln Erde auf den Sarg.

Nun ist es vorbei.

Emil Bönisch erhebt sich und tritt zu Balthassar.

»Nun, Herr Amtsvorsteher, nun – nehmen Sie mich fest.«

»Hier nicht,« sagt Balthasar und weist auf das Feld der Grabkreuze. »Hier ist Freistatt.«

Draußen auf der Dorfstraße hat er ihn dann verhaftet.


Der Gutsherr ist angekommen – Herr Lohmann: Großkaufmann, Rittergutsbesitzer aus Liebhaberei ... des Renommees ... des Spaßes halber. So nebenbei Besitzer von tausend Morgen Land, das ihn gar nichts angeht, für das er sich nicht im mindesten interessiert, abgesehen vom rechnerischen Jahresabschluß, die er hat, um gelegentlich seinen Bekannten zu sagen: »Ich habe in Dingsda ein Gut; wenn Sie mal Lust haben auszuspannen, Einsamkeit zu schlürfen oder auf die Jagd zu gehen – steht gern zur Verfügung.«

Ein Gut. Ohne allen Ernst. So wie man einen Rennstall hat oder einen Tennisplatz oder ein Seegelboot oder sonst einen Klimbim. Mutter Erde im Sportanzug.

Schamlos will ich nicht sagen ... aber geschmacklos ... frech ... schädlich und schändlich ist es.

Allen Gutsbesitzern, die nicht in Wahrheit Gutspfleger sind, sollte man den Besitz einfach wegnehmen, wie man albernen Kindern einen Kunstgegenstand fortnimmt, mit dem sie spielen wollen.

Das heilige Mutterland der Erde ist kein Handels- und auch kein Amüsierobjekt; darf nie dazu werden, oder alles Volk soll sich gegen die Schacherer oder Tändler erheben. Nicht um Gold allein darf das Erdreich zu haben sein – es müssen auch Liebe und treuer Fleiß geboten werden. Sonst wehe dem, der sich daran wagt! –

So sagten wir zueinander, Balthassar und ich.

Dieser Herr Lohmann war ein Kaufmann, »ein kalter Rechner« nach Balthassars Urteil, kannte auf seinem Gut und im Dorf keine zehn Leute und hatte auch kein Herz, gar kein Interesse für diese Menschen. Was gingen sie ihn an? Was ging es ihn an, daß die Bianka erschlagen wurde, daß sich der alte Brettschneider aufhing? Nicht einmal das ging ihn etwas an, daß die Elisabeth Ranke verführt wurde. War's auch der Sohn – was liegt an einem solchen Mädel? Im schlimmsten Falle bezahlt man; der Sohn hatte schon viel Geld gekostet.

Aber daß der Sohn geprügelt worden war, das fiel dem alten Herrn auf die Nerven. Das war eben doch der Name Lohmann, der da in den Schmutz sank. Er hatte Balthassar angeschrien wegen der »unglaublich verwahrlosten Sicherheitszustände« im Dorfe und die schwerste gerichtliche Ahndung des Falles verlangt. Balthassar hat entgegnet, daß er die Täter ermittelt und zur Anzeige gebracht habe. Wenn die Bestrafung etwa doch nicht so arg ausfalle, so wolle Herr Lohmann bedenken, daß sich sein Sohn danach benommen habe.

Da hat Herr Lohmann Balthassar einen frechen Kerl genannt, und dieser hat zur Antwort gegeben, Herr Lohmann junior sei ein Lüdrian und Herr Lohmann senior ein schlapper Patron. Worauf sich beide Teile kündigten.

So stand es schlimm um die Stimmung auf dem »Schlosse«. Schlimm stand es auch um den jungen Lohmann. Die revoltierende Bande hat ihm das rechte Ellbogengelenk zerschlagen. Der zuerst gerufene Arzt war des schwierigen Falles nicht mächtig; der eintreffende Spezialist gab auf die Frage, ob der Arm lahm bleiben werde, keine Antwort.

Nachmittags ließ mich Werner Lohmann bitten, ihn zu besuchen. Ich ging nicht gerne, aber ich ging.

»Sie haben mich elend gemacht – die Halunken – mein rechter Arm ist zerschlagen.«

Ich sah ihn an und schwieg. Ich dachte: du hast Elisabeth Rankes Leben auch zerschlagen. Und ich sprach das wenigstens zur Hälfte aus:

»Herr Lohmann, ich hoffe, daß es wieder besser werden wird mit Ihnen und daß es auch mit Elisabeth Ranke noch einmal gut ablaufen wird.«

Er wurde doch ein wenig rot, aber er sprach nur von sich selbst.

»Wenn der Arm lahm bleibt, wenn ich erledigt bin für meine Kunst, bleibt mir nichts übrig als die Kugel.«

Darauf sagte ich zunächst gar nichts. Nach einer Weile meinte ich:

»Adolf Menzel malte mit der linken Hand so gut wie mit der rechten. Andere sollen es auch verstanden haben.«

Er lächelte bitter.

»Adolf Menzel! Ich bin ja nicht der Menzel!«

»Nein! Aber wenn Sie Willen haben, können Sie vieles erreichen. Vielleicht will Sie das Schicksal zu ernstem Willen erziehen.«

»Danke für Erziehung! Bitte fangen Sie nicht an zu predigen –«

»Gewiß nicht! Ich will auch wieder gehen.«

»Sind Sie beleidigt? Denken Sie doch an meine Schmerzen!«

»Ich bin nicht beleidigt. Ich bitte Sie bloß, daß Sie meinen Vorschlag wegen der Linkshändigkeit wenigstens erwägen.«

»So meinen Sie bestimmt, daß mein rechter Arm –«

»Ich meine gar nichts; ich weiß ja gar nicht, wie es um Sie steht –«

Wir plauderten noch ein wenig, dann ging ich. Ich traf den Professor aus der Hauptstadt, den ich von früher her kannte. Er vertraute mir an, daß er keine Hoffnung habe, Werner Lohmann wieder in den unverminderten Gebrauch seines rechten Armes bringen zu können.

Das teilte ich auch im Vertrauen Balthassar mit, ebenso Werners Vorsatz, sich zu erschießen, und meinen Vorschlag wegen der Linkshändigkeit. Balthassar sagte:

»Er wird sich nicht erschießen und er wird nicht mit der Linken malen lernen; er wird vollends verlumpen. Seine Malerei war noch das einzige, was ihn oben hielt.«

»Es ist schade um ihn. Schade um sein großes, schönes Talent.«

»Es ist um vieles schade,« brummte Balthasar.


Am selben Abend erhielt ich unerwarteten Besuch. Lohmann, der Vater, kam.

Er war ein wortkarger, kleiner Mann, etwas mürrisch, aber sonst von tadellosen Manieren. Nachdem er sein Kommen entschuldigt hatte, sagte er:

»Ich möchte mir erlauben, gleich auf den Kern der Sache zu kommen. Ich habe die Geschichte hier satt. Ich hasse dieses tölpelhafte, gemeine, rohe Volk; ich finde mich nicht zurecht mit ihm. Sie aber sind eigens aus Berlin hierhergezogen, wie ich vermute, zu volkspsychologischen Studien. Sie haben sich, wie ich gehört habe, für die Gemeinde interessiert. Auch für die Landwirtschaft. Ich mache Ihnen den Vorschlag: kaufen Sie mir mein Gut zu einem angemessenen, nicht teuren Preise ab!«

»Oha, Herr Lohmann, ein Gut kaufen, das ist für mich kein solcher Pappenstiel wie für Sie.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung.

»Die Hauptsache ist, ob Sie Interesse für das Geschäft haben. Über die Zahlungsbedinguungen würden wir uns leicht verständigen.«

Es ging ein Weilchen hin und her, und der Schluß war, daß mir Herr Lohmann einige Wochen Bedenkzeit gab.

»Sagen wir bis 30. September, abends 6 Uhr,« sagte er und schrieb das in einen kleinen Notizblock. »Binnen einer Woche erhalten Sie genaue Offerte.«

Als er fort war, kam eine Aufregung über mich, als ob ich schweren Wein getrunken hätte.

Rittergutsbesitzer sollte ich werden – Bauer im großen – ich, der ich voriges Jahr nicht die Gerste vom Hafer unterscheiden konnte und nicht wußte, ob eine Kuh im Jahre drei oder zwölf Kälber kriegt.

Timm fiel mir ein, der größenwahnsinnig gewordene Timm, der sich einbildete mit seinen schon in der Wurzel verdorrten Quartanerkenntnissen das Direktorat einer großen Schule übernehmen zu können. Das eine war sicher: Timm eignete sich immer noch besser zum Schuldirektor als ich zum Großgrundbesitzer.

Ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was so ein Gut kostet. Die Sturz lief mir über den Weg.

»Frau Sturz,« sagte ich, »Sie wissen ja vieles. Wissen Sie, wieviel Herr Lohmann für das Gut seinerzeit gegeben haben mag?« Sie sann ein wenig nach und sagte: »Ja, siebenundsiebzig Millionen hat er gegeben.«

Ich ging in mein Zimmer. 77 Millionen! Da kam ich mit meiner Finanzkraft ja gar nicht in Frage. Aber der Zweifel regte sich. Ich suchte die Sturz wieder auf, redete erst dies und das und fragte dann:

»Wissen Sie, wie groß das Gut ist?«

Sie sah mich neugierig an.

»Will es denn der Herr Hubertus kaufen?«

Wer schlaue Drache! Aber ich lachte.

»77 Millionen? Wo denken Sie hin? Die besitze ich nicht mal im Traum.«

Darauf die Sturz:

»Das Gut ist eintausend und achtzig Morgen groß, das weiß ich. Ich weiß von allen Gütern, wie groß sie sind. Dafür hat man seinen Kopp. Die ›Traube‹ hat 190 Morgen, der Hilmann hat 180 Morgen, die Brettschneide 102, der Grenzer 97, der Jeschke 96, der Hübner 87 –«

Eine endlose Litanei folgte – bis herunter zu den kleinen Stellenbesitzern, die 10, 8, 6 Morgen hatten.

»Und wie teuer ist denn hier zu Lande so ein Morgen?« fragte ich mit ganz gleichgültig klingender Stimme.

»Am meisten,« sagte die Sturz, »hat neulich der alte Kunze rausgeschlagen, wie er verkauft hat – 720 Mark hat er für den Morgen bekommen.«

Ich ging nach meinem Arbeitszimmer und multiplizierte 1080 mal 720. Ich verrechnete mich dreimal und kriegte dann heraus 777 600 Mark. Das waren also die 77 Millionen der Sturz. Ich rechnete immer wieder nach, ob ich nicht etwa eine Null übersehen hätte. Es waren nicht 77 Millionen, es waren nur dreiviertel Millionen.

Das ließ sich ja machen! Ließe sich machen! Erst war eine große Freude in mir; dann kam der Katzenjammer. Ein Mensch, der so wenig von der Landwirtschaft verstand wie ich, der eine Madame Sturz ausfragen mußte, um auch nur zu den grundlegendsten Ziffern zu kommen, der war ja ein Narr zum Verzweifeln, wenn er ein Gut kaufen wollte; dem saßen ja die Pleitegeier von vornherein auf beiden Schultern.

Timm, Timm, du bist ja gar nicht so verrückt, wenn du Schuldirektor werden willst; ich bin viel größenwahnsinniger als du, wenn ich Rittergutsbesitzer sein will.

Aber ich erinnerte mich vieler einsamer Träumereien dieses Sommers. Wie oft hatte ich einfache Landleute beneidet, die fröhlich und stark ihr Werk verrichten; wie oft hatte ich mich und mein träges, unnützes Leben verachtet! Und wie oft hatte ich Sehnsucht gehabt: wenn es mir doch gelingen mochte, in so gesunde Arbeit, in solche Daseinsheiterkeit hineinzuwachsen.

Vater Wald ist ein ernster Mahner und Erzieher. Alles bei ihm ist tätig: die Menschen mit der Axt, mit der Sense, mit der Hacke, die Menschen, die an ihren kleinen Häusern bauen, das Dach flicken, die Fenster neu verglasen, die Keller pflastern, den kleinen Blumengarten pflegen; der Stier, der morgens augenfunkelnd aufs Feld zieht und abends müde heimwankt; die Vögel, die Nester bauen, Futter tragen und ohne Ende singen; der Frosch im Teich, der auf dem Mückenanstand ist und am Abend sich noch zu einer Kantate verpflichtet fühlt; der Wurm im Holz, der sich geheime Gänge und verborgene Paläste baut.

Nur die Müßiggänger und die Blasierten duldet der Wald nicht. Eine Weile hegt er sie als ein königlicher Gastgeber für alle, dann schickt er sie fort. So Timm. So Werner Lohmann. So den alten Lohmann. So fast alle Sommerfrischler.

Wenn ich also so blinzelnd im Heidekraut lag, kam mir oft der tiefe Wunsch: könnte ich doch teilhaben an der Arbeit der Bauern, das Feld bestellen, auf daß es Früchte trage. Ich bin nicht leichtsinnig genug, das für einfach zu halten, die Arbeit des Landwirts so gering zu achten, daß jeder Kuhjunge, jeder Knecht sie begreift. Es gehört viel zu ihr: Unermüdlichkeit, Selbstaufopferung, tiefes Nachdenken, Studium, langjährige Erfahrung. Und auch dann noch wird es nicht immer glücken, wird oft auf den Versuch die Enttäuschung, auf den Fleiß der Fehlschlag, auf gute Hoffnung die Katastrophe folgen.

Mit solchen Gedanken verlebte ich eine ernste Nacht. Gegen Morgen war ich entschlossen, das Lohmannsche Gut zu kaufen, vorausgesetzt, daß zwei Menschen mir zustimmten: Erika Isenloh und Balthassar. Wenn eines von diesen zweien »Nein« sagte, wollte ich mein Haus verkaufen und mich zurückziehen in die Welt; denn ich wollte bei meinen jungen Jahren nicht länger ein müßiger Gast des Waldes sein. Dafür sah er mich zu ernst an aus seinen dunklen Augen.


Mittwoch. Timm war »fällig«. Mielchen hatte das Telegramm abgesandt, und nun galt es, nach der Klemmschen Konditorei aufzubrechen und trotz aller eigenen ernsten Angelegenheiten dieser Sache beizustehen.

In dem Wirrwarr der letzten Tage hatte ich wenig an Timm gedacht. Erst auf dem Wege nach der Stadt kam mir recht zum Bewußtsein, wie tragisch auch dieser Fall war. Ein so braves Mädel – das Mielchen – sitzt so vertrauensselig neben mir in dem Wäglein, das mit uns davon zottelt, hofft auf eine schöne Zukunft an der Seite des geliebten Mannes, und der – ist übergeschnappt. Glaubt, Schuldirektor werden zu können!

Eine Hoffnung hatte ich: es werde mit Timm nicht rettungslos stehen, ich würde vielleicht durch meinen Einfluß auf ihn, der immer stark war, noch eine Wendung zum Guten herbeiführen können.

Unterwegs wurde das Mielchen ganz kleinlaut. Meine bedenkliche Stimmung steckte an. Dann fing sie gar zu weinen an.

»O Gott, Sie glauben es ja nicht, daß er die Wahrheit gesagt hat. Sie glauben, er lügt.«

Macht mal was mit so einem schluchzenden, jungen Menschenkinde! Alle Weisheit und Logik versinkt wie ein Stein im Dorfteich.

»Müssen halt abwarten. Mielchen. Muß sich ja doch aufklären.«

Das war alles, was ich dem flennenden Mädchen zu sagen wußte. Der Wald am Wege schwang seine Ruten. Ob er grüßen oder peitschen wollte, wußte ich nicht. Im Gebüsch lachte eine wilde Taube.

Ich ließ das Mielchen in einer »Ausspannung« der Vorstadt und ging allein nach Klemms Konditorei. Eine kleine Bude. Vorn ein Ladentisch mit allerhand süßer Auslage, hinten eine dämmerige Stube, die der »Lesesalon« heißt.

Dort saß Timm. Ich beobachtete ihn von der Tür aus. Er las in einer großen Zeitung. »Figaro« – das französische Weltblatt. Ich wußte, daß Timm einige Brocken Französisch verstand; aber den »Figaro« konnte er sicher nicht lesen. Er tat aber so, als ob er ihn läse. Ob er damit dem bedienenden Konditoreimädel imponieren wollte oder seiner erwarteten Braut, wußte ich nicht. Jedenfalls – er war verrückt. Ich beschloß, ihm mit jener vorsichtigen Nachgiebigkeit, die man Irrsinnigen gegenüber anwendet, entgegenzutreten.

Da sah er auf, erblickte mich ... starrte mit den Augen ... sprang dann auf, machte eine Verneigung und stammelte:

»Der gnädige Herr ... welch eine Überraschung!«

Ich gab ihm die Hand.

»Ja, lieber Timm. Ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es denn?«

»Gut geht's, gnädiger Herr ... gut ... ich mache augenblicklich Platz!«

»I woher, Timm. Da setzen Sie sich mal wieder hin. Wir müssen miteinander sprechen. Ich komme im Auftrag von Fräulein Emilie. Da ich gerade nach der Stadt fuhr, da hat sie mich gebeten, Sie doch mal zu sprechen, wie sich das nun alles in Zukunft mit Ihnen gestalten soll.«

»Der gnädige Herr geben sich mit sowas ab?«

»Warum nicht, lieber Timm? Also wollen wir mal ganz ruhig mit einander reden.«

Ich ging gleich auf das Ziel los.

»Sie wollen an eine Schule, Timm?«

Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Jetzt mußte es kommen. Jetzt mußte ich klar sehen, ob mein armer Timm wirklich größenwahnsinnig war und ich die Traubentochter vor schwerem Unglück behüten mußte. Weiß der Himmel, wie einem der Wald das Behüteramt aufdrängt. Früher wäre mir so etwas nie eingefallen; jetzt mußte ich einfach.

Timm begann zu stottern.

»Hat sie Ihnen – hat sie Ihnen etwa mein Telegramm gezeigt?«

»Ja, Timm; sie hat es mir gezeigt.«

Da schlug er die Hände vors Gesicht.

»O Gott, was werden sich der gnädige Herr gedacht haben!«

»Timm! Zunächst bin ich nicht mehr der gnädige Herr für Sie, sondern einfach Herr Hubertus. Und dann – Sie wissen wohl, daß ich's gut zu Ihnen meine.«

Da raffte sich Timm stramm empor.

»Ja, geschwindelt habe ich nicht. Ich soll wirklich Direktor von einer Schule werden. Allerdings nur von einer sogenannten Dienerschule. Von so einem Privatunternehmen. Es werden da intelligente junge Leute aufgenommen, die die Dienerlaufbahn einschlagen wollen. Lernen alles Zugehörende, vom Parkettwichsen und der Pflege des Schuhwerks und der Kleider an bis zum Empfang von Herrschaften und bis zum Servieren bei großen Diners. Auch ein bißchen Sprachen, daß sie eine Rotweinmarke oder eine französische Speisekarte richtig ablesen können.«

»Also eine Dienerschule?«

Ich lacht nicht; ich atmete tief aus. Timm war nicht verrückt, er war vernünftig.

»Ja, eine Dienerschule. Es handelt sich in meinem Fall um ein reelles, altes, gut renommiertes Institut. Die jungen Leute – wenn sie ausgebildet sind, bekommen von da aus leicht eine Anstellung. Sie bezahlen Schulgelder; die Stellenvermittelung bringt auch recht guten Gewinn. Der gegenwärtige Inhaber ist alt, und da er seinen Sohn verloren hat, will er sein Institut verkaufen. Ein bißchen Geld ist notwendig; aber wenn die Sache vernünftig angefaßt wird, nährt sie ihren Mann reichlich.«

»Das freut mich, Timm. Ich bin überzeugt, daß Sie alles, was zu den Kenntnissen und Fertigkeiten eines herrschaftlichen Dieners gehört, von Grund auf verstehen. Und den Direktor werden Sie auch darzustellen wissen.«

Timm errötete über dieses Lob; ich hatte ihn früher nie gelobt. Ganz demütig fragte er mich, ob ich mir wohl die Zeit nähme, einmal den Kaufvertrag mit ihm durchzusehen. Seine Ersparnisse langten nicht; er müsse etwas von dem Vermögen seiner Braut mit ins Geschäft stecken, und es solle doch da alles sicher und reell zugehen.

Da kam ich auf den Gedanken, Timm zu empfehlen, seine zukünftige Frau als Geschäftsteilhaberin aufzunehmen.

»Sehen Sie, Timm; ich glaube, Ihre zukünftige Frau ist ein kluges und umsichtiges Menschenkind. Es ist auf alle Fälle gut, wenn sie bei der Sache mitzureden hat, zumal sie ihr Geld dazu geben soll.«

Er war ohne weiteres einverstanden. Bei allen Geldausgaben, sagte er, solle das Mielchen mitzureden haben; bloß in der Schule selbst, so bei dem Autoritativen und Repräsentativen –

»Da sind natürlich Sie allein der Ausschlaggebende als Direktor.« –

Das Mielchen kam. Ich ließ die beiden auf zehn Minuten allein in der Hinterstube und beschäftigte inzwischen die Ladenmamsell, indem ich ein ganzes Paket Süßigkeiten einhandelte.

Als ich in den »Lesesalon« zurückkehrte, fand ich dort zwei glückselige Menschen.

Gegen Abend fuhr Timm nach Berlin zurück und das Mielchen mit mir heim. Der Wald sah uns freundlich an wie Kinder, die ihre Sache gut gemacht haben. Und wieder lachte eine wilde Taube.


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