Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Achtes Kapitel.

Schwere Nacht.

Timm begegnete mir. Ich sagte ihm, er möge mir trockene Kleider nach dem Dominium bringen.

Das war eine Wohltat, deren ich dringend bedürftig war. Herr Balthassar suchte sie zu verstärken.

»Erst jeder drei Grogs und dann jeder eine Flasche Portwein, da wird uns wieder warm werden!« Ich begnügte mich mit einem Teil dieser Atzung.

Der alte Krügel war gebracht und in eine warme Stube gesperrt worden. Nun saß ich mit Balthassar in seinem Arbeitszimmer, das, mit plumpem Geschmack ausgestattet, aber doch gemütlich war.

»Nun sagen Sie mir, bitte, Ihre Meinung,« sagte mein Wirt. »Sie sind ja ein viel gelehrteres Menschenkind als ich. Vier Exemplare kommen als Brandstifter in Frage: der alte Krügel, sein Weib, die Bianka oder der Emil.«

»Es kann auch der Blitz oder ein anderer Mensch gewesen sein,« ergänzte ich. »Nennen wir diesen Unbekannten X.«

»Mir machen Sie Kein X für ein U! Lenken Sie mich nicht ab! Welcher von den vier genannten Personen trauen Sie es am meisten zu?«

»Der alte Krügel scheidet, glaube ich, ganz aus, ebenso Emil Bönisch.«

»Man kann nichts wissen, ehe es nicht erwiesen ist,« bemerkte Balthassar weise. »Übrigens, ehe ich mich weiter in den Portwein vertiefe, werde ich die alte Krügeln vernehmen, die ich ja auch hier auf dem Dominium eingesperrt habe. Es ist zwar Nacht, aber ich schere mich in solchen Fällen nicht um die Visitenstunde. Ehe eine ordentliche gerichtliche Untersuchung erfolgt, können Tage vergehen. Inzwischen hat sich ein solch abgefeimtes Individium tausend Schwindeleien ausgedacht. Frisch auf der Tat erwischen und gleich ins Kreuzverhör nehmen, daß die Bande aus lauter Verblüffung und Verlegenheit die Wahrheit sagt, das ist der ganze Kern der Jurisprudenz. Habe ich da nicht recht?«

»Sicher!«

»Ja, über ich möchte nicht gern, daß Sie diesmal dabei sind. Es fehlt Ihnen die amtliche Ermächtigung dazu.«

»Dann werde ich jetzt nach Hause gehen.«

Er sah mich treuherzig an.

»Das werden Sie mir nicht antun. Ich bin Amtsvorsteher, nicht Sie. Ich muß es machen. Und wenn jemand dabei ist, vor dem ich mich ein wenig geniere, dann – dann kann ich nicht so aus mir herausgehen; da kann ich mich nicht so entfalten. Und wie man mit den Leuten hier umgeht und redet, das weiß ich.«

»Schön, Herr Balthassar, entfalten Sie sich. Verhören Sie die Krügeln allein! Ich werde inzwischen mit Ihrer Erlaubnis hier warten und noch ein Glas Wein trinken.«

Er schlug mich auf die Schulter.

»Das ist famos von Ihnen, daß Sie nicht übelnehmerisch sind. Ich werde mich bei der alten Dame nicht unnütz lange verweilen und Ihnen dann alles erzählen. Ich glaube damit das Amtsgeheimnis nicht zu verletzen; denn ich brauche in diesem Falle guten Rat, und den kann ich mir nur bei Ihnen holen.«

Er ging. Ich saß allein vor meinem Glase Wein. Allmählich ebbte die Erregung in mir ab, und ich konnte die Ereignisse des Abends kritisch betrachten. Wo hätte man in der Großstadt so merkwürdige, aufregende Dinge erleben können? Im Kino! Sonst nirgends. So seltsam es klingt – die Großstadtleute wohnen zu weit von einander weg. In der Großstadt ist es weiter von der einen Entreetür zur anderen als von meinem Waldhause hinüber über das weite Tal zur Moorhütte. Wenn mich jemand in der Großstadt nach den Bewohnern meines Nachbarhauses gefragt hätte, ich hätte sie nicht gekannt. Hier kannte ich jeden Menschen, und das Schicksal jedes Einzelnen ging mich unmittelbar etwas an. Es wäre unerhört gewesen, an irgendwelchen Ereignissen nicht persönlich Anteil zu nehmen.

Der Wald! Der Vater aller, die bei ihm wohnen!

Und dann die Primitivität und Urgewalt der hier zutage tretenden menschlichen Leidenschaften, die gar keine Hemmungen kennen, die fast kindhaft mit Gedeih und Verderben, mit Tod und Teufel spielen.

Ich trat ans Fenster. Es regnete nicht mehr; der Mond erhellte matt den Himmel, und der Sturm schleuderte große Wolkenballen gen Norden gegen eine dunkle Wand, als ob er eine finstere Festung bombardiere.

Da fielen mir Emil Bönisch und Bianka ein. Wo waren die? Kein Mensch hatte sie gesehen. Der alte Brettschneider hatte umsonst nach seinem Sohne gerufen, als das heimische Gehöft in Flammen stand, und von dem Mädel hatte auch niemand etwas erfahren.

Wo waren die zwei? Und in welcher Verbindung standen sie zu dem Unglück?

Es währte etwa eine halbe Stunde, bis Balthassar zurückkam.

»Wissen Sie, was die Alte sagt? Krügel hat angezündet!«

»Die Frau beschuldigt den Mann?«

»Ja! Der Mann beschuldigt das Weib, das Weib den Mann. Es ist greulich – aber es ist so. Sie sagt: Er hat eine Wut gehabt auf den Brettschneider wegen der Kündigung; er hat neuen Schnaps haben wollen, obwohl er schon betrunken war. Der Emil sei auf Besuch gewesen und habe Krügel zwei Mark geschenkt. Mit dem Gelde sei er nach dem Gasthause hinunter. Sie sei schließlich dem Krügel nachgegangen, damit er nicht unterwegs liegen bleibe; da sei eben unten das Feuer aufgegangen. Dann habe sie Krügel getroffen, und er habe gesagt: ›Dem habe ich es gegeben!‹«

»Das ist scheußlich. Aber es klingt mir ganz unwahrscheinlich. Wie haben Sie denn das aus der Alten herausgebracht?«

»Ich habe ihr alles auf den Kopf gesagt.«

»Was?«

»Nun alles, was der Krügel vorhin erzählt hat.«

»Ah, Sie haben der Alten das ganze Verhör mit Krügel mitgeteilt?«

»Ja, natürlich. Sollte ich etwa nicht?«

»Gewiß nicht. Da ließen Sie ja die Alte in unsere Karten gucken; da hätten Sie ja Krügels Verhör gleich in ihrer Gegenwart anstellen können.«

Balthassar stürzte ein Glas Portwein hinunter.

»Der Teufel soll diese Verhöre holen. Bin ich dazu da, mitten in der Nacht den Untersuchungsrichter zu spielen oder einen Detektiv abzugeben? Ich wollte der Alten damit imponieren, daß ich alles wisse. Wie konnte ich ahnen, daß die Hexe den Spieß umdreht? Übrigens ist absolut nicht erwiesen, wer hier schwindelt, der Mann oder das Weib. Nettes Ehepaar, wo eines das andere ins Zuchthaus zu bringen sucht.«

»Ja, ich hätte so abgrundtiefen Sumpf in einem friedlichen Waldtal nicht vermutet. Übrigens, während Sie fort waren, ist mir eine äußerst wichtige Frage eingefallen: Wo sind Emil und Bianka?«

Balthassar starrte mich an.

»Emil und Bianka? Ja richtig: wo sind die?«

»Wir haben uns unter dem Eindruck der Ereignisse unten am Feuer zunächst nur auf die beiden Alten gestürzt, ohne uns um die beiden Jungen zu kümmern. Und die sind ebenso wichtig. Deren Verhör allein könnte Auskunft verschaffen, wer von den beiden Alten die Wahrheit spricht: der Mann oder die Frau.«

»Wo sind sie? Wo sind sie?« fragte Balthassar und zerkratzte sich den Bart.

»Wenn Krügel die Wahrheit gesagt hat, so ist die Bianka nach der ›Traube‹ gegangen und Emil Bönisch hat auf eine Andeutung der Alten hin Verdacht geschöpft, daß sie zum jungen Hilmann sei und ist ihr nachgelaufen.«

»Ich hab's!« rief Balthassar. »Wir müssen zunächst in der ›Traube‹ nachfragen, ob die Bianka dort war, und dann müssen wir den jungen Hilmann vernehmen – und zwar bald.«

Wir verließen das Haus und patschten wieder durch die Schneelachen. Das Rauschen der vom Frühlingssturm gepeitschten Wälder füllte das dunkle Tal. In der »Traube« schlief alles. Es dauerte lange, ehe uns geöffnet wurde. Mielchen und Malchen hatten erst beide sorgfältig Toilette gemacht, vielleicht sich erst frisch frisiert, ehe sie uns die Tür öffneten, und sagten, daß die Bianka nicht in der »Traube« gewesen sei.

»Da brauchtet ihr uns doch nicht hier eine halbe Stunde lang in diesem Sauwetter stehen zu lassen; das konntet ihr uns doch vom Kammerfenster herunter sagen!« grollte Balthassar.

Sie schnitten beide ganz dasselbe entrüstete Gesicht, sagten gleichzeitig »Wie konnten wir denn?« und verriegelten die Tür.

»Gar keine heirat' ich von den beiden Zimperliesen!« brummte Balthassar in tiefer Verdrossenheit.

Nun gingen wir zu Hilmanns Gehöft. Dort wurden wir schon nach zehn Minuten eingelassen. Der alte Hilmann kam, seine Frau, der junge Hilmann und sechs oder sieben jüngere Geschwister, dazu zwei Knechte und eine Magd. Ich sagte leise zu Balthassar:

»Schicken Sie die überflüssigen Leute weg; verhören Sie den jungen Hilmann allein.«

Diesen Rat befolgte er. Er kommandierte:

»Alles geht hinaus! Wehe, wer nicht sofort wieder lns Nest kriecht! Nur der Heinrich Hilmann bleibt hier.«

Jeder Widerstand war ausgeschlossen.

Wir blieben mit dem jungen Manne allein. »Hilmann,« begann Balthassar; »es ist orts-, ja weltbekannt, daß Sie mit der Bianka ein Getue haben. Also beantworten Sie mir eine Frage, die ich amtlich an Sie richte: Waren Sie diesen Abend mit Bianka zusammen?«

»Nein!«

»Hilmann schwindeln Sie nicht. Ich weiß es besser. Wann kam das Mädel zu Ihnen?«

»Gar nicht!«

»Tür auf. Alle Leute wieder herein! Herunter von der Treppe! Seid ihr alle da? Dann paßt auf! Ich mach' euch darauf aufmerksam, daß ihr unter Umständen Anspruch aufs Zuchthaus habt, daß in ernsten Dingen nicht gefackelt wird und daß also hier jeder die unverfälschte Wahrheit zu sagen hat. Wer von euch hat am letzten Abend die Bianka aus der Moorhütte gesehen, gehört oder auch nur gewittert?«

Niemand. Balthassar schimpfte, drohte, »verhörte« noch einige Zeit, aber es kam nichts dabei heraus. Als wir endlich wieder auf der Straße standen, sagte er:

»Was nun? Ich glaube, das einzig Vernünftige, was wir in der ganzen mysteriösen Angelegenheit jetzt noch tun können, ist: daß wir schlafen gehen.«

»Oder« – warf ich ein – »daß wir noch einmal nach der Brettschneide gehen und nachsehen, ob der Emil doch inzwischen zurückgekommen ist.«

»Richtig, das wollen wir tun! Und dann nach oben nach der Moorhütte, ob die Bianka da ist. Oder macht Ihnen das zu viel?«

»Bewahre! Ich bin viel zu aufgeregt, als daß ich jetzt schlafen könnte.«

»Also los. Ich müßte eigentlich den Amtsdiener mitnehmen, aber der ist ein zu dämlicher Kerl; Sie können ihn vertreten.«

In der Brettschneide stand die Feuerwehr an der verglimmenden Brandstätte. Wir gingen nach der großen Stube des Wohnhauses. Die Petroleumlampe hing von der Holzdecke herab; am Tisch saß der Brettschneider, und vor ihm stand ein kleiner Holzkasten.

Der Alte rührte sich nicht als wir eintraten; er sah nicht einmal auf.

»Bönisch,« sagte Balthassar, »wenn ich jetzt in Ihre Stube trete, so komme ich nicht als Gutsinspektor, so komme ich als Polizeiperson. Ich muß Sie fragen, ob Ihr Sohn Emil inzwischen zurückgekommen ist.«

»Emil! – Emil!« lallte der Brettschneider geistesabwesend.

»Ist er da? Ist er nun zurück?«

Da fuhr der Alte mit dem Kopf herum.

»Was wollen Sie eigentlich?«

»Wir fragen, ob Ihr Sohn Emil nun zurück ist?«

»Der?« krächzte der Alte. »Der kommt nicht mehr wieder.«

»Wieso denn nicht?«

Der Brettschneider antwortete uns nicht. Er sprach mit sich selbst.

»Achttausend Taler – achttausend Taler –«

Das wiederholte er wohl an die zehnmal.

Ich winkte Balthassar, und er verstand mich. Wir setzten uns auf die Holzbank, die rund um die Stubenwand lief, und beobachteten den Alten. »Achttausend Taler – alle Bücher – alle! Alles weg! Alles weg!«

Der Sturm blies durch die geschlossenen Fenster hindurch. Die Lampe blakte.

»Nichts mir gelassen! Nichts dem alten Vater!«

»Der Sohn hat ihn bestohlen!« flüsterte ich Balthassar zu.

»Ach, Henriette, wenn du das wüßtest – von unserem Emil – von unserem einzigen Kinde –«

Jetzt weinte der Alte bitterlich.

»Er spricht von seiner toten Frau !« flüsterte Balthassar. »Kommen Sie, das halte ich nicht aus!«

Wir erhoben uns und schlichen auf den Zehenspitzen der Tür zu. Da sprang der Brettschneider auf.

»Warum lauft ihr denn fort? Ihr könnt es wissen – der Emil hat mir alles gestohlen und die Brettschneide angezündet –«

»Bönisch,« sagt Balthassar in mildem Ton, »wir sind bis jetzt Gegner gewesen; aber nun möchte ich Ihnen helfen. Bönisch, beruhigen Sie sich. Wenn Ihnen was gestohlen worden ist, braucht es doch nicht Ihr Emil gewesen zu sein. So was tut doch Ihr Emil nicht!«

»Er hat's getan! Er hat ja ganz allein gewußt, daß das Kästel in der Brettschneide versteckt war, und er hat ja den Schlüssel gehabt, den zweiten Schlüssel.«

»Ist es dieser Kasten?«

Der Alte nickte.

»Ich betrachtete den Kasten, der etwa ein halbes Meter lang und zwanzig Zentimeter hoch war. Das Schloß war unversehrt; an dem Kasten war keinerlei Beschädigung. »In der Brettschneide war der Kasten versteckt?«

»Ja, unter dem Fußboden.«

Der Alte beantwortete diese und die folgenden Fragen wie in willenlosem Zustand.

»Und außer Ihnen wußte nur Emil davon?«

»Sonst niemand!«

»Hatte er einen Schlüssel?«

»Ich hatte einen; er hatte einen!«

»Wieviel Geld war in dem Kasten?«

»Achttausend Taler.«

»In Sparkassenbüchern?«

»Das meiste war Papiergeld.«

»Und alles ist fort?«

»Alles. Nichts hat er dem alten Vater gelassen.«

»Haben Sie den Diebstahl erst jetzt bemerkt?«

»Bald! Wie die Säge brannte, hab' ich den Kasten geholt. Er war leer. Da hab' ich ja alles gewußt. Und ich hab' den Emil gesucht. Aber der Emil ist nicht da. Er hat das Geld genommen, er hat die Brettschneide angezündet wegen dem verfluchten Balg.«

Gebrochen sank der alte Sägemüller auf einen Stuhl und fing wieder auf kläglichste Weise an zu weinen. Balthassar wartete ein Weilchen; dann sagte er:

»Bönisch, ich kann es immer noch nicht glauben. Aber den Kasten da, den muß ich mitnehmen. Auf den muß ich Beschlag legen. Das ist meine Pflicht!«

»Nehmt ihn! Nehmt ihn! Es ist ja nichts mehr drin! Nun ist alles egal. Das Geld ist hin, die Säge ist hin, der Emil ist hin! Ich nehme einen Strick und häng' mich auf. Morgen – morgen bin ich längst tot!«

Stille in der Stube. Balthassar sah mich an. Ich flüsterte ihm ins Ohr: Den dürfen wir nicht allein lassen. Ich will hinunter ins Dorf, will sehen, daß der Kantor und Fräulein Isenloh hierherkommen. Bleiben Sie hier!«

Er nickte und ich eilte hinab zur Schule. Es war Licht in dem einen Zimmer. Dort saßen der Kantor, seine Frau und Erika. Sie sagten, sie könnten nicht schlafen in dieser furchtbaren Nacht. Auch unterwegs hatte ich manches Fenster erhellt gesehen. Dort lag ein Kranker, dem der Schreck den Zustand verschlechtert hatte, sodaß seine Verwandten bei ihm wachen mußten; dort schrie ein Säugling, der die Aufregung der Nacht aus der Mutterbrust gesogen hatte; dort und dort lebten furchtsame Leute, die meinten, Brandleger seien im Tal, man müsse auf der Hut sein, zumal in Brandnächten überall gestohlen werde; dort oder dort war ein furchtsames Menschenkind, dem in dieser schweren Nacht nicht wohl war ohne Licht.

Wir alle sind Kinder des Lichtes. Es gibt keine Menschenseele, die ohne Furcht ist im Finstern.

Die Großstadt – ach, die Großstadt! Da guckt einer aus dem Fenster über die Straße, weil dort ein Leichenwagen vorfährt, und fragt sein Dienstmädel: »Wer ist denn da drüben gestorben?« Dieses zuckt die Achseln und weiß es auch nicht. Und wenn im Südviertel ein Feuer ausbricht, erfahren die Leute im Ostviertel davon – durch die Zeitung. Hier im Walde ging das Schicksal der Brettschneide einen wie den anderen an; hier mußten wir alle mittun.

Der Kantor und Erika begleiteten mich und versprachen, bis zum Anbruch des Tages bei dem Brettschneider zu bleiben. »Es ist nur für das erste,« sagte ich zu Erika, »daß er eben über die schlimmste Verwirrung wegkommt.«

Das Mädchen war sehr ernst. Ich merkte, daß sie immer noch von den Skrupeln befangen war, unser unschuldiges Rodelvergnügen habe die Katastrophe herbeigeführt. Aber sie sprach nicht davon. –

Mit Balthassar brach ich alsbald zur Moorhütte auf. Sie lag ganz dunkel; aber die Haustür stand offen. Wir tappten in die Wohnstube und zündeten die Lampe an. Da standen Kaffeetassen auf dem Tisch, und auf dem Fensterbrett lagen die Wahrsagekarten; daneben stand eine unerhellte Laterne. Schließlich suchten wir das ganze kleine Haus ab; es war niemand darin.

»Der Balg ist fort!« sagte Balthassar. »Jedenfalls ist sie mit Emil durchgegangen. Es wird mir jetzt klar. Emil hat seinem Alten das Geld gestohlen, hat dann die Brettschneide angezündet, um den Diebstahl zu verdecken, und ist mit der schwarzen Bestie auf und davon.«

»Ja, so scheint es!« pflichtete ich bei. »Der Bursche muß eine unsinnige Leidenschaft zu dem Mädel gehabt haben.«

»Verrückt ist er! Total verrückt! Nun, sie werden nicht weit laufen. Sobald es Tag wird, fahre ich nach der Stadt und mache der Staatsanwaltschaft Meldung. Jetzt wollen wir endlich schlafen gehen.«

Während wir noch versuchten, die Haustür zu schließen, kam ein schwarzes Tier heran. Ein Hund. Er schlug ein winselndes Gebell an und war in größter Aufregung. Balthassar beleuchtete den Hund mit seiner Laterne und sagte: »Der Köter vom allen Krügel. Ich kenne das Vieh. Er sucht wohl die Alten.«

Der Hund heulte, winselte, bellte. Er lief immer ein Stückchen den Berg hinunter, kam keuchend zu uns zurück, winselte aufs neue und jagte wieder von dannen.

»Was hat das Vieh? Es ist, als ob es uns auf etwas aufmerksam machen wollte. Wir wollen ihm mal nachgehen.«

Der Hund raste bis zur Erschöpfung hin und her. Etwa ein Dritteil des Weges den Berg hinab blieb er stehen und lief winselnd links in den Wald hinein.

»Nachgehen!« sagte Balthassar. »Vorsicht! Es ist viel niedriges Gestrüpp und Wurzelzeug hier.«

Er beleuchtete den Erdboden. Langsam machten wir uns Bahn.

»Wie der Hund heult! Jetzt ist er wieder stehen geblieben.«

Wir gingen noch ein Stückchen.

Da stieß ich auf das schrecklichste Bild, das ich in meinem Leben sah.

Von dem Hunde war aus einer Schneewehe ein weiblicher Leichnam halb ausgescharrt worden.

Bianka!

Die Stirn war ihr zertrümmert.

»Bianka!« stammelte Balthassar. »Sie ist tot. Gott sei ihr gnädig!«

Ich brachte kein Wort heraus.

Wir zwei Männer standen eine ganze Weile, ohne uns zu regen. Der Hund winselte schmerzlich und leckte die Hand des toten Mädchens. Die Laterne beleuchtete ihren entsetzlich entstellten Kopf.

»Wir müssen etwas tun. Was sollen wir tun?« »Ich weiß es nicht!«

Mir wurde übel. Ich mußte mich an einen Baum lehnen.

»Bleiben Sie hier! Halten Sie mit dem Hunde Wache. Ich springe ins Dorf und hole Leute.«

Er eilte davon mit seiner Laterne; ich blieb im Dunkeln allein mit der Toten und mit dem Hunde. Es fiel mir ein, es wäre Balthassars Sache gewesen, hier Wache zu stehen und mich ins Dorf zu schicken. Ich konnte es nicht ändern; ich mußte nun hierbleiben im nächtlichen Wald bei der Ermordeten.

Erst schloß ich die Augen. Aber da wurde es schlimm. Es wurde mir sterbensübel. Ich hatte das Gefühl, ich würde umsinken im Schnee.

Willen mußte ich haben. Das allein konnte mir helfen. Ich riß die Augen auf und starrte die Leiche an. Im fahlen Mondlicht sah ich die zertrümmerte Stirn, das blutüberronnene Gesicht.

Nun, es war eine Tote, eine unglückliche Ermordete! Es war ja kein Gespenst! Was gab es da zu fürchten? Ich würde mal näher gehen und mir die Leiche genau ansehen. Vielleicht daß ich etwas entdeckte.

Ich tat es. Es war merkwürdig – ich fühlte meine Beine nicht, als ich die paar Schritte machte. Es war, als seien sie abgestorben. Und als ich einmal die Arme im Kreise drehte, erschrak ich ordentlich, daß ich das fertig brachte hier in diesem Zauberbann des Grausens und des Todes.

Die Frage: wer denn das hier getan haben könne, kam mir nicht. Dazu war mein Hirn zu erstarrt. Willen haben! Hingehen! Es ist ja doch nichts außer der Natur. Ich war nun bei der Leiche und beugte mich über sie. Da knurrte der Hund bösartig und schnappte nach mir.

So ging ich nach meinem Baum zurück. Nun kam mir der Hund nach und beleckte meine Knie.

Der Sturm heulte immer noch durch den Wald. Große Fetzen wässerigen Schnees fielen klatschend von den Bäumen; hier und da krachte ein Ast.

Schwarze Bianka, nun bist du tot. Hast kein gutes Leben gehabt. Bei den Komödianten geboren. Die Landstraße war deine Heimat. Dann ist die Mutter gestorben. Hat dir nichts vererbt als ihr wildes Blut und Erinnerungsbilder der Art, die nicht gut für ein Kind sind. Und dann kamst du zu der Hexe. Da wurde es noch schlimmer. Deiner taumelnden, heißen Seele hat niemand geholfen. Sie haben deinen Leib begehrt und deine Seele verachtet, haben dich immer noch ein Stückchen weiter dem Verderben zugeschoben. Und da bist du so hineingeraten. Nicht ohne eigene Schuld. Aber auch durch furchtbares Verhängnis. Wird keiner hier auf Erden beurteilen können, was nun in Wahrheit der Kern deines Wesens war. Wird ein anderer tun müssen, der Bescheid weiß im Sonnenlicht und in der Nacht, in der Blüte und in der Fäulnis.

Wenn ich jetzt ein Priester wäre und nach meinem Herzen handeln könnte, würde ich die Hand heben und dich lossprechen von all deinen Sünden. Ich bin kein Priester, und es ist zu spät. Aber das weiß ich, daß Gott barmherziger ist als ich und als alle Menschen.

Nun fällt mir ein: die alte Großmutter hat gesagt, daß die Bianka ermordet werden wird, noch ehe ein Jahr vergeht. Sie hat es mir aus den Linien der Hand erklärt. Das alte Weib kann doch gut prophezeien. Sie soll oftmals Todesfälle vorhergesagt haben. Vielleicht steckt ihr der alte Luzifer ein Licht an. Was weiß ich?

Wenn nur der Hund nicht so jammervoll winselte! Wie erklärt sich sein Schmerz? Ist er das einzige lebende Wesen auf Erden, das um die Bianka klagt und trauert? Warum? Weil er ein Hund ist, der nichts von Moral weiß, der sich nur erinnert: dieses Mädchen hat mir manchmal einen Knochen gegeben. Heult er nur wegen des Knochens? Glaubt er, nun bekomme er keinen mehr? O, so dumm ist er ja nicht. Er erinnert sich in Dankbarkeit, daß die Bianka Gutes tun konnte. Sie konnte Knochen verschenken und einem armen Köter eine Suppe kochen und ihn manchmal streicheln. Und daher sollte sie nicht sterben – nicht so sterben. Daher klagt dieser Hund, daher ruft er Menschen zu Hilfe oder zur Rache herbei.

Jawohl, alter Vierbeiner, ich will nicht weniger sein als du; ich will bei deiner Herrin Wache halten und nicht auf sie schelten.

Wenn ich auch auf sie schelten wollte – sie ist mir zu stumm; sie kann sich doch nicht mehr verteidigen. Muß also alles Gott befohlen sein!

Wie man fromm wird im dunklen Walde! Aber bei Leichen werden alle Menschen ein wenig fromm. Weil dann ihre Kunst zu Ende ist; weil ihr Kopf an eine furchtbare Mauer stößt, an der sie nicht weiter können.

Freilich – die Menschen schütteln die »Anwandlung« bald von sich, vergessen »den Fall«, kehren ins Leben zurück, wo sie sich Rat wissen, stolpern aber immer wieder dem nächsten »Fall« entgegen. Bis sie selber am Ende sind. Dann, wenn sie sich selbst und wenn ihnen andere nicht mehr helfen können, dann kommt der liebe Gott an die Reihe. Weiß nicht, was er dazu sagt.

Jetzt fängt es an in Strömen zu regnen. Ich schaue auf die Leiche. Der wird vom Regen alles Blut vom Gesicht gewaschen. Ganz nahe gehe ich wieder hin. Der Regen wäscht die blauschwarzen Stirnhaare der Bianka hin und her, der Wind spielt mit ihnen, mit dem seidenen Gelock über der Todeswunde. Der Hund legt sich winselnd über die junge Frau, deckt sie zu mit seinem Leibe. Ich reiße den Mantel von den Schultern und breitete ihn über beide.

Bald darauf blitzt Laternenlicht auf. Männerstimmen erschallen. Ich sage nur noch zu Balthassar: »Es hat sich hier nichts ereignet!« und renne dann nach Hause.

In meinem Bett friert mich erbärmlich. Die alte Mathilde muß kommen, die Dienerin und Freundin meiner toten Mutter. Sie bringt mir Tee. Dann setzt sie sich mit einem Strickstrumpf in einen Stuhl meinem Bett gegenüber.

Da kommt eine große Ruhe über mich.


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