Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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6. Kapitel.

Die Schwierigkeiten in der Fabrik hatten sich verschärft. Es waren Schiedssprüche gefällt worden, denen keine Partei sich unterworfen hatte. So kam es, daß auf den Werften und in den Maschinenfabriken Parole zur Abstimmung über den Streik ausgegeben wurde. Eberhardt nahm sich sofort einen Wagen und fuhr zum Betrieb hinaus. Er fand alles in voller Arbeit. Liesche belehrte ihn: »Das geht ganz geräuschlos vor sich. In der Frühstückspause war die Abstimmung, die natürlich geheim ist. Jetzt werden die Ergebnisse in der Stadt gesammelt und gesichtet. In einer halben Stunde können wir wissen, ob der Antrag die Majorität gefunden hat.«

Sie gingen inzwischen durch den Betrieb. Eberhardt sah hier eine Presse an, dort eine Bohrmaschine, einen Gußofen, eine Form; er ließ sich dieses und jenes erklären, vergaß völlig den Zweck seines Kommens und richtete sich immer mehr an dem Gefühl auf, der Schöpfer dieses Rhythmus aus Arbeit und gestaltender Kraft zu sein. Dabei war es nur ein Anfang. Aber dieser Anfang war wie ein Baum, der in gute, wohlvorbereitete Erde gesetzt worden war. Es brauchte nur ein wenig Pflege und Aufmerksamkeit, und die Früchte würden mit jedem Jahre runder und köstlicher werden. Die wilden Triebe und Schossen aber, das Ungeziefer, das im Boden und unter der Rinde und zwischen den Zweigen siedeln will – das 395 muß nur immer zur rechten Zeit vernichtet werden. So wenig man der Natur freien Spielraum gewähren kann, so wenig kann man . . .

Plötzlich hörte neben ihm das kreischende, schneidende Geräusch einer Bohrmaschine auf. Der breite Treibriemen lief auf der Leerscheibe. Eine Drehbank verstummte, eine dritte und vierte Maschine. Häßlich das klatschende Geräusch der Riemen über den Vorgelegen und Transmissionen. Hier und dort ein Griff zum Anlasser eines Motors. Langsam abklingendes Surren. Als sei ein Sturm mitten in seiner Gewalt gebrochen, versank der Arbeitslärm mit einem kurzen Ächzen und Stöhnen. Die schwingende Bewegung der Halle verflachte. Alles im Raume schien den Atem anzuhalten: die Maschinen, die Menschen, die Eisenträger und die Mauern und die große Dachfläche aus Glas.

Von der Türe her rief ein Mann: »Schicht! Der Streik ist angenommen!«

Eberhardt sah auf. Da stand der Werkmeister Albert Krämer. Er hatte den Kopf hoch aufgereckt und sah geradenwegs seinem Chef ins Gesicht. Er sagte weiter kein Wort. In dieser Sekunde zahlte er heim, was ihm das Leben und die Menschen zugefügt hatten . . .

Die Arbeiter legten ihre Werkzeuge beiseite. Es gab eine kurz aufspringende Welle von Worten. Dann ordneten sie alles so, wie wenn sie am Sonnabend nachmittag ihre Schicht abschlossen. In den Waschräumen sprühten die Wasserkrähne. Krämer ging noch einmal durch die Halle, legte hier eine vergessene Zange in die Kiste; hob Nieten auf, die am Boden lagen; zog einen Treibriemen ordentlicher über die Leerscheibe; öffnete eine Luftscheibe; 396 alles wie ein guter und gewissenhafter Hausvater, der sich mit der Unordnung in einem Raume nicht befreunden kann. Dann ging er an Melchior und Liesche vorbei mit langsamen Schritten, die seltsam hell und schwer durch den Raum dröhnten, zur Türe hinaus . . .

Streik . . . .

Eberhardt verriet mit keinem Worte seine Erregung und seinen Zorn. Was ihm in diesem Augenblick geschah, vergaß er nie wieder. Es geschah ihm, ihm persönlich. Menschen, die von seinen Ideen und seiner Kraft lebten, verließen die Maschinen, verließen die Arbeit, die getan werden mußte, verließen das Werk, dessen Bestimmung es war, in rastloser Folge zu produzieren. Sie sagten ihm den Kampf an. Gut, sie sollten ihn haben. Er baute nicht auf, damit andere zerstören konnten.

Er begab sich in das Lager, in welchem die Fertigfabrikate lagen, insbesondere die, welche für die Ausfuhr bestimmt waren. Er ließ sich Lagerbücher und die Mappe der Order vorlegen. Er rechnete und verglich. Dann fragte er: »Streiken die Transportarbeiter auch?«

»Noch nicht. Wenn es nicht zu einem Sympathiestreik kommt, sind sie durch den Tarif bis auf weiteres gebunden. Wenn sie ihn kündigen, läuft er allerdings in vier Wochen ab. Dann besteht die Möglichkeit eines Streiks.«

Er nickte entschlossen. Im Bureau wurde er am Fernsprecher verlangt. Onkel Philipp meldete sich: »Ich höre, ihr habt Streik draußen.«

»Wir haben Streik«, sagte Eberhardt gelassen. »Aber das macht mir keine Kopfschmerzen. Es hat sich gelohnt, daß wir in Vorrat gearbeitet haben. Liefern können wir noch für mindestens sechs Wochen. Bis dahin spare ich 397 die Löhne. Das ist mir gar nicht unangenehm. Es macht für die Zeit immerhin hunderttausend Mark aus. Ich bin also mit dem Streik sehr zufrieden.«

»Bist du im Hauptkontor?« fragte Philipp.

»Ja. Warum?«

»Weil ich dich dann für einen kompletten Idioten erkläre! Legst du es darauf ab, daß die Angestellten das hören?«

»Ja«, sagte Eberhardt ärgerlich und hängte ab.

Wenige Tage später wurde ihm die Quittung überreicht. Man schickte ihm die »Volkswarte« zu. Darin war ein Artikel blau angestrichen. Er trug die Überschrift: »Furcht oder Provokation?« Der Inhalt lautete:

Zu den bestreikten Betrieben gehört auch die Maschinenfabrik von Eberhardt Melchior. Es ist ein Unternehmen, das bekanntlich keinerlei wirtschaftlicher Notwendigkeit und keiner organischen Entwicklung sein Dasein verdankt. Es war einfach die Verlegenheitsgebärde eines reichen Erben. Irgendwo mußte er mit dem Gelde bleiben, das sein Vater zusammengescharrt hatte. Wir haben nichts dagegen, daß für die Arbeiter neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen, und uns könnte der Anlaß zu einer solchen Gründung vollkommen gleichgültig sein, wenn nicht . . . wenn nicht das Verhalten eben dieses Fabrikherrn ein grelles Licht auf die innere Situation geworfen hätte. Er prätendiert, Industrieller zu sein. Aber er ist ein Krämer en gros geblieben. Er handelt mit Reis, Kaffee, Kopra, Schraubenflügeln, Menschen, Nieten und allem Erdenklichen. Alles, die Dinge und die Menschen, sind für ihn Handelsware. Was kostet der Reis? Was kostet der 398 Arbeiter? Wenn mein Lager voll ist, kann ich für einige Zeit aufhören, Reis oder Menschen zu kaufen . . .

Daher der illustre Ausspruch des Handelsfabrikanten . . . Nun folgte Wort für Wort das, was er Philipp am Telephon gesagt hatte. Er las weiter:

Ist das nun Furcht oder kalte Provokation? Wir wissen, daß Melchior über ein ungeheures Vermögen verfügt. Wir zweifeln nicht, daß auch ein Verlust von hunderttausend Mark ihm nicht mehr bedeuten würde, als einem Arbeiter der Verlust von einer Mark. Aber Leute dieses Schlages haben nur eine Seele: ihr Bankkonto. Und kennen nur eine Gefahr: es zu verlieren. Mag diese Äußerung sein, was sie will, auf jeden Fall beweist sie uns den abgründigen Haß des Besitzenden gegen den Besitzlosen; die unendliche Verachtung, die der Ware Mensch bezeugt wird. Es gibt nur ein einziges, dem solche Herren sich beugen: die Macht der Tatsachen. Darum sagen wir Euch: gebt dem Herrn die Quittung für seine aufklärende Bemerkung. Bedenkt, daß es hier nicht um Verständigung geht, sondern um Machtfragen. Ihr verdient ihm sein Geld. Ihr preßt seine Nieten, baut seine Maschinen, eßt seinen Reis, trinkt seinen Kakao (wenn ihr Geld dazu habt!) Was euch die Fabrik in Lankenau gibt, nimmt euch der Speicher in Lankenau wieder ab. Euch dient das Dasein dazu, das tägliche Brot zwischen heute und morgen zu haben. Ihm dient es dazu, seine Macht immer mehr aufzublähen. Genossen, vergeßt diesen Herrn nicht! Präsentiert ihm die Quittung dafür . . .

Eberhardt legte den Artikel aus der Hand. Er war weniger darüber erbittert, als man es hätte annehmen können. In gewisser Weise interessierte es ihn sogar, zu 399 sehen, von welchem Standpunkt aus man seinen Aufstieg und sein Tun beurteilen konnte. Er wußte, daß es Krämers Feder war. Rachsucht? Nein; Vertretung der Interessen der Seinigen. Zugleich auch eine deutliche Ansage: hier ist die Grenze zwischen uns. Also ein ehrliches Spiel. Und sein Sinn für Form sagte ihm, daß er zweifellos eine Taktlosigkeit begangen habe.

Als er heimkam, sah er Grit bei der Lektüre des gleichen Artikels. »Wer hat ihn dir gegeben?« sagte er überrascht.

»Onkel Philipp. Was sagst du zu dem Artikel?«

»Vom Formalen abgesehen – ich meine, von meinem formalen Schnitzer, daß ich die Worte gebraucht habe – sind die Leute im Unrecht. Oder denkst du anders?«

»Ich kenne deine Begründung nicht«, sagte sie vorsichtig.

»Das sind meine Gründe: Ihr habt eure Interessen. Ich habe meine Interessen. Sie widerstreiten zuweilen. Dann ist die Frage: welches Interesse ist größer, oder besser gesagt, welches hat den größeren Wert? Da gibt es für mich nur eine Antwort: mein Interesse hat den größeren Wert, weil es gestaltender ist. Ich darf andere Ansprüche stellen. Ich baue auf und schaffe etwas. Die Arme der anderen führen es aus; gewiß. Aber sie hätten nichts auszuführen, wenn mein Kopf nicht für sie denken würde. Also darf man mich nicht mit Ihnen vergleichen.«

Grit schwieg. Sie schien noch etwas zu erwarten, ein letztes Wort, das abschloß und abrundete und den Kreis nicht offen ließ. Aber er hatte nichts mehr zu sagen. Er sah sie an und erwartete ihre Zustimmung. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Müdigkeit, die er sonst nicht an ihr 400 kannte. Eine gewisse Besorgnis überkam ihn: »Fehlt dir etwas, Grit?«

»Nein. Nichts. Und ich sehe auch ein, daß du im Recht bist. Und du wirst im Recht bleiben.« – –

In dieser Zeit war Schröder wieder in Bremen. Sie erfuhr es durch einen Zufall. Sie nannte diesen Zufall eine Fügung. Sie war völlig ruhig und beherrscht, beinahe heiter, als sie zu ihm ging.

Schröder erhob sich zögernd von seinem Schreibtisch. Seine Bewegung erschien mühsam, als sei er durch ein inneres Gewicht gehemmt. Mit dem Instinkt des Menschen, dessen Aufgabe es ist, den Ablauf seelischer Vorgänge zu gestalten, überlief er eine schnelle Reihe von Vorstellungen und Geschehnissen. Dann verbeugte er sich freundlich, lächelnd und freimütig. »Guten Tag, gnädige Frau. Das nenne ich – weiß Gott – eine Überraschung.«

Sie war ihm zutiefst dankbar für die Form, die er gefunden hatte. »Ich hörte, daß Sie wieder einmal im Lande seien. Da wollte ich nicht an Ihnen vorübergehen.«

»Das ist nett«, lachte er. Seine Stimme hatte einen verschleierten und versunkenen Klang. »Je älter wir werden, desto besser eignen wir uns zu Beichtvätern.«

»Resignation oder Hellsichtigkeit?« fragte sie.

»Beides. Darf ich bei meiner Wirtin einen Tee bestellen? Dann entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Sie legte ihre Handschuhe ab und gewahrte dabei, daß ihre Hände leicht zitterten. War es Takt oder Zufall, daß er ihr diesen Augenblick der Sammlung ließ? Gleichviel; sie segnete jetzt ihren Impuls, denn sie wußte, daß sie nicht ohne Klarheit und Bereicherung von hier fortgehen würde.

Als er wieder herein kam, balanzierte er ein großes 401 Tablett mühsam in den Händen. »Ein Junggeselle ohne manuelle Geschicklichkeit ist ein paradoxes Wesen«, sagte er. »Uff, ich habe es ohne Scherben geschafft.« Mit einem Seitenblick: »Äußerlich natürlich.«

»Und innerlich klirrt es? Sammeln Sie wieder Zorn in Ihrer Heimat?«

»Ja. Die Ausbeute ist wunderbar. Dieses Milieu ist nicht fruchtbar, aber sehr anregend.«

»Wenn Gleichmaß anregend wirkt«, sagte sie gedehnt.

»Das tut es. Wenigstens für mich, weil ich aus der Art geschlagen bin. Versuchen Sie diesen Biskuit, er ist ausgezeichnet. Man kann sich auch am Gleichmaß erregen, wenn man bereitwillig genug ist. Wie geht es dem Herrn Gemahl? Oder soll ich Eberhardt sagen?«

»Wie Sie wollen. Es geht ihm gut. Ich nehme an, daß es ihm gut geht. Er behauptet sich.«

Schröder nickte und schenkte ihr Tee ein. »Natürlich behauptet er sich. Er ist unverletzlich.« Und als sie ihn fragend und erstaunt ansah: »Ich meine es wirklich so. Alle Menschen dieses gesegneten Landstriches, die einmal so leidenschaftlich Zweifler und Verneiner waren, wie er, landen entweder da, wo die Schröders landen, oder sie bauen mit eisernem Willen ihren großen Optimismus des Daseins aus. Eine Zigarette?«

»Danke, ja. Was halten Sie von diesem Optimismus?«

»Nichts, wenn er alleine steht. Alles, wenn er sich zur nackten Sachlichkeit der Tatsachen bekennt. Die beiden Dinge stützen sich gegenseitig. Sie bleiben beide unerschüttert. Sie verhindern, daß der Mensch durch Zweifel 402 angekränkelt wird. Ich könnte Ihnen ein plastisches Beispiel geben.«

»Gerne«, sagte sie atemlos. Sie war erschüttert, wie tief er sie durchschaut hatte.

Er nahm ein Zeitungsblatt vom Schreibtisch. »Muß ich Ihnen den Artikel noch zeigen? Ich glaube nicht. Wenn Sie die Situation von Otto Krämer und Eberhardt Melchior gegeneinander abwägen, dann steht klar, daß Krämer im Nachteil ist. Es sind nicht nur die Tatsachen gegen ihn, sondern auch der Zorn, der Gegenteil des Optimismus. Er ist erschüttert. Eberhardt ist unberührt geblieben. Für ihn gibt es keine Unfälle mehr. Er glaubt an sich und an die Tatsächlichkeit. Darum sage ich, daß er unverletzlich sei.«

»Ist das alles?« fragte sie leise.

»Ist das nicht genug? Eines kommt allerdings hinzu . . . Der Optimismus und die große Versachlichung machen werktätig, aber unschöpferisch. Gleichwohl sind sie nicht der Tod . . .«

»Aber?« unterbrach sie ungeduldig.

»Für wen es keine Unfälle gibt, gnädige Frau, für den gibt es auch keine Ereignisse mehr. Es gibt nur noch Fortsetzungen. Und ich kann mir denken, daß eine Frau glücklich neben einem Manne ist, von dem sie weiß, daß er sie und sich gleichmäßig durch das Leben und seine Erscheinungen tragen wird. Wenn die Welt voll Götter wäre, Grit Melchior, wo blieben dann die gläubigen Menschen? Und wäre jeder ein Prometheus, wo blieben die, die auf das Feuer warten? Es gäbe allzuviel Leid . . . denn es ist schmerzhaft, an die Felsen der Welt gekettet zu sein und den Adler zu spüren, der einem immer wieder die Brust 403 aufhackt. Die Götter sind ungerecht, weil sie herrschsüchtig sind. Aber das Schicksal, Grit Melchior, ist gerecht.«

Er war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Er hörte, daß sie weinte. Er wandte sich nicht um. Das mußt du austragen, kleine Grit, dachte er. Du bist in eine Welt gekommen, die man nur bejahen oder die man nur fliehen kann. Du wirst sie bejahen. Nicht, weil du sie liebst, sondern weil du treu sein kannst. Aber die Treue kann auch schwer wiegen . . .

»Ja«, sagte sie plötzlich hinter ihm. Er schrak zusammen. Hatte er nicht nur gedacht? Hatte er es laut gesagt? Oder waren seine Gedanken wie die Schwingungen von Worten zu ihr gedrungen? Es blieb auf immer ungeklärt. Da es die letzte Begegnung ihres Lebens war, konnten sie es nicht mehr klären und aussprechen.

Sie plauderten noch eine Weile, sprachen von seinen Arbeiten und seinen neuen Erfolgen, tranken ihren Tee und rauchten kleine Zigaretten dabei, freuten sich aneinander und verabschiedeten sich, als würden sie sich bei nächster Gelegenheit wieder sehen . . . .

Zur gleichen Zeit hatte Onkel Philipp eine Besprechung mit Eberhardt. »Die Sache ist sehr peinlich, mein Junge. Du hast die Absicht, als einer hervorzutreten, der seiner Vaterstadt und allen seinen Bewohnern ein großes Geschenk gibt. Alle, die das jetzt für Bremen getan haben, gaben damit jedem etwas. Sieh dir den Stadtwald an. Er fragt nicht darnach, wer hineingeht. Sieh' dir die Skulpturen oder die Brücken und Bänke im Bürgerpark an. Sie sind für alle, ohne Unterschied des Standes. Wenn du jetzt mit deinem Plan für die Stadthalle kommst und sagst: der Stadt und euch allen, dann werden Tausende 404 fragen: wieso uns? Wir haben noch nicht vergessen, wie du dich über uns und unsere Not geäußert hast.«

Eberhardt war leicht gereizt: »Ich kann doch jetzt nicht hingehen und sagen, ich bäte um Verzeihung oder ich hätte es nicht so gemeint.«

»Nein. Aber du kannst dadurch ausgleichen, daß du die Forderungen der Arbeiter bewilligst.«

»Das kann ich nicht, weil ich zum Verband gehöre. Ich springe nicht aus der Reihe. Ich kann nichts tun, als über die Sache Gras wachsen zu lassen.«

»Geh' zu Krämer und sprich mit ihm darüber«, riet Philipp.

»Das kann ich nicht. Der Vorfall ist mir nicht wichtig genug, um eine solche Demütigung einzustecken.«

Philipp entschied: »Dann gehe ich. Ich vergebe mir nichts dabei und werde dich nicht desavouieren.«

Eberhardt ließ ihn gewähren, weil er selbst das Bedürfnis empfand, die Sache in einer anständigen Form aus der Welt zu bringen; dann auch, weil Philipp eben das Oberhaupt der Familie war und man sich seinen Entscheidungen fügte.

Philipp ging zu Otto Krämer in das Parteibureau. Da er aber dort wegen einer Sitzung zu lange warten mußte, ließ er bestellen, er würde sich erlauben, Herrn Krämer abends in der Wohnung aufzusuchen. Dort wurde er von der Mutter empfangen. Sie führte ihn in die gute Stube und nötigte ihn zum Sitzen. »Mein Sohn kommt sofort. Er ißt eben noch schnell ein Butterbrot.«

Dann kam Krämer und streckte ihm höflich die Hand entgegen: »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie heute nicht sprechen konnte . . .« 405

»Weiß wohl«, nickte Philipp. »Gibt viel mit dem Streik zu tun, was?«

Er sagte das ganz unbefangen. Aber Krämer wurde merklich vorsichtig und sagte zurückhaltend: »Die Sache bringt natürlich viel Arbeit mit sich. Insbesondere die Auszahlung der Streikgelder muß prompt vor sich gehen, damit die Leute uns nicht unter den Händen verhungern.«

»Ja, ja«, seufzte Philipp. »Das ist eine böse Zeit. Früher haben wir so etwas gar nicht gekannt. Aber heutzutage scheint ja alles auf den Kopf gestellt.«

Worauf wollte der alte Fuchs hinaus? Krämer lächelte: »Die Zeiten haben sich eben geändert. Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Senator?«

Philipp lachte: »Och, sagen Sie das doch nicht. Sie meinen wohl, ein Titel bleibt kleben wie eine Tätowierung?«

»Nicht der Titel bleibt kleben, sondern das Amt.«

»Ach was, ich will etwas ganz Privates von Ihnen. Das heißt: eigentlich will ich nichts von Ihnen haben, sondern nur etwas wissen.«

»Ich bin zu jeder Auskunft gerne bereit«, sagte Krämer betont höflich, »soweit ich dazu überhaupt in der Lage bin.«

»Was halten Sie von der Bedeutung des Stadtwaldes für Bremen und die Bremer Bevölkerung?« fragte Philipp unvermittelt.

Krämer machte große Augen: »Eine sehr segensreiche Einrichtung. Es ist nur bedauerlich, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse den großen Massen nicht gestatten, von dieser Einrichtung viel Gebrauch zu machen.«

»Sehr segensreich«, nickte Philipp. »Dasselbe werden 406 Sie vermutlich auch vom Bürgerpark sagen, nicht wahr? Werden Sie nur nicht ungeduldig. So alte Leute wie ich sind etwas schwerfällig. Ich will auch einen gehörigen Sprung machen und gleich auf das kommen, was ich will. Wie denken Sie über die Notwendigkeit einer Stadthalle für Bremen?«

»Stadthalle? Sehr schön. Es könnte weder dem Ruf noch dem Ansehen Bremens schaden. Aber dieser kleine, isolierte Staat hat schon Schulden genug. Es gibt auch noch soziale Aufgaben zu erfüllen. Draußen ist Streik, Herr Melchior. Sie scheinen das zu vergessen.«

Philipp wehrte leicht ab: »Vergesse ich gar nicht, mein Bester. Aber das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Wenn nun die Möglichkeit bestände, daß das nötige Geld der Stadt gratis zur Verfügung gestellt würde? Und gleich weiter: Würde sich Ihre Partei dagegen sträuben, daß der Staat das Gelände dafür zur Verfügung stellt? Gelände natürlich, das für irgendwelche Wohn- oder Siedlungszwecke gar nicht in Betracht kommt. Wie wäre dann die Sache? Und wenn dann für den Bau nur bremische Arbeiter und Betriebe beschäftigt würden, vom Architekten bis zum Handlanger und Schachtarbeiter? Wie wäre es dann?«

»Sie verfügen über eine sehr erfreuliche Phantasie«, sagte Krämer kühl. »Und meine Antwort wird Ihnen ja wohl klar sein: man sieht unter den angegebenen Voraussetzungen keinen Grund, sich gegen ein solches Projekt zu sträuben. Aber gestatten Sie mir die Frage, warum Sie mit solchen Erwägungen gerade zu mir kommen? Ich habe keinerlei Einfluß. Ich bin einfaches Mitglied der Bürgerschaft im Rahmen der sozialdemokratischen Partei. Das 407 ist alles. Und nun ich Ihnen meine Meinung gesagt habe . . .«

»Da wollen Sie mich rauswerfen?« fragte Philipp mit Nachdruck. »Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Krämer: Ihr Streik geht mich nichts an. Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen und Ihnen rundweg sagen, daß ich ihn für unberechtigt halte. Aber das alles, wie gesagt, steht hier nicht zur Debatte. Ich habe Sie um Ihre Meinung gefragt, um Ihnen die Möglichkeit zu folgendem Plan zu geben: Ihre Fraktion soll in der Bürgerschaft den Antrag stellen, eine Stadthalle zu errichten. Wenn Sie das wollen, will ich Ihnen sagen, woher Sie die Mittel dazu bekommen. Und zum Schluß: Sie, Sie persönlich, Herr Krämer, sollen diesen Antrag begründen. Verstehen Sie?«

»Keineswegs, Herr Melchior. Sie werden unter Ihren bürgerlichen Freunden Leute genug haben, die mit Freuden einen solchen Antrag stellen werden.«

Da faßte Philipp seine Hand und sagte leise und eindringlich: »Eberhardt bittet Sie darum.«

Krämer stand auf und ging zum Fenster. Er schwankte zwischen zwei Gefühlen, die ihrem Wesen nach unvereinbar waren. Da saß dieser alte, geriebene Fuchs und glaubte, er könne ihn betölpeln, wie es ihm passe. Der sich den Anschein der Vertraulichkeit gab, um dafür Anerkennung zu ernten. Und da war weiter, aus dem Hintergrunde her, so etwas wie eine menschliche Gebärde, eine halb erstickte, menschliche Bewegung, die von Eberhardt kam. Aber kam sie von Eberhardt? Wollte er wirklich ausgleichen und versöhnen, und hatte nur nicht den Mut, selber zu kommen? 408

Er drehte sich mit einem Ruck um: »Hat Herr Eberhardt Melchior Sie gebeten, mir das zu sagen? Ich frage Sie auf Ehre und Gewissen!«

Philipps rötliches Gesicht verfärbte sich mit dunkleren Tönen. »Eberhardt weiß, daß ich zu Ihnen gehe.«

»Bei allem schuldigen Respekt vor Ihrem Alter, Herr Melchior: das ist keine Antwort auf meine Frage. Oder es ist doch eine Antwort. Eberhardt weiß, daß Sie zu mir kommen. Aber er weiß nicht, was Sie mit mir besprechen. Ist es so?«

»Zum Teil«, gestand Philipp. »Ich betone aber ausdrücklich, daß ich jede Vollmacht habe, zu tun, was ich für richtig halte. Die Situation mag vielleicht nicht günstig erscheinen. Ich verrate Ihnen darum, daß dieser Plan schon seit Jahren gehegt ist. Die inneren Gründe dafür kann ich Ihnen leider nicht auseinander setzen.«

Krämer ging schweigend auf und ab. Dann sagte er leise: »Die inneren Gründe wird wohl jeder verschieden sehen. Man könnte es so sehen, daß er einen gewissen Grad der Sättigung erreicht hat. Dann ist die Zeit gegeben, etwas für das Gemeinwohl zu tun und seinen Namen in die kleine Ewigkeit hinüberzuretten. Ich will ihm dabei nicht im Wege stehen. Aber ich bitte Sie, mich nicht mit dieser Mission zu beauftragen. Ich fühle nicht die innere Berechtigung dazu. Die Partei, der Sie oder Ihr Herr Neffe angehören, ist besser geeignet. Ich vermag natürlich über die Stellungnahme unserer Fraktion nichts auszusagen.«

»Ohne Ihre Partei«, sagte Philipp unbedacht, »könnte der Antrag unter Umständen der Ablehnung verfallen.«

Da reckte sich Krämer mit einer schnellen Bewegung 409 auf: »Und das ist die ganze Geschichte. Da kommt der Pferdefuß zu Tage, und darum, Herr Melchior, sitzen Sie hier bei mir und erzählen mir, gerade mir, diese Dinge. Ich soll der Mittelsmann sein, das Projekt unserer Partei nahezubringen, um sie dafür zu gewinnen und einer Ablehnung in der Bürgerschaft vorzubeugen. Und dafür wird sich unsere Partei nicht gebrauchen lassen. Wir haben keinen Anlaß, Schrittmacher der Satten zu sein. Wir sind selber noch zu hungrig, in jeder Beziehung des Wortes.«

Philipp stand ruhig auf: »Das ist eine klare und bündige Antwort. Ich werde sie meinem Neffen überbringen. Aber eines, Herr Krämer, wollen wir als Ergebnis dieser Besprechung festhalten. Sie werden mir später nie leugnen können, daß ich mit meinem Besuch und mit meinem Angebot ihrer Partei die Möglichkeit gegeben habe, daß viele hunderte von Arbeitern auf Jahr und Tag hinaus Verdienst und Brot haben; daß Ihrer Partei die Initiative angetragen worden ist, etwas Entscheidendes für das Allgemeinwohl zu bewirken. Ich habe Ihnen die Hand geboten. Sie haben sie zurückgewiesen. Ich sehe, Sie wollen sagen, es wäre eine Gebärde. Gestatten Sie mir die selbstgefällige Bemerkung, daß diese Gebärde keine schlechte war.«

Sie standen an der Türe und verabschiedeten sich. »Wer war das?« fragte Albert Krämer.

»Ein Komödiant«, sagte Otto und griff zu einem Buche. – – – –

Philipp ging zur Contrescarpe und klingelte Sturm. Mit Hut und Stock bewaffnet betrat er den Teesaal. Rosigste Heiterkeit war in seinem Gesicht. »Kinder, legt 410 die Bücher weg. Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu tun.«

»Was gibt es Gutes?« fragte Grit überrascht.

Philipp stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte massig und laut: »Eine Stadthalle!«

Grit ließ das Buch fallen: »Mein Gott, ist das so schnell gegangen?«

Eberhardt war aufgesprungen. »Was hast du gemacht? Wie kommt das mit einem Male?«

»Interessiert euch die Vorgeschichte?« lachte Philipp. »Na, dann will ich sie euch erzählen. Schmeichelhaft ist sie für dich, mein Junge, gerade nicht.«

Er setzte sich und wiederholte mit allen Einzelheiten, die sein geschultes Gedächtnis aufbewahrt hatte, die Besprechung mit Krämer. Grit saß zusammengesunken da und ließ sich kein Wort entgehen. Eberhardt hatte ein nervöses Zucken um die Augen. Mit jedem Satz wurde ihm beklommener zumute. Er sah da keinen Grund zur Freude. Es ging ja alles auf eine glatte und ungeschminkte Ablehnung hinaus. Auch Grit sah das Ende voraus und wußte keine Deutung. Als er geendet hatte, hob sie den Kopf und sagte: »Du schuldest uns wohl noch die Begründung für deine Freude.«

»Aber es ist doch alles so einfach«, jammerte Philipp. »Seht ihr denn nicht, daß er in der Zwickmühle steckt? Den Antrag wird seine Partei nicht stellen. Wird ihn auch nicht stellen können, weil sie ja gar keine Unterlagen in der Hand hat. Den Antrag wird einer aus unserer Partei stellen, nachdem wir ihr offiziell unser Angebot zur Weitergabe an Senat und Bürgerschaft übermittelt haben. Aber seine Partei wird nicht anders können, als 411 für diesen Antrag stimmen. Sie haben kein Recht dagegen zu sein. Wenn sie dagegen sind, wird man ihnen vorhalten können: Ihr selbst hattet einmal die Möglichkeit, hier etwas Gemeinnütziges zu schaffen. Ihr habt es nicht getan. Wo ist euer sozialer Sinn? Ihr selbst verhindert, daß Geld unter die Leute kommt. Das werden sie sich nicht sagen lassen und dürfen es auch nicht. Folglich werden sie dafür stimmen.«

Grit sah ihn ernst an: »Sag mal, Philipp, hast du überhaupt ernsthaft daran gedacht, den Antrag Krämer zu überlassen?«

Er lachte dröhnend: »Nicht im Traum. Mir lag nur an der Zwickmühle. Und die ist da.«

Philipp erfuhr nie, wie sehr Grit unter dieser Antwort gelitten hatte. Sie war so empört, daß sie stillschweigend den Raum verließ. Er dachte, es sei die Erregung über das schnelle Gelingen und entfernte sich zufrieden.

Als Eberhardt in das Ankleidezimmer kam, stand Grit mitten im Raume, als habe sie die ganze Zeit auf ihn gewartet. Der Ausdruck ihres Gesichtes war von einer harten Entschlossenheit. »Was sagst du zu Philipps Erzählung?« fragte sie.

»Sie ist peinlich«, gestand Eberhardt. »Mir liegen solche Dinge eigentlich nicht.«

»Das ist alles?«

Er sah überrascht auf. »Nun ja. Erwartest du mehr?«

»Ich erwarte, Eberhardt, daß du es nicht zuläßt, daß solche Dinge in das Parteigetriebe und in die kleine Diplomatie hineingedrängt werden. Ich erwarte von dir, daß du die Stunde nicht vergißt, in der dieser Gedanke 412 entstanden ist; und nicht den Sinn, den wir beide damit verbinden wollten . . . Wenn du mir sagst, Du hättest Stunde und Sinn vergessen . . . dann will ich mir Mühe geben, auch Sinn und Stunde zu vergessen . . .«

»Warum wirst du so heftig, Grit?«

»Weil du es nicht wirst. Weil du es nicht schon geworden bist, als Philipp mit seiner Erzählung zu Ende war.«

Er faßte ihre Hände: »Grit, ich verstehe sehr gut, daß du eine Abneigung gegen diesen Weg hast. Und wenn du willst, bin ich gerne bereit, auf diesen Weg zu verzichten . . .«

Sie machte ihre Hände frei: »Auch das genügt mir nicht. Du sollst mir keinen Gefallen tun. Du sollst nur darauf achten, daß die Idee – hörst du: die Idee! – nicht so jämmerlich zugrunde geht. Versuch, ob du es kannst. Versuch, ob du noch etwas retten kannst . . . die Idee . . . und mich . . . und dich!«

Eberhardt senkte den Kopf. Er horchte. Das schien wie ein Anruf aus einer anderen Welt. Es war keine fremde Welt. Er hatte sie einmal durchwandert und durchstreift und . . . durchlebt. Wie fern solche Welten werden können, wenn das Gewicht des Tages und der Tatsachen sich dagegen stemmt! Es bleibt von ihnen ein Hauch, eine Erinnerung wie an einen Duft . . . ein leises Heimweh, das keiner beschwichtigen kann. Vielleicht kann es die Liebe tun, die Liebe zu dem Weggenossen und zu dem Kinde, das einmal den Weg fortsetzen soll . . . vielleicht die Liebe zu dem Werk, das man aufbaut . . . der Glaube, man sei nicht nutzlos auf der Welt . . . die Hoffnung, daß hinter dem ewigen Wechsel von Ebbe und 413 Flut, der das Tun seines Alltags regierte, mehr an Sinn und Geltung stände als eben der Sinn des jeweiligen Tages.

Als er aufsah, war Grit gegangen. Er war allein und seiner eigenen Entscheidung ausgeliefert. Er drückte die Hände gegen die Schläfen, die ihn schmerzten . . .

In diesen Tagen opferte er sein Gruppengefühl seiner Pflicht gegenüber Grit. Auf seine Anregung hin trat ein neues Schiedsgericht zusammen. Sein Einfluß wog schwer genug, den Streik zu beenden. Er versöhnte, schlichtete, glich aus und machte wieder gut, was seine unbedachten Worte an Bitternis erzeugt hatten. Nicht einen Augenblick dachte er bei alledem an sich. Es galt die Rettung des Menschen, ohne den er nicht leben konnte, weil alle Innerlichkeit und alles Schwingende des Daseins von ihm kamen: Grit . . . 414

 


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