Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Zwölftes Kapitel.

Timms Schicksal. – Unser Dorfbriefträger. – Die Liebestragödie der Zwillingsschwestern.

An der Schule nahmen wir Abschied. Ich ging mit Balthassar ein Stückchen allein weiter. Da sagte ich:

»Herr Balthassar, Sie machten heute eine Andeutung, daß Sie einen neuen Verdacht wegen der Mordtat an der Bianka hätten.«

»Es ist kein neuer Verdacht. Ich habe diesen Verdacht schon lange, und er verdichtet sich.«

»Wollen Sie mir's nicht sagen?«

»Nein!«

Wir gingen weiter, sprachen über dies und das und trennten uns dort, wo der Weg zu meinem Hause emporsteigt. Als ich kaum hundert Schritt gegangen war, schrie Balthassar:

»Herr Hubertus!«

Ich kehrte zurück zu ihm.

»Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie von dem, was ich Ihnen jetzt sage, niemand etwas weiter sagen, daß Sie ferner mir in der Absicht, den Mörder der Bianka Krügel zu ermitteln, nie entgegenarbeiten werden?«

»Jawohl, das Versprechen gebe ich Ihnen. Es ist selbstverständlich.«

»Schön. So will ich es Ihnen kurz und bündig sagen, wer der Mörder von Bianka Krügel ist – Ihr Timm!«

»Timm? – Mein Diener Timm?« »Ja. Lachen Sie nicht! Glauben Sie nicht, das spintisiere ich mir nur so aus Eifersucht zusammen wegen der Zwillinge aus der ›Traube‹, die mir alle beide gestohlen werden können – nein, ich kann Ihnen aus meinem Notizbuch beweisen, daß ich mir schon fünf Tage nach der Mordtat den Namen Timm mit einem großen Fragezeichen notiert habe. Na, sehen Sie, ich bin kein Detektiv, wie er in den Schauerbüchern vorkommt, ich bin ein Amtsvorsteher, eine Polizeiperson vom Lande, die die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit hat, aufzupassen, daß nichts wider das Gesetz geschieht. Und da habe ich mir gesagt: Wer kann's gewesen sein? Der alte Krügel? – Ausgeschlossen! Auf so einen dämlichen Verdacht verfällt nur einer aus der Stadt, der uns Dorfleute nicht kennt. Die alte Krügeln? Der traute ich es ja gut und gern zu, aber sie hatte doch an dem Mädel einen Anziehungspunkt, eine Verdienstquelle. Wird sich schwer hüten, ihr bestes Pferd aus dem Stalle totzuschlagen! Der Emil Bönisch? Eifersüchtig ist er gewesen wie verrückt, aber nu hatte er mit Hilfe seines Diebstahls das Mädel fest, wollte mit ihr durchgehen, wird sie also nicht totschlagen. Den jungen Hilmann hat sie nicht getroffen, ich habe das klipp und klar festgestellt.«

Hier unterbrach ich Balthassar.

»Und was hätte – um Himmel willen – mein Diener Timm für eine Veranlassung gehabt, dem Sägemüller das Haus anzuzünden?«

»Halt!« rief Balthassar. »Es ist absolut nicht gesagt, daß derselbe Mensch, der die Bianka totgeschlagen hat, auch beim Sägemüller angezündet hat. Ja, ich behaupte, daß die beiden Verbrecher voneinander gar keine Ahnung hatten. Das hat so zufällig zusammengetroffen. In irgend einem inneren Zusammenhang mag es ja freilich gestanden haben. Aber ich bin überzeugt, es sind an sich zwei voneinander unabhängige Taten.«

»Diese Gedanken müssen Sie dem Gericht mitteilen, Herr Balthassar.«

»Werd' mich hüten! Daß sie dort sagen: Was will der dumme Bauer? Wissen ja doch alles besser! Nee – aber privatim forsche ich weiter. Mir läßt das keine Ruhe. Wissen Sie, auch wegen des Krügel. Ich hab' den Kerl mein Lebtag nicht ausstehen können; aber seit er im Kasten sitzt, fehlt er mir.«

»Also Timm meinen Sie – Timm? Herr Balthassar, das ist eine zu kuriose Idee!«

»Nicht so kurios! Daß er wie verrückt hinter der Schwarzen aus der Moorhütte her war, wissen Sie. An dem Mordabend ist Ihr Herr Timm, der sich ja einer beneidenswerten Freiheit erfreute, ›aus‹ gewesen. Er war in der ›Traube‹ und hat sich da zunächst eine mächtige Abfuhr geholt. Damals waren die Zwillinge noch bei klarem Verstand. Nach dem Korb ist Timm – angeheitert, wie ich feststellte – fortgestürmt, wahrscheinlich hinauf der Moorhütte zu; er hat die Bianka getroffen, die nach der ›Traube‹ unterwegs war, er hat sich wahrscheinlich in seiner Leidenschaft an dem Mädel vergriffen, sie hat sich gewehrt, vielleicht geschrien und da – hat er sie erschlagen. Wie so etwas viel tausendmal in der Welt passiert ist.«

»Nein, Herr Balthassar, Timm ist ein etwas windiger Bursch mit mancherlei Untugenden, aber solcher Übeltaten, wie Sie sie ihm zumuten, ist er nicht fähig. Das ist ausgeschlossen.«

»Nun, so bleiben Sie bei Ihrer Meinung, bis ich Ihnen das Gegenteil werde beweisen können. Das ganze Dorf hat sich die ermordete Bianka, als sie im Spritzenhause aufgebahrt war, angesehen, nur Ihr Timm nicht; das ganze Dorf war beim Begräbnis, nur Timm nicht. Warum nicht? Er ist doch sonst überall, wo etwas los ist. Er konnte nicht, das Gewissen hatte ihn gepackt; er ist ja damals weiß wie eine Kalkwand herumgelaufen, wie mir die Sturz erzählt hat; freilich, das dumme Weib meint, er habe sich so über den Tod der Bianka gegrämt. Ja, er soll sogar tagelang krank zu Bette gelegen haben.«

»Das stimmt. Timm hat damals einige Tage zu Bett gelegen. Er hatte die Influenza.«

»Schöne Influenza! Nun, Herr Hubertus, ich werde den geschniegelten Schuft entlarven. Darauf verlassen Sie sich.«

Wir trennten uns. Einsam stieg ich den Bergweg hinauf. Der Mond schien, die Sterne leuchteten, süß sangen die Nachtigallen im Tal. Und dahier hatten zwei Männer gestanden, die sich unterhielten wie Polizisten in einer dumpfen Wachtstube.

Meine Gedanken wanderten zu Erika Isenloh zurück. Auch sie kam nicht los von dem grausigen Ereignis aus dem Vorfrühling. In der Mainacht, als wir allein miteinander wanderten, hat sie daran gedacht. Der Wald ist nicht wie die Stadt, die alles schnell erledigt und vergißt. Noch nach zwanzig Jahren werden die Leute in diesem Waldtal vom Tode der Bianka sprechen, vielleicht ein Bräutigam mit der Braut beim Hochzeitsfest, vielleicht eine Mutter mit ihren Kindern beim Spaziergang durch den Sommerabend. – –

Als ich nach Hause gekommen war, trat Timm bei mir ein. Ich bemerkte, daß er verstört aussah, und er sagte mit bedrückter Stimme:

»Gnädiger Herr, ich habe zwar vierteljährliche Kündigung; aber ich möchte den gnädigen Herrn bitten, mich bald zu entlassen.«

»Warum denn, Timm?«

»Ich bitte, meine Gründe nicht sagen zu müssen. Ich möchte bald fort – morgen schon!«

»Oho – morgen schon!«

Ich dachte ein paar Augenblicke nach. Um des Himmels willen, war doch etwas an dem Gerede von Balthassar?

»Ja, Timm,« sagte ich, »das geht nicht. Ich habe ja gar keinen Ersatz.«

Da weinte der Bursche.

»Ich halte es hier nicht mehr aus, gnädiger Herr!«

Ich machte mir an meinem Schreibtisch zu tun; denn ich konnte kaum verbergen, wie aufgeregt ich wurde.

»Timm, es wäre vielleicht gut, wenn Sie Vertrauen zu mir faßten und sich aussprächen.«

Es fiel weder ihm noch mir auf, daß ich plötzlich Sie zu ihm sagte.

»Ich kann nicht, gnädiger Herr,« sagte er.

»Ja, dann tut mir's leid, daß ich auf die Entlassung nicht eingehen kann. Ich habe meine Gründe, Sie nicht zu entlassen.«

Das war unvorsichtig gesprochen. Er schnappte es auch gleich auf.

»Was für Gründe?«

»Nun – nun – was für Gründe? Ich habe eben keinen Ersatz für Sie.«

»Ich bitte, gnädiger Herr –«

»Nein!«

Da machte er seine Verneigung und verschwand.

Eine unruhige Nacht kam. Die blutige Tat des Vorfrühlings vergällte mir diese süßen Maistunden! Was war ich für ein Waldmensch geworden!

Und zwischen den abenteuerlichsten Fragen, die meine Seele bedrängten, tauchte immer wieder Erikas Bild auf.

Ich wußte jetzt, daß ich dieses Mädchen liebte. Ich sah ja, wie meine Seele sie verklärte, wie ich alle Kränze und Blüten um ihr Bild rankte, wie meine Sehnsucht sie suchte und wie die Qual der Eifersucht aufbrannte, wenn ich glaubte, sie zu verlieren.

Ach, Hubertus! Wenn du fünfundzwanzig Jahre alt wärst, würde man das alles ja leicht verstehen. Bist aber sechsunddreißig und könntest also wohl etwas vernünftiger sein. Was werden wohl deine Kumpane aus der Großstadt sagen, wenn sie hören, Hubertus hat sich mit einer Dorfschullehrerin verlobt!

O, es wäre alles, alles gleich – und wenn sie mich für verrückt erklären – und wenn es selbst wirklich verrückt von mir wäre – ich will kein anderes Glücksgeschenk vom Himmel als dieses Mädchen!

Ich habe nie gewußt, wie süß und weh die Liebe ist, ich habe das erst in meinem Waldleben erfahren. –

Am andern Morgen ging ich noch vor dem Frühstück aus. Ich wollte mir allen holden und bösen Spuk der letzten Nacht aus dem Leibe wandern. Ich ging wohl zwei Meilen weit. Dann wurde ich hungrig und kehrte in einem Dorfwirtshause ein.

Unterwegs hielt ich mich lange im Walde auf, und als ich nach Hause kam, war es Mittag. –

Timm war fort!

Er hatte die Sturz veranlaßt, im Dorfe unten eine Fuhre zu besorgen und ihm zu helfen, zwei Koffer aufzuladen, die er, wie er sagte, selbst auf dem Bahnhof »aufgeben müsse«. In den Koffern waren seine Habseligkeiten. Damit war er davon gefahren.

Als mir das die Sturz erzählte, habe ich mich leider hinreißen lassen, sie eine Gans zu schimpfen. Darauf hat auch sie ihre paar Habseligkeiten zusammengepackt und ist auf und davon gegangen. So blieb ich mit Mathilde allein.

Wie ein entthronter und verlassener Herrscher saß ich in meinem Gemache. In den ersten Stunden erwog ich eigentlich nur die Fragen, wer nun die Hühner füttern werde und das Schwein, das wir seit einem Monat halten. Und wer die Stiefel putzen und den Tisch decken werde. So abhängig sind wir »Herrenmenschen«. Weil sie sich vor kleinen Alltagsarbeiten scheuen, geraten die Herren in die Abhängigkeit der Diener.

Am meisten Schmerzen machte mir das Schwein. An diesem Hausgenossen verzweifelte auch Mathilde, die sonst viel besseren Mutes war als ich. Wir wußten beide nicht, wie ein Schwein gefüttert wird; dies Geschäft hatte die Sturz immer als eine Art Geheimkunst ausgeführt.

Am Nachmittag kam Vater Jensch, unser Briefträger. Ich weiß nicht, ob es anderwärts ebenso oder ähnlich ist: unser Dorfbriefträger hat jedenfalls seltsame Ansichten vom Postgeheimnis. Er liest meine sämtlichen Postkarten und erzählt mir schon von der Straße her über den Gartenzaun treuherzig ihren Hauptinhalt; z. B.: »Na, Herr Hubertus, der bestellte Wein ist abgesandt.« Oder: »Das Buch ist in der Buchhandlung nicht vorrätig«, oder: »Eine ulkige Ansichtskarte vom Brocken ist da; ich hab' sie mal unten in der ›Traube‹ gezeigt, die haben schön gelacht!«

Ausländische Briefmarken macht sich Vater Jensch »runter« für die Sammlung seines Enkelsohnes. Die Schweizer Marken mit dem Tell, sagt er, sind die schönsten. Die Briefe öffnet aber Vater Jensch nicht; alles was recht ist: dazu ist er zu diskret. Dagegen erzählt er immer der Sturz, die das Recht hat, ihm ein Gläschen Schnaps zu reichen, den ganzen Posteinlauf der Gemeinde her: daß der Schmied einen Brief aus Hildesheim bekommen habe, es ihm aber nicht gesagt habe, von wem er komme, da der Schmied ein ungefälliger, mürrischer Mensch sei; daß er der Streusel Emma nun schon sechs Briefe und drei Karten von ihrem Soldaten zugesteckt habe, was aber kein Mensch wissen dürfe, weil das Mädel sonst vom Vater Prügel kriege; daß der Krämer nu schon wieder einen Brief von der Kaffeefirma gekriegt habe, doch höchstwahrscheinlich einen Mahnbrief – und solche postalische Geheimnisse mehr. Wenn Vater Jensch einen Trauerbrief bringt, geht er nicht von dannen, bis der Brief geöffnet ist und er weiß, um was es sich handelt. Ein so teilnehmender Mensch ist er. Ich habe den alten Quatschkopf ganz gern.

Heute kam Vater Jensch in ungewöhnlicher Hast daher und rief schon von weitem:

»Na, Sie werden staunen, Herr Hubertus; Sie werden staunen!«

Ich war gar nicht so neugierig auf das, worüber ich staunen würde, sondern fragte:

»Sagen Sie, Vater Jensch, haben Sie nicht drinnen am Bahnhof so gegen Mittag meinen Timm gesehen?«

»Jawohl,« keuchte der Alte, »gut, daß Sie mich fragen, Herr Hubertus, sonst hätt' ich's vergessen. Herr Timm läßt dem Herrn Hubertus sagen, er hätt' nicht anders gekonnt, er hätte fortgemußt, und er würde Herrn Hubertus schreiben. Ich hätt's vergessen, Herr Hubertus; ich bin ja so außer mir!«

»Worüber sind Sie so außer sich?«

»Der alte Krügel hat doch die Bianka totgeschlagen!«

»Jensch! Woher wissen Sie denn das?«

»Aus Ihrer Zeitung! Es steht in Ihrer Zeitung!«

In dem Blatte stand folgende Notiz:

»Der wegen Mordverdacht in Untersuchung befindliche Waldarbeiter Krügel hat dem Untersuchungsrichter eingestanden, seine Enkeltochter Bianka getötet zu haben. Er will seine Tat in Trunkenheit und aus Wut darüber begangen haben, daß ihm um seiner Enkeltochter willen die Wohnung gekündigt worden war. Der Fall wird nun bereits bei der nächsten Schwurgerichtsperiode verhandelt werden.«


Es war gegen Abend. Ich war bei Balthassar, und wir saßen zusammen im Garten. Blaue Schwalben huschten um die Giebel der Häuser. Der Flieder prangte in schweren Trauben, auf dem Bleichplatz lag blendend weiße Wäsche. Ringsum war Duft und Vogelsang – holdseliger Mai. Wir beide aber sprachen wie Polizisten in einer dumpfen Wachtstube.

Balthasar hatte die Faust auf dem Gartentisch geballt und starrte in das Zeitungsblatt.

»Lüge!« sagte er. »Trug! Irrtum! Der alte Krügel ist wahrscheinlich blödsinnig geworden im Gefängnisse und gesteht nun nach der langen Folter des Untersuchungsverfahrens alles, was der Richter will. Haben Sie mal über die moderne Folter des Untersuchungsverfahrens gelesen, wie der Häftling oft halbe, ja ganze Tage lang verhört und in ein Kreuzfeuer von Fragen genommen wird, bis er hungrig, todmüde und mürbe ist, bis seine Nerven nicht mehr durchhalten?«'

»Ja, ich habe davon gehört.«

»Nun, so liegen die Dinge im Fall Krügel. Ich kenne diesen Untersuchungsrichter. Er ist ein juristisch gebildeter Mann; ich nicht; aber wenn ich könnte, würde ich ihn absetzen. Mutterwitz hat der Mann keine Spur. Auch keine Volkskenntnis. Ist ein Friese und soll dahier in Schlesien Recht sprechen. Schlesier sollten nur von Schlesiern verhört und abgeurteilt werden, und da auch wieder nur Gebirgler von Gebirglern, Industrieleute von Industrieleuten, Bauern von Bauern. Sind alle unter sich äußerst verschieden, und wer sich da nicht genau auskennt, der greift fehl.«

»Es wäre schrecklich, wenn Sie wegen Krügel recht hätten.«

»Ich habe recht! Und ich bleibe dabei, der Mörder ist Ihr verflossener Timm, den Sie unverantwortlicherweise haben entwischen lassen. Können Sie einen besseren Beweis für die Richtigkeit meines Verdachts wünschen, als daß der Bursche Reißaus nimmt, weil ihm wahrscheinlich aus irgend einem Grunde der Boden heiß wird?«

Wir stritten wegen Timm; aber auf all meinen Verteidigungsreden lag es wie Lähmung.

Zuletzt sagte Balthassar: »Außer Ihnen habe ich niemand etwas über Timm gesagt; nur noch den Zwillingen in der ›Traube‹; denn wenn ich auch nichts mehr mit ihnen zu tun haben will, so hielt ich mich schon um ihrer braven Eltern wegen verpflichtet, das dumme Weibsvolk wenigstens vor dem Äußersten zu warnen.«

Diese Mitteilung schien mir das Bild der Lage wieder zu verändern. Ich verabschiedete mich von Balthassar und ging nach der ›Traube‹. Die Wirtsstuben waren leer, nur eines der Mädchen war anwesend.

»Fräulein Malchen?« fragte ich.

»Ja. Das Mielchen liegt im Bett; sie ist sehr krank.«

»Ei, das tut mir leid. Es ist hoffentlich nichts Schlimmes?«

Da begann das Malchen zu weinen.

»Sehr schlimm. Vielleicht wird sie sterben. Vielleicht wird sie Herzkrämpfe bekommen. Und mich will sie nicht sehen – nicht um sich haben – mich haßt sie – haßt die Schwester – dabei liegt sie steif da und hat das Weiße in den Augen verdreht – das eine Dienstmädel ist bei ihr – und keinen Doktor will sie – sie will sterben – o Gott, o Gott!«

»Ja, wie ist denn das so auf einmal –?«

»Gestern. Gestern nachmittag. Ach, Herr Hubertus, zu einem Menschen muß ich mich doch aussprechen – es drückt mir ja sonst das Herz ab. Und zu Ihnen hab' ich Vertrauen.«

»Das freut mich, Fräulein Malchen. Wenn ich kann, werde ich Ihnen gern beistehen.«

»Ach, Herr Hubertus, was war das für eine Woche! Ich wundere mich bloß, daß wir noch leben. So schrecklich war es. Herr Balthassar hatte doch einen Brief an uns geschrieben, daß nur die von uns beiden zum Maifest eingeladen sei, die sich nicht mit dem Stiefelputzer Timm kompromittiert habe. Ach, hat da das Mielchen getobt wegen dieser Beleidigung! Denn – ich bitte, daß Sie das niemals jemand sagen – das Mielchen liebt doch Herrn Timm; und das muß man ja sagen, wenn auch Herr Timm jetzt nur ein Angestellter ist, er ist doch ein sehr hübscher und auch ein feiner und gebildeter Mann. Er schreibt sogar für die Zeitung, das sollte nur mal der stolze Herr Balthassar nachmachen! Aber bei uns hat es so furchtbaren Streit gegeben. Das Mielchen war immer gut, und wir haben uns nie gezankt; aber auf einmal wurde sie so wild wie eine Furie auf mich und sagte: Das ist bloß – du bist bloß schuld, weil – weil ... nein, ich schäme mich, das kann ich nicht sagen!«

»Darf ich Ihnen etwas helfen, Fräulein Malchen? Sehen Sie, ich denke es mir so: Fräulein Mielchen meint, Herr Balthassar hätte wohl die Absicht, um Ihre Hand anzuhalten, und nun stoße er sich daran, daß Timm sein Schwager werden solle.«

Sie fuhr erschrocken auf.

»Woher wissen Sie denn das? Um Himmels willen, es reden doch nicht etwa die Leute wegen Herrn Balthassar und mir?«

Das blonde hübsche Malchen war ja nun wohl dreißig Jahre alt, aber jetzt in ihrer Angst hatte sie Augen wie ein Backfischlein, das auf seiner ersten Liebe ertappt wird.

»Keine Angst, Fräulein Malchen; ich reime mir nur da so was zusammen, was wahrscheinlich gar nicht stimmt.«

»Ach, es stimmt ja doch!« rief sie leidenschaftlich. »O Gott, Herr Hubertus, denken Sie nur nichts Schlechtes von mir; aber ich kann ja nicht dafür, daß ich Herrn Balthasar so gut bin. Ich glaubte immer, das Mielchen sei ihm auch gut, und da wollte ich nichts sagen, da wollte ich zurückstehen. Aber wie nu ein paarmal der Herr Timm bei uns gewesen war, fragte mich einmal abends im Bette das Mielchen: ›Warum heiratest du denn deinen Balthassar nicht endlich?‹ Da sagte ich: ›Liebes Mielchen, ich dachte, du wolltest ihn!‹ Da lachte sie ganz laut und sagte: ›Nein, ich mache mir rein gar nichts aus ihm.‹ Nun, da war ich ja so glücklich, daß ich mit der Schwester im reinen war. Und dann kam es so schrecklich!«

Sie weinte ein Weilchen wie in schweren Erinnerungen. Ich fragte:

»Was ist denn nun gestern passiert? Wollen Sie mir das nicht auch anvertrauen?«

Unter vielem Schluchzen sagte sie:

»Gestern haben wir einen furchtbaren Streit gehabt, das Mielchen und ich. Ich wollte zu dem Maifest, da sagte das Mielchen, das sei eine Schande, wo uns Herr Balthassar so beleidigt hatte wegen Herrn Timm. Ich sagte, mich ginge doch Herr Timm nichts an. Und da wurde sie ganz rasend. Ach, das war schrecklich.«

Ich konnte ein Lächeln schwer unterdrücken. Wenn diese beiden Zwillinge zankten, das mußte so sein, als ob jemand gegen sein eigenes Bild im Spiegel tobte. Ich war überzeugt, daß beide bei dem Streit ganz dieselben Grimassen geschnitten, beide dieselben Handbewegungen gemacht hatten. Sie waren immer ganz dieselben Menschen gewesen; nur am Wegweiser der Liebe trennten sich ihre Wege, und das mag freilich so geschmerzt haben, als ob ein Leib mitten durchgeschnitten würde.

Malchen weinte weiter. Endlich fuhr sie fort:

»Das Schlimmste kam erst. Ein neuer Brief von Herrn Balthasar kam. Da schrieb er, er müsse uns unserer Eltern wegen vor Herrn Timm warnen; der sei ein Abenteurer, und es lägen bei dem Amtsvorsteher gegen Timm schwere Verdachtsgründe vor. Was das – was das – für schreckliche – schauderhafte Dinge sind, von denen Herr Balthasar schrieb, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Hubertus.«

»Ich weiß. Timm soll die Bianka erschlagen haben.«

Malchen schrie laut auf.

»Wissen Sie es –? Sprechen die Leute davon?«

»Nein, nein, nein! Nur Herr Balthassar glaubt das. Sonst niemand auf der Welt.«

»Auch Sie glauben es nicht?«

»Nein!«

»O, Herr Hubertus, das Mielchen hat Schreikrämpfe gekriegt, als sie den Brief gelesen hatte. Dann wurde sie ganz still. Ich zog mir meine guten Kleider wieder aus, ich ging nicht zum Maifest. Und dann kam Herr Timm. Da hat ihn meine Schwester mit nach oben in unsere gute Stube genommen. Alle Dienstboten wurden aus dem Hause geschickt. Nur ich mußte dabei sein. Und dann hat meine Schwester Herrn Timm gefragt: ›Was hatten Sie mit der Bianka?‹ Da hat erst Herr Timm gelacht, aber er ist gleich sehr nervös gewesen. Und dann hat er gesagt: einmal hätte er mit der Bianka gesprochen. Und dann hat er dreimal und dann hat er fünfmal zugegeben. Und zuletzt hat er zugegeben, daß er einmal in der Stadt war, da hat er die Bianka getroffen und ist mit ihr in einer Konditorei gewesen. Da hat das Mielchen wieder Schreikrämpfe gekriegt. Aber es war bald vorbei, und dann hat sie es ihm ganz ruhig auf den Kopf drauf gesagt: das ganze Dorf spräche davon, daß er die Bianka ermordet habe. Und jetzt glaubte sie es auch. Er solle machen, daß er fortkomme, ehe ihn der Amtsvorsteher festnehme. Da sei die Tür! Da ist Herr Timm totenblaß gewesen und ist augenblicklich gegangen. Das Mielchen habe ich ins Bett bringen müssen. Da liegt sie nun noch und will keinen Doktor und will auch mich nicht mehr.«

Das Mädchen legte den Kopf auf die Tischplatte. Ich stand auf und trat ans Fenster. Ich hätte die ganze Szene gern als Tragikomödie aufgefaßt, aber ich kam zu keiner Klarheit in mir selbst. Trotz aller Fadenscheinigkeit der Verdachtsgründe, die gegen Timm sprachen, wußte ich mir mit ihm keinen rechten Rat. Timm war drei Jahre bei mir gewesen. Ein Diener, mit den Vorzügen und Fehlern, die solche Leute haben. Seine Manieren kannte ich genau, seine Seele kannte ich gar nicht. Herren und Diener haben immer Masken vor dem Gesicht, wenn sie sich begegnen. Das merkte ich erst jetzt. Balthassar war sicher kein dummer Mensch; er kannte die Leute besser als ich; er hatte Verdacht gegen Timm; was konnte ich Erhebliches dagegen einwenden? Während ich noch so grübelnd am Fenster stand, trat Balthassar in die Stube.

»Ach – Sie sind hier? Und – wer ist das – Mielchen oder Malchen –?«

Das Mädchen stand auf, deckte die Hände über das Gesicht und verließ das Zimmer.

»Nanu?«

»Herr Balthassar, ich schlage Ihnen einen Spaziergang vor. Ich habe mit Ihnen Wichtiges zu reden.«

Noch ehe ich mit Balthassar das Zimmer verlassen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und eine wahre Nemesis erschien in Gestalt des todkranken und plötzlich auferstandenen Mielchens.

O, welch ein Bild! Das sonst so peinliche, prüde Mädchen war in Nachttoilette und unfrisiert. Ein langer Zopf baumelte über ihrem Rücken, ihre Füße stockten in Filzpantoffeln. Quiekend lief das Malchen hinter der Schwester her.

»O, sie ist um den Verstand gekommen – sie ist irre geworden – sie läuft im Unterrock und in der Nachtjacke zu den Herren rein! Mielchen, Mielchen, werde gescheut, komm zurück!«

Sie riß an ihr, rang mit ihr. Das Mielchen aber ließ sich nicht aus der Stube zerren.

»Laß mich! Ich habe zu reden! Mit dem da! Sofort!«

Sie schwang ein Zeitungsblatt in der Hand und schrie:

»Wer hat die Bianka erschlagen? Wer? frage ich! Herr Timm etwa? Sie – Sie Esel Sie – Sie Gimpel – Sie Lümmel!«

»Erlauben Sie!« bemerkte der so böse angeredete Balthassar. »Was erdreisten Sie sich?«

»Was haben Sie sich erdreistet, Sie Schurke? Haben Herrn Timm verdächtigt – meinen – meinen lieben Herrn Bräutigam! Dabei ist's der alte Krügel gewesen – hier steht es! Und nun ist er fort. Nun ist mein Bräutigam fort!«

Sie sank auf einen Stuhl und schluchzte zum Steinerweichen.

Balthassar stand stramm da.

»Fräulein Emilie Stenzel,« sagte er in kalter Gemessenheit, »meine Verdachtsgründe gegen den entlassenen Diener Timm sind durch diese Zeitungsnotiz keinesfalls erschüttert. Für die schweren Beleidigungen, die Sie soeben gegen mich ausgestoßen haben, will ich Sie gerichtlich nicht belangen, sondern alles Ihrer Exaltiertheit zuschreiben. Im übrigen bin ich natürlich mit Ihnen und diesem Hause für alle Zeiten fertig. – Herr Hubertus, ich gehe; ich will mich in dieser höchst unpassenden Situation nicht länger aufhalten.«

Schön und stolz war das gesprochen, und schön, stolz und aufrecht verließ auch Herr Balthassar das Lokal. Ich selbst wußte zunächst gar nicht, was ich tun sollte; erst als auch das sonst so taubenhafte Malchen sich plötzlich in eine schäumende Wildkatze verwandelte, über ihre Schwester herfiel und ihr vorhielt, sie hätte sich in einem schamlosen Aufzug (Unterrock, Nachtjacke und offenem Zopf) in Herrengesellschaft begeben und nun ihn – ihren herzallerliebsten Herrn Balthassar – für immer und ewig verscheucht, da fühlte ich, daß bei diesem schwesterlichen Meinungsaustausch meine Anwesenheit nicht nötig sei, und drückte mich zur Tür hinaus.

Balthassar wartete hundert Schritt vom Hause entfernt auf mich.

»Wie sagt Goethe?« knurrte er. »Da werden Weiber zu Hyänen!«

»Sehr richtig!« sagte ich, und sonst nichts. Denn das süße Geheimnis, daß das Malchen ihn liebe, wollte ich mir für eine bessere Stimmung aufheben.


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