Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Zehntes Kapitel.

Frühlingszeit. – Timms Bildnis. – Allerhand Bedenknisse. – Balthassar und Timm auf dem Heiratsmarkte. – Von gefangenen Waldbewohnern. – Mai.

Das war doch eine schöne Frühlingszeit im frischen Waldtal. Wenn die Sonne aufging, stand ich schon im Garten, begoß die jungen Gemüsepflanzen, sah zu, wie die Buschbohnen aus der Erde brachen, wie die Radieschen aufkeimten, wie ein Baum nach dem andern grüne Blättlein bekam.

Ich fing an, rasch zu »verbauern«. Ich war viel neugieriger darauf, wieviel Eier die Hennen gelegt haben würden, als darauf, was etwa irgend ein Abgeordneter im Parlamente für Weisheit verspritzt hatte. Mit den Hunden trieb ich Allotria und war immer dabei, wenn die Sturz unsere jungen Gänschen, die über Nacht in mit Federn gefüllten Töpfen beim Küchenofen schliefen, in den Sonnenschein des Hofes herausbrachte.

Auch drei Bienenstöcke habe ich angeschafft. Seit der Zeit geht Timm nicht mehr in den Garten. Es ist aber auch, als ob es die Bienen auf Timm besonders abgesehen hätten. Er hat schon zweimal eine dicke Backe und einmal eine furchtbar geschwollene Nase gehabt. Wenn so etwas geschieht, ist das ein Festtag für die Sturz, deren Schadenfreude gegen Timm unmenschlich ist.

Die Frühlingsluft macht sehr müde. Wenn ich drei Morgenstunden im Freien gewesen bin und mich dann zur Zeitung setze, schlafe ich fast regelmäßig dabei ein.

Ich gehe viel spazieren. Zu tun habe ich ja nichts. Mich jetzt in der blanken Frühlingszeit hinter die Bücher oder an den Schreibtisch zu setzen, fällt mir gar nicht ein.

Bei den Waldarbeitern oder bei den Bauern auf dem Felde bleibe ich meist stehen und sehe ihnen zu. Was sie wohl über den Faulenzer denken mögen? Wohl nicht viel Freundliches. Der Kantor unten in der Schule geht den ganzen Sommer nicht spazieren, obwohl er es nach seiner anstrengenden Berufsarbeit doch sehr notwendig hätte. Er fürchtet sich vor den Bauern, die über ihn lästern würden. Der Bauer hat für das Spazierengehen keinen Sinn; wenn er zu Hause oder auf dem Felde keine Arbeit mehr hat, legt er sich schlafen oder setzt sich in die Kneipe. Zwecklos auf dem Felde umherzulaufen, hält er für verrückt. Und er meint, so wie er, müßten es alle machen.

Einmal fragte ich einen jungen Burschen, der eben auf dem Pfluge saß und seine Brotstullen verzehrte, ob er nicht auch lieber spazieren gehen möchte.

»Nee,« sagte er, »das wäre mir viel zu labrig. Aber so reich wie Sie möchte ich sein!«

Was er dann machen würde, fragte ich. Er lachte verlegen, aber ich kriegte aus ihm heraus: wenn er reich wäre, würde er immerfort Knoblauchwurst essen, sich Stulpenstiefel kaufen und seine Liebste lassen Flügel spielen lernen.

Der Bursch nahm sein Geschäft wieder auf und ging gebeugten Kopfes hinter dem Pfluge her. Seine Phantasie schuf sich ein Schlaraffenland mit Knoblauchwurst, Stulpenstiefeln und einer Liebsten, die Flügel spielte. Es war immerhin ein Lebensprogramm: die Lieblingsspeise, die schöne Gewandung und ein wenig Kunstsinn – höher hinauf als dieser Bauernbursche kommen ja die meisten andern Menschen auch nicht.

Knoblauchwurst schätze ich nicht, Stulpenstiefel auch nicht. Doch ich könnte sie leicht haben. Was ich nicht haben kann, ist die Liebste, die Flügel spielt.

Ich wüßte eine.


Das Unglück mit Timm ist geschehen, so wie ich es vorausahnte, als ihn Werner Lohmann aufforderte, sich malen zu lassen. Wohl zehnmal ist der eitle Bursche aufs Schloß gegangen, immer in seiner besten Livree. Er habe »Sitzung«, sagte er dann. Die Sturz lachte voller Hohn und Spott.

»Sitzung,« sagte sie, habe der Schulze mit den Schöffen; auch habe ihr früherer Herr immer gesagt, er habe »Sitzung«, wenn er mal »hintenrum verschwinden mußte«. Timm erwiderte darauf stolz, mit einem so unanständigen Weibsstück gäbe er sich nicht ab.

Er erzählte mir, daß er bei den »Sitzungen« immer dieselbe Pose annehmen müsse. Er stehe neben einem schönen geschnitzten Lehnstuhl und halte einen Sektkelch in der Hand. Immer mit richtigem Sekt gefüllt. Herr Lohmann schenke ihm selber beständig ein. Der sei riesig leutselig. Diese Bemerkungen waren nicht ohne Seitenhieb auf mich, da ich Herrn Timm noch nie mit Sekt traktiert hatte. Timm mußte nun bei dem Maler immer eine vergnügte Miene machen, was ihm bei der ausgezeichneten Behandlung und dem zugeführten Champagner nicht schwer wurde, er mußte ein Bein etwas »wippig« nach vorn gebogen halten, schmunzeln und ein bißchen mit den Augen blinzeln.

Eines Tages erklärte selbst unsere gute Mathilde, nun sei der Timm »überkandidelt«. Werner Lohmann hatte ihm gesagt, das Bild sei fertig, es sei das beste Blatt aus seiner Sammlung und werde sicher in einer großen illustrierten Zeitschrift reproduziert werden. –

O Timm, so wie dir ist es deinem eitlen Urahnen Luzifer ergangen, als er vom Himmel in die Hölle stürzte. Eines Tages erschien Werner Lohmann bei uns und brachte einen Brief von einer Redaktion mit, in dem zu lesen stand:

»Ihr reizender ›Besäuselter Lakei‹ wird schon in wenigen Wochen bei uns erscheinen.«

»Wieso – wieso – besäuselter Lakei?« fragte Timm erblassend.

»Nun,« lachte Lohmann, »das Bild heißt so. Seine Unterschrift lautet: ›Der besäuselte Lakei‹.«

»Das – das soll doch nicht etwa ich sein?«

»Natürlich – wer sonst?«

Timm bekam einen Nervenzusammenbruch. Lakei – er – Timm – Lakei! Dieses niederträchtige infame Wort! Und dann »besäuselt.« Das war noch niederträchtiger. Wenn es »berauscht« oder meinetwegen sogar »besoffen« geheißen hätte, – läge doch noch Kraft drin. Aber »besäuselt«? In dem Worte liegt eine ganze Welt von Lächerlichkeit.

»Wenn Sie das nicht ändern,« drohte Timm, »erschieße ich mich.«

»Das schadet nichts,« sagte der Maler gleichmütig, »das Bild ist ja fertig.«


Die Brettschneide ist immer noch nicht aufgebaut; es ist auch mit dem Bau nicht begonnen worden. Der Brettschneider hat das Geld von der Versicherung, das er bekommen hat, in lauter Talerstücke und in Goldstücke umgewechselt, es in eine eiserne Lade verschlossen und geht von seinem Schatze nicht mehr weg. Wenn ihm jemand mit dem Vorschlag kommt, doch seine Brettschneide wieder aufzubauen, so wird er grob, schreit, man wolle ihn betrügen und ihm sein Geld wegnehmen. Er ist wohl nicht mehr ganz klar im Kopfe. Von seinem Sohne Emil hat niemand etwas gehört.

Mit der Nachbarstochter Elisabeth Ranke ist eine große Wandlung vor sich gegangen. Das Mädchen hat plötzlich seine stille scheue Art abgelegt und ist ein munteres Ding geworden, das sich putzt und Sonntags zum Tanze geht. Der Zorn darüber, daß sie von Emil um dieser Bianka willen verschmäht wurde, hat diese Wandlung zuwege gebracht.

Mir gefällt das mit der Elisabeth Ranke nicht. Es ist nichts Geradegewachsenes, nichts Gesundes um ihre plötzliche Lustigkeit und Vergnügungslust. Es ist wie ein Lachen aus kranker Seele. Was mir aber noch viel weniger gefällt, ist, daß sich der Maler Werner Lohmann an Elisabeth Ranke heranmacht. Was will dieser Windbeutel von dem schönen Mädchen?

Er sagt, er suche sie der Kunst wegen auf, er wolle sie malen. Ich traue dem Kerl nicht; er ist sicher keiner von denen, die ihre Kunst niemals entweihen, sie niemals in den Dienst ihrer Leidenschaften stellen; ich rechne ihn vielmehr zu jenen Künstlern, die gelegentlich ihre Muse zur Kupplerin erniedrigen, wie es solcher Leute unter den Dichtern, Malern, Musikern, Theaterleuten leider viele gibt. Der Künstler soll seine Kunst reinhalten wie der Geistliche seine Kirche, der Lehrer seine Schule, sonst begeht er auch »ein Verbrechen im Amt.«

Ich traue diesem Lohmann nicht, daß er Elisabeth nur deswegen malen will, weil er in ihr ein gutes Modell sieht. Manchmal schäme ich mich dieses Mißtrauens, da ich keine Beweise dafür habe. Dann sage ich mir: Halloh, du bist wohl auch schon ein so jämmerlicher Philister geworden, der sich um anderer Leute Sachen kümmert, die ihn rein gar nichts angehen. Wenn dieser Lehmann minderwertige Bilder malt und du zufällig Kritik zu üben hast, so sage deine Meinung. Was dieser Lohmann aber privatim treibt, geht dich nichts an, denn du bist weder sein Seelsorger, noch sein Vormund, noch sein Richter, nicht einmal sein Freund. Überlaß den Tratsch den kleinen Spießern, deren liebste und fast einzige geistige Beschäftigung eben das Klatschen ist, die kleine Sensationen haben müssen, weil ihnen die inneren großen Erlebnisse fehlen. Es gibt Menschen, die schwermütig werden, ja, die an geistigem Hungertod sterben würden ohne Tratsch; daher lungern sie um fremde Leidenschaften nach Träbern, fressen sie gierig in sich hinein und geben sie, wenn sie sich übernommen haben, wieder von sich.

Eine üble, miserable Sorte Menschheit. Hubertus, du wirst doch nicht –?

O, Hubert, wenn du ehrlich mit dir selbst bist, wirst du dir sagen: du bist eifersüchtig. Es ist dir nicht um Elisabeth Ranke zu tun, es ist um Erika Isenloh, die dieser Schwerenöter ebenfalls malen will.

Beide Mädchen auf ein Bild. Er hat es mir so skizziert: Im Hintergrund das Kreuz mit der roten Lampe. Elisabeth als Dorfmädchen schreitet etwas gesenkten Hauptes mit ihrem Ölkrüglein auf das Kreuz zu; Erika als modernes Stadtfräulein schaut ihr aus dem Halbdunkel des Baumganges verwundert und versonnen nach. Das Ganze heißt: Begegnung im Walde.

Ich kann gar nicht einmal ableugnen, daß diese Idee poetisch und von einer schönen Tiefe ist. Für den »Rausch«-Maler jedenfalls von verblüffendem Ernst. Es kann ein gutes Bild werden, eines, das die Phantasie des Beschauers erregen und das Herz erfassen kann.

Was willst du also, Hubertus? Wenn ein neues gutes Kunstwerk entstanden ist, so hat das ganze Land in der Lotterie gewonnen. Doch – ich trau ihm einmal nicht. Traue auch nicht seinem künstlerischen Ernst. Wenn seine ganze Seele voll wäre von der Liebe zu dem neuen Werk, konnte ihm doch (wenn ich auch weiß, daß in mancher Künstlerseele der Zeiger des Gefühls-Barometers hin- und herpendelt wie das Perpendikel einer Kuckucksuhr), also konnte doch diesem Lohmann nicht der verrückte Plan kommen, nebenbei ausgerechnet meine Madame Sturz zu malen. Er hat dem robusten Scheuerbesen wirklich den Antrag gemacht, sich von ihm malen zu lassen. Natürlich hat er dabei an sein Rausch-Album gedacht. Er hat mit seiner freundlichen bestrickenden Stimme gesagt, es würde ihm doch so Spaß machen, die liebe gute Frau Sturz mal »in ihrem Hauskostüm« zu malen und dafür, daß es lustig würde, dafür würde er schon sorgen. Die liebe Frau Sturz tränke doch gewiß manchmal gern ein Schnäpschen; nun, das solle sie bei ihm haben. Und außerdem zwei Mark für die Stunde.

Die Sturz hatte ihn erst ausreden lassen, dann ist sie explodiert. Sie hat vor Lachen plötzlich so losgeprustet, daß der Maler von oben bis unten bespuckt war und verdrossen nach Hause ging, um sich zu waschen und umzuziehen. Ich habe der Sturz einen Tadel wegen schlechten Betragens aussprechen müssen; aber abends habe ich ihr eine Wurst geschenkt.


Das ist sicher: der Frühling ist für tugendhaftes Verhalten und gesetztes Benehmen eine schlimme Zeit. Man betrachte sich nur unseren guten Freund Balthassar. Er schreitet durch unser Waldtal wie die verkörperte Selbstsicherheit; er ist einer, der alles meistert: seine Umgebung, sein Schicksal und sich selbst.

Wenn solch ein Mann außer Rand und Band kommt, so ist das fast ebenso betrüblich, als wenn ein tausendjähriger Schweinslederband plötzlich aus den Fugen geht.

Balthassar hatte anfangs den Maler wegen der Mädchen aus der »Traube« im Verdacht gehabt; aber als er merkte, daß sich Lohmanns Interesse der Elisabeth Ranke und der Erika Isenloh zuwandte, atmete er menschenfreundlich auf und sagte: Werner Lohmann sei doch ein netter Kerl.

Da traf ihn das Unheil. Timm – mein Timm – machte sich als Freier auf gen die »Traube«. Timm ist immer ein dreister Schlingel gewesen, aber so etwas hätte ich ihm doch nicht zugetraut.

Timm hat an den meisten Tagen zwei Stunden »Ausgang«. Es ist bei uns nicht so viel zu tun, daß ich Veranlassung hätte, meinem Diener zu verweigern, täglich auf zwei Stunden sein eigener Herr zu sein. Balthassar nahm mir diese kleine Menschenfreundlichkeit gewaltig übel.

»Sie verderben die guten Sitten,« sagte er tadelnd, »was sollte denn daraus werden, wenn jeder, der hier angestellt ist, täglich zwei Stunden frei haben wollte?«

Ich sagte, dann würde der alte Erdball sich wahrscheinlich auch weiterhin noch ganz vergnügt um die Sonne herumkugeln; wir alle insgesamt sollten uns beileibe nicht einbilden, daß unsere Angelegenheiten für das Universum so wichtig seien. Zum Beispiel schon die auf dem Mars oder dem Sirius machten sich gar nichts daraus, wer hier auf der Erde »frei« habe oder nicht.

Balthassar knurrte: wenn wir uns nicht mehr verständen, sei es das beste für ihn, er zöge sich zurück.

Und er zog sich wirklich auf eine ganze Woche zurück von mir. Ich hatte mir unterdes Timm kommen lassen und stellte ihn wegen seiner Besuche in der »Traube« zur Rede.

Ich sagte ihm, daß er ja in seiner freien Zeit hingehen könne, wohin er wolle, aber er möge doch vorsichtig sein; es sei mir erzählt worden, er bemühe sich um eine von den beiden Zwillingen aus der »Traube«, und das sei doch nichts für ihn.

»Wieso, gnädiger Herr, wenn ich mir die Frage erlauben darf, wieso ist das nichts für mich?«

»Na, sieh mal, Timm, du weißt doch, ich meine es gut mit dir: sieh mal, die Mädel in der ›Traube‹ werden doch einen Mann mit etwas Vermögen haben wollen –«

Timm unterbrach mich, was er sonst nie tat.

»Vermögen ist nicht nötig, gnädiger Herr, nur etwas geschäftliches Genie. Man könnte aus der ›Traube‹, die jetzt ein wenig lukratives Waldwirtshaus ist, eine großartige Sommerfrische und einen Sammelplatz für Wintersportler machen – eine Goldgrube –«

»Ah, hast du den Fräuleins da unten das vorgeschlagen?«

»Ja, ich habe es.«

»Und haben sie Interesse dafür?«

»Ich hoffe, die eine: Fräulein Mielchen.«

»Ist das die mit oder ohne dem goldenen Backenzahn?«

»Mit dem goldenen Backenzahn.«

»Das konnte ich mir denken, Timm! Du bist immer für das Dekorative! Na ja, Timm, du wirst wissen, daß ich nie ein Mensch gewesen bin, der dem Glücke und dem Fortkommen eines anderen im Wege gestanden hat; aber sieh dich vor, daß du keine Enttäuschung erlebst.«

»Ich werde keine erleben, gnädiger Herr! Bestimmt nicht!«

»Gut, Timm, mach, was du willst!«

O Balthassar, Gutsinspektor, Amtsvorsteher, Königlicher Lokalschulinspektor, das durfte eigentlich nicht kommen, daß du mit meinem Diener Timm auf dem Heiratsmarkte in Konkurrenz tratest. Ach, kein Pflaster der Welt ist halt so glitschig, wie das des Heiratsmarktes; ein wenig troddelig gehen alle, die es betreten, machen alle mehr oder weniger eine komische Figur, und so mancher rutscht aus, sitzt plötzlich mit dummem Gesicht und ausgespreizten Beinen da und ist wütend, daß er um sich grinsende Gesichter sieht, während die Eine, die er meinte, kichernd um die nächste Ecke verschwindet.

Ist nu mal so. Wird nicht so wichtig sein! Die auf dem Mars oder dem Sirius werden sich nicht darum scheren, ob Balthasar, der Hochbeamtete, oder Timm, der Diener, auf dem Erdball den goldenen Backenzahn erbeutet. Die, die es angeht, glauben, es sei viel, es sei alles.

Was sind wir doch für Narren!


An einen habe ich in diesen schönen Frühlingstagen oft denken müssen – an den alten Krügel. Wie mochte diesem Sohn des Waldes um die Maienzeit zumute sein in seiner schmalen Zelle?

Bei einem Korbmacher unten im Tal hing ein Vogelbauer vor dem Fenster; darin saßen ein Stieglitz und ein Zeisig gefangen. Sie hatten Futter und Wasser, und der Korbmacher meinte, den Vögeln noch was besonders Gutes anzutun, wenn er sie an die freie Luft und in den Sonnenschein hinaussetzte. Hörte er denn nicht das Hilferufen, das Bitten um Freiheit in ihrem Gepieps und Gezwitscher, sah er nicht den Jammer, ihre ohnmächtigen Anstrengungen, den Kerker zu durchbrechen? Ich kaufte die Vögel für einen guten Preis und kaufte bald das Bauer dazu, damit es dem Korbmacher nicht einfiel, sich neue Vögel einzufangen.

Das Vogelbauer setzte ich in meinen Garten und öffnete die Tür. Wohl an zwei Stunden vergingen, in denen die Vögel gewohnheitsmäßig von ihren Hölzchen auf den Boden des Bauers herabsprangen und wieder hinauf und nicht ahnten, ein wie großes Glück ihnen zuteil geworden war.

Dann sprang der Zeisig in die offene Tür, machte drei Hüpferchen hinaus, kehrte aber gleich scheu wieder in das Haus zurück. Sein Bruder, der Stieglitz, sah ihm verwundert zu, machte dann auch ein paar Sprünge hinaus, und dann saßen die beiden armen Burschen ganz bedrückt auf ihrem Stänglein, eng aneinander geschmiegt, als wären sie in tiefen erschreckten Gedanken über das, was sich ereignet hatte. Endlich aber hüpften doch beide hinaus, trauten sich aber nicht fort, sondern setzten sich auf das Dach ihres Gefängnisses. Der Mutigere war der Zeisig, er wagte einen Flug bis auf einen nahen Gartentisch; der Stieglitz sah dem Wagehals mit schiefem Köpfchen nach. Als es Abend wurde, saßen wieder beide Vögel in ihrem Bauer. Die Sturz erschien, klappte brummend die Türe zu und trug das Bauer ins Haus.

Drei Tage dauerten die Versuche der in Gefangenschaft geborenen Vögel, sich an die Freiheit zu gewöhnen. Am Mittag des vierten Tages waren sie verschwunden.

»Nun sind sie von ihrer Gefangenschaft befreit,« sagte ich mit Freuden.

»Ja,« bemerkte die Sturz, »jetzt hat sie wahrscheinlich eine Katze gefressen.«

Also – etwas Stimmungstörenderes als diese Sturz gibt es wirklich nicht! – –

Der alte Krügel – er ging mir nicht aus dem Sinn. Was tat er nur den ganzen Tag? Wenn sie ihn wenigstens im Gefängnishof Holz hacken ließen. Balthasar meinte, Untersuchungsgefangene dürften nicht arbeiten. Dann wäre es zehnfach schlimm für Krügel.

Ich überredete Balthassar, mit mir beim alten Krügel einen Besuch zu machen. Er wollte anfangs nicht, er wollte mit den Leuten vom Gericht nichts mehr zu tun haben. Aber schließlich fuhr er mit nach der Kreisstadt, und wir bekamen nach einigem Hin und Her unter gewissen Formalitäten die Erlaubnis, Krügel auf zehn Minuten zu sprechen.

Der alte Mann saß in seiner Zelle hinter einem kleinen Tisch. Er sah uns geistesabwesend an, wie Fremde.

»Krügel,« sagte Balthassar, »wir kommen Euch einmal besuchen. Seid Ihr denn noch gesund?«

Krügel starrte uns an und lallte etwas Unverständliches.

»Ob Ihr noch gesund seid?«

»Nein – nein – aus ist's – aus –« keuchte der Alte.

»Was macht Ihr denn den ganzen Tag?«

»Gar nichts – nichts – ich – ich sitz' so da!«

»Habt Ihr viele Verhöre?«

»Viele – es – es dauert immer sehr – sehr lange – ich bin dabei schon einmal ohnmächtig –«

»Solche Erörterungen sind nicht am Platze,« verwies die Gerichtsperson, die unseren Besuch beaufsichtigte.

»Ist denn bei den Verhören etwas herausgekommen?«

»Solche Fragen sind zu unterlassen!«

»Der Herr Richter sagt, ich bin's gewesen – ich hab' die Bianka –«

Der Alte stöhnte.

»Krügel, habt Ihr denn –? Wollt Ihr Euch nicht das Herz erleichtern? Seht mal, wir kommen doch von Hause.«

Statt aller Antwort fing der Alte an jämmerlich zu weinen.

»Wenn ich bloß rauskönnte – in den Wald –«

Er rang die von schwerer Arbeit zerschroteten Hände. Jetzt waren sie blaß und welk.

»Raus – raus – in den Wald!«

Wir standen schweigend und erschüttert da. Der Alte hob den Kopf.

»Bin ich denn nicht der alte Krügel? Bin ich am Ende gar nicht der Krügel?« Er sah uns mit irreflackernden Augen an.

»Ihr seid der alte Krügel, gewiß doch!«

»Den alten Krügel, den kennen doch aber die Leute. Warum lassen sie denn den einsperren?«

Er stöhnte.

»Der Herr Richter sagt es – ich bin es gewesen!«

Der Alte sah mager und schlecht aus.

Ich fragte den Aufseher, ob es wohl erlaubt sei, für die Verbesserung der Gefangenenkost Krügels etwas zu stiften. Er sagte: »Da er noch in Untersuchung ist, ja; gehen Sie in die Kanzlei.«

»Wenn Sie mir etwas Kautabak und Schnupftabak schenken wollten, das wäre was Gutes.«

Ich versprach es. Die zehn Minuten waren rasch um.

Krügel fragte noch:

»Wie – wie ist es denn zu Hause?«

»Alles wie sonst.«

»Alles – alles schön grün jetzt?«

»Ja, Krügel.«

Da fing er an zu schreien.:

»Ich will mit! Ich will mit!«

Der Wärter schob uns zur Tür hinaus. Das Schloß rasselte; wir hörten den alten Krügel noch schreien, als wir den langen Gang schon hinunter waren.


Es ist Mai geworden. Die Bäume blühen im Garten. Jeden Abend stehe ich am Thermometer und habe Angst, daß die Eismänner kommen und die liebliche Pracht zugrunde richten werden; ja, ich stehe manchmal in der Nacht auf und sehe nach dem Wetterglase. Auch zerbreche ich mir vergebens den Kopf über eine Erfindung, wie man die Blüten vor dem Maifrost schützen könne. Ich habe um diese schönen weißen Sterne draußen an den Bäumen eine wahre Herzensangst.

»Ach was, Obst!« sagte Balthassar, »wenn ich lieber wüßte, wie ich die verdammten Mäuse von meinen Feldern wegkriegen könnte. Das ist viel wichtiger. Ein warmer trockener Mai ist scheußlich!« – –

Timm dichtet. Er brachte mir neulich ein blaues Heftchen und sagte, indem er etwas rot wurde, ich möchte doch so gut sein, mal zu prüfen, ob diese Gedichte etwas taugten. Er könne nicht anders, er müsse dichten; er habe es nun mal so in sich.

Es war die übliche Frühlingsreimerei: »Frühlingslust und wunde Brust«; »Sonnenschein – Vögelein«; »neues Grün – Wolken hin«; »Liebchen – Grübchen«; »sehnsuchtskrank – talentlang«.

Einen einzigen netten Reim fand ich: »Butterblume« reimte Timm auf »Mutter Muhme«. Und eine hübsche Strophe:

»Und wär ich ein Lakei:
Ich frei um dich im Mai;
Ich will nur dir, nur dir allein,
Fürs Leben lang ein Diener sein!«

Den Reim und die Strophe lobte ich; im übrigen sagte ich, Timm möge nur ganz im geheimen für sich dichten. Das nahm er übel, und er hatte den Triumph, mir schon eine Woche später eines seiner Gedichte in unserem »Waldboten«, einem Blättchen von 500 Lesern, gedruckt zu zeigen.

»Max Timm« stand darunter, außerdem unser Ort, damit kein Zweifel herrsche, woher das Gedicht stamme.

Die Sturz kriegte beinahe die Maulsperre, als sie das las, und wagte drei Tage lang keine einzige Frechheit gegen Timm. Balthassar aber kam außer sich.

»Dieser – dieser Bediente – nimmt sich ja immer mehr heraus; jetzt läßt er sich schon ins Blatt setzen!«

»Ja, Herr Balthassar, das Genie ist frei, und wär' es in Ketten geboren.«

»Solch ein Quatsch! Die Schmetterlinge sollen fliegende Blumen und die Blumen sollen angewachsene Schmetterlinge sein?«

»Der Gedanke ist doch gar nicht so übel.«

»Sie verhelfen ihm immer!«

»Ich sagte Ihnen schon, Herr Balthasar: als Dichter geht mich mein Diener nichts an. Sie wissen – Äsop war ein Sklave.«

»Pfeif auf Ihren Äsop! Der Kerl hat es nur auf die ›Traube‹ abgesehen.«

»So kommen Sie ihm doch zuvor!«

»Wieso?«

»Nun, heiraten Sie vor ihm, oder dichten Sie auch!«

»Ich hab' keine Zeit zu solchem Unfug; ich bin ein vernünftiger Mensch –«

»Herzlichen Glückwunsch!«

»Wie?«

»Herzlichen Glückwunsch dazu, daß Sie nicht dichten mögen!«

»Ach so! Na, hören Sie, so gut wie dieser– dieser besäuselte Lakei könnte ich es auch! Aber es muß etwas geschehen – etwas geschehen!«

Und es geschah etwas. Balthassar versandte Einladungskarten folgenden Inhalts:

»Die Tatsache, daß neugeborene Känguruhs wirklich nur die Größe eines Maikäfers haben, veranlaßt mich, Sonnabend, den 17. Mai, abends von 7 Uhr ab in der ›Alten Försterei‹ eine Maibowle zu geben, zu welcher Ew. Hochwohlgeboren ergebenst eingeladen werden. Es wird gebeten, in der ›Alten Försterei‹ die Blumen als Blumen, die Schmetterlinge als Schmetterlinge anzusehen, umgekehrt aber höchstens nach dem 15. Glase!«

Der Maler Lohmann soll sich über diese Einladung halbtot gelacht haben. Er hat erklärt, daß er ein Vermögen zahlen würde, wenn es ihm gelänge, ein neugeborenes Känguruh zu erwischen und diesem einen kleinen Rausch beizubringen, damit er es für sein Album malen könne. Das würde selbst den »Besäuselten Lakai« tief in den Schatten stellen.

Immer, wenn ich auf Werner Lohmann einen Groll habe, verfliegt er, weil der Bursche zu lustig ist.


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