Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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2. Kapitel.

Hermann Melchior sichtete die Posteingänge, ruhig und aufmerksam wie immer. Auf jeden Bogen setzte er die steilen, in den Kanten scharf und eckig abgesetzten Buchstaben und Zeichen. Dann legte er das Blatt nach links hin in den Korb.

Groß vor ihm, mitten auf dem kahlen Schreibtisch, stand der Tafelkalender. Die Ziffern ragten schwarz und deutlich, zu deutlich, wie es ihm schien. Dieses einfache Instrument, das ihm den Rhythmus und Ablauf eines jeden Tages seit endlosen Jahren anzeigte, hatte heute ein eigenes Gesicht, ein mahnendes, ein vorwurfsvolles; es war wie ein Auge, das kein Erbarmen aus sich herauslassen wollte. Es war wie Hermann Melchiors Auge.

Er vermied es, dahin zu sehen. Es schien ihm heute nicht nötig. Tage laufen, und man kann sie nicht aufhalten. Nur wenn man – wie in diesem Augenblick – eine fröstelnde Unruhe bei diesem Gedanken empfindet, wird die Schwere dieses Ablaufs fühlbarer als sonst. Man hat die entfernte Vorstellung, der alte Mut sei ins Wanken geraten und man nähere sich der nackten und unleugbaren Feigheit. Aber so viel Hermann Melchior den Blick auch zwingen. mochte, er irrte immer wieder seitwärts ab. Er umstrich Dinge, die ein Menschenleben lang in diesen Räumen standen und hingen, und von denen er – wenn er es jetzt recht bedachte – ein 265 Menschenleben lang keine wirkliche Kenntnis genommen hatte. Da war der Sessel von Urgroßvater Melchior; ein Staubfänger, im Rücken und an den Lehnen mit Schnitzereien überladen. Er liebte ihn nicht und er störte ihn nicht; aber er hätte nie zugegeben, daß man ihn aus diesem Zimmer entfernte. Da hingen über der niederen, schwarzen Reole die beiden verblaßten Daguerrotypen von Jakob Melchior und seinem Sozius, Peter Kuhlmann. Und hier und dort verstreute Reliquien, Beweise einer Vergangenheit; aber nicht mehr Mahner und Verkünder einer Vergangenheit.

Vergangenheiten mahnen nur in den großen Stunden der Not oder der Freude. Daß sie heute beginnen wollten zu mahnen, war ein böses Omen.

Ein Schreiber kam und holte den Korb mit den Briefschaften. Hermann Melchiors Gesicht wies keine Spur von Erregungen auf. Seine Stimme war in nichts von dem bedächtigen Gleichmaß unterschieden, mit dem er sonst am Morgen seine Anordnungen gab. Nur saß zwischen den Augenbrauen eine ungewohnte Falte aus Staunen und Fragen, warum es gerade heute nötig sei, sich mit all diesen kleinen Zeichen aus Tradition und Vergangenheit zu beschäftigen. »Das ist das böse Gewissen, Hermann«, raunte es aus den Winkeln.

Er ruckte mit dem Kopfe aufwärts und wollte wieder auf den Kalender sehen. Aber die Augen glitten einfach über die Zahlen hinweg. Sie weigerten sich, den Tag und sein Gewicht zu begreifen. Sie erblindeten in unbewußter Abwehr. Doch hartnäckiger als je warfen sie sich auf den alten Sessel und die blassen Bilder. Sie unterlagen einer Schwäche des Rückdenkens und einer zwanghaften 266 Erinnerung. Und da saß plötzlich – so wahr er selbst an seinem Schreibtisch saß – der alte Jakob Melchior in seinem Sessel und sah starr vor sich hin auf den Boden. Und auf den Bildern über der niederen, schwarzen Reole war eine deutliche Bewegung zu vermerken. Einen Augenblick hielt Hermann Melchior den Atem an; nur für die Sekunde, die er brauchte, über Stirne und Augen zu wischen und die Unwirklichkeit dieses Bildes zu verscheuchen. Er wußte: man sieht in solchen Augenblicken nur das, was in der Furcht der Vorstellung schon zu stark geworden ist. Also fürchtete er, Hermann Melchior, die Schatten dieser Alten, ihre ruhigen Gesichter, dieses feste, gerade Gewissen. Also . . .

Er stand auf, nahm den Kalender in die Hand und trat damit an das Fenster. Er hielt ihn voll in das Licht, daß die Zahlen wie aus schwarzem Granit gemeißelt standen, und las laut: Dienstag, den 18. April . . .

Dann ging er auf seinen Platz zurück. Nun war es heraus. Er hatte der Zahl, dem Tag, dem Ereignis ins Auge gesehen. Niemand konnte ihn mehr feige schelten, und allem, was nun kam, war nicht mehr auszuweichen. Jetzt mochten die Schatten aus den blassen Bildern ernst und mahnend ihre Blicke auf den Boden richten: sie änderten nichts an der Tatsache, daß heute der 18. April war, ein Verfalltag. Zwar einer unter vielen hunderten in seinem Leben, aber doch von ihnen dadurch unterschieden, daß neben ihm eine Verpflichtung stand, die er nicht einlösen konnte. Das war nun einmal ein Faktum, und man konnte sich deswegen nicht aufhängen. –

Aber die Vision der Vergangenheit erhob sich aufs neue gegen seine Kaltblütigkeit. Unverrückbar saß Jakob 267 Melchior in dem geschnitzten Sessel. Heftiger und wahrnehmbarer kamen die Bewegungen aus den blassen Bildern her. Und Jakob Melchior sah nicht mehr auf den Boden; er sah auf den Schreibtisch des Urenkels, auf den Kalender mit den schwarzen Zahlen; stumm, unablässig, ein steinerner Gast. Da half es nicht mehr, sich über Stirne und Augen zu wischen. Da zitterte die Hand und schlug endlich auf den Tisch: Ich kann's nicht ändern. Es ist eben Pech. Basta.

Seltsames, phantastisches Echo aus den Ecken her . . . oder aus dem geschnitzten Sessel . . . oder aus den dunklen Bilderrahmen: unreell!

Hermann zuckte ein wenig zusammen. Das hatte niemand gesagt. Niemand hatte dieses Wort ausgesprochen. Aber da sein Ohr es untrüglich gehört hatte, wußte er, daß die Schwingungen seines Gewissens sich zu Wort und Sprache verdichtet hatten. Und so mußte er diesen Schlag und diesen Schimpf hinnehmen: unreell!

Er lächelte schmerzlich vor sich hin. Opa Jakob, sagte er zu dem geschnitzten Sessel hinüber, weißt du, Opa Jakob, man hat es nicht leicht heute. Wir gelten eigentlich nichts mehr; nur noch unsere Ware. Müller, das ist nicht mehr Müller, das ist die Baumwolle von Müller. Man guckt in unsere Speicher hinein . . . und nicht mehr in unsere Herzen. Schlimm . . . aber was soll man tun? Schlimme Zeit, Opa Jakob . . .

Er sann vor sich hin. Dann raffte er sich auf. »Bertram«, rief er.

Der Prokurist kam und stellte sich vor den Schreibtisch. »Bißchen blaß sind Sie«, sagte er.

»Ja. Schlecht geschlafen.« 268

Bertram nickte: »Glaub' ich«. Dann tippte er mit dem Finger auf den Kalender; »Der achtzehnte«.

»Ja.«

»Wir müssen Differenz zahlen.«

»Nein!«

»Wir können also liefern?«

»Nein!«

Bertram lächelte mitleidig: »Dann müssen wir doch in Gottes Namen Differenz zahlen.«

Hermann Melchior atmete schwer: »Wir müssen in Gottes Namen Partien suchen, und wenn wir jeden Waggon mit Goldstücken aufwiegen müssen.«

Bertram fuchtelte mit den Armen: »Ach was. Wir haben nach Bremer Schlußschein verkauft.«

»Weiß ich.«

»Also. Soll sich der Frundt – hol's der Teufel – auf der Börse eindecken oder zu Witte gehen und den Preis fixieren lassen. Mehr kann er doch nicht verlangen. Und wir haben auch kein Geld wegzuwerfen.«

Hermann schüttelte den Kopf: »Was Sie da sagen, ist richtig, und vor dem Handelsgesetzbuch und dem Schlußschein ist das in Ordnung. Und wir haben auch gewiß kein Geld wegzuwerfen. Aber ich werde liefern.«

Bertram rang die Hände: »Das ist doch eine Marotte von Ihnen! Wir haben doch nicht nötig, zu liefern. Wenn der Preis heute fixiert wird, kommen wir mit einem blauen Auge weg. Wenn Sie aber jetzt auf den Markt laufen und Ware fragen, dann schaffen Sie künstlich eine Nachfrage und bringen vielleicht Preise zustande, daß Ihnen die Augen übergehen.« 269

Hermann sah nach dem alten Sessel und sagte: »Das ist mir egal.«

Bertram überschrie sich: »Frundt spekuliert. Er ist ein ganz gewöhnlicher Spekulant. Ihm ist auch nichts damit gedient, daß er die Ware bekommt. Die Differenz ist ihm genau so viel wert. Sie treiben da altmodische Dinge, und die Leute werden darüber lachen, wenn sie es hören!«

»Sollen sie lachen. Gerade den Frundt, gerade den Spekulanten, beliefere ich. Da soll kein Kilo fehlen. Und schließlich tue ich es für mich, und nicht für die Leute.«

»Mit allem schuldigen Respekt: verrückt und Hirngespinst.«

»Es gibt Menschen«, antwortete Melchior kühl, »die von solchen Hirngespinsten leben. Zu denen gehöre ich. Wenn mein Name unter einem Kontrakt steht, dann wird er erfüllt. Ich bin kein Terminjobber. Ich handle mit Ware, aber ich spekuliere nicht damit. Und darum Schluß mit der Debatte. Es wird geliefert, denn es ist noch Ware auf dem Markt.«

Bertram zuckte die Achseln: »Ich weiß keine.«

»Aber ich.«

»Dann wissen Sie mehr als ich.«

»Das wird wohl so sein.«

»Und wenn Sie welche wissen, dann ist es doch zwecklos. Ich hab' mir nämlich schon gedacht, daß so etwas wie das hier bei der Sache herauskommen würde. Und da ich ja schließlich als Prokurist auch noch so einige Befugnisse habe . . .«

»Na?«

». . . habe ich Frundt angerufen, er sollte den Preis festsetzen lassen. Das ist die Geschichte.« 270

Hermann Melchior dachte einen Augenblick nach. Ein leises Kopfschütteln, ein verstohlenes Lächeln aus Stolz, Überhebung und Selbstbewußtheit. Dann hob er den Hörer und rief Frundt an.

»Herr Frundt? . . . Melchior, Hermann. Mein Prokurist Bertram hat vorhin mit Ihnen gesprochen . . . Ja, ich weiß . . . Haben Sie den Preis schon fixieren lassen? . . . Also noch nicht . . . Gewiß, Sie haben Zeit bis 13 Uhr. Aber Sie können es sparen. Die Partie wird geliefert . . . Jawohl. Ich wiederhole: die Partie wird ausgeliefert. Herr Bertram war vorhin falsch orientiert . . . . Jawohl. Guten Morgen.«

Er legte den Hörer hin, stand auf und nahm Hut und Stock. Bertram stand am Schreibtisch und schwieg verbissen. Melchior sah ihn von der Seite an. Er wollte an ihm vorübergehen, aber er brachte es nicht über sich. Er drehte sich um und faßte seine Schultern: »Narren und alte Leute kann man schwer umkrempeln, lieber Bertram. Ich weiß, daß ich Sie jetzt verletzt habe. Seien Sie mir nicht böse darum. Ich bin ein alter Mann, der aus seiner Haut nicht mehr heraus kann. Ich habe immer nur eines gekannt: hundertprozentig gerade stehen. Und wenn einem dabei das Rückgrat abbricht: gerade stehen. Das ist mein Stolz. Mitunter meine ich . . . Ja, ich meine so mitunter . . . als hätte ich nichts mehr als diesen Stolz . . . alles andere: Geld, Geschäft, Familie . . . alles andere sei gar nicht so wichtig . . . vielleicht ein falsches Wort. Man müßte sagen: gibt nicht die Befriedigung, wie sie ein Wort gibt, das man aus der Hand läßt und das man dann einlöst. Bertram, Mensch, verstehen Sie das doch: wenn die Leute auf mich mit den Fingern zeigen, dann 271 sollen sie nicht sagen: er gaunert, er rafft, er schlingt; dann sollen sie sagen: er steht zu seinem Wort . . . eisern . . . bis ihm das Rückgrat abbricht . . . So.«

Damit wandte er sich zum Gehen. Bertram sah ihm nach, und es schien ihm, als sei der Gang seines Chefs nicht mehr so straff und gespannt wie sonst. Er hatte leise Unruhe und ging hinter ihm drein. »Noch ein Wort, Herr Melchior. Sie sagten, es sei noch Ware auf dem Markt. Wo ist welche?«

Der Alte sah in die Ecke des Zimmers, dahin, wo der Sessel des Jakob Melchior stand, und antwortete leise: »Bei Eberhardt Melchior . . .«

»Das . . . das dürfen Sie nicht, Herr Melchior! Sie dürfen nicht zu Ihrem eigenen Jungen gehen. Sie dürfen nicht! Begreifen Sie denn nicht, was das bedeutet?«

Hermann Melchior reckte sich auf und lächelte etwas müde: »Was das bedeutet? Das bedeutet, Bertram . . . das bedeutet, daß da jemandem das Rückgrat abbricht . . .«

Dann ging er hinaus.

Bertram, blaß, in seiner stillen, bescheidenen Seele aufgewühlt, sah ihm nach und wehrte sich gegen ein würgendes Gefühl im Halse. »Mensch . . . Mensch . . . daran gehst du wirklich zugrunde . . .«


Hermann Melchior ging langsam durch die Straßen. Er hatte ein Gewicht in den Gliedern, das er früher nie in dieser Schwere verspürt hatte. Wird wohl das Alter sein, dachte er. Oder der Frühling. Der kommt so merkwürdig in diesem Jahre, so wie kaltes, blankes Eisen.

Er ging über den Markt, blieb einen Augenblick stehen und sah auf das Dach des Rathauses hinauf. Eine 272 stählerne Sonne, wie nur die Nähe des Meeres sie kennt, lag über den grün belaufenen Kupferplatten. Über der Wetterfahne war ein Gleißen und Sprühen von zerstreutem Licht. Hermann Melchior freute sich darüber, als habe er dieses Bild zum ersten Male gesehen. Aber er ärgerte sich zugleich, daß er hier stand und sich an unnütze Dinge verschwendete, während die Stunden, die schweren, gewichtigen Stunden dieses Tages immer weiter liefen. Er sah zur Börsenuhr hinauf: 11 Uhr. Also noch eine Stunde . . . 60 Minuten . . . also noch eine Ewigkeit . . .

Vor dem Hause in der Langenstraße machte er Halt, betrachtete das Pflaster und vermied es, das schwarze Firmenschild aus Granit mit den goldenen Buchstaben darauf anzusehen. So schwer hatte er sich diesen Weg doch nicht gedacht. Er stützte sich mit beiden Händen auf seinem silbernen Krückstock: so muß der Vater in seinen alten Tagen zu dem eigenen Sohn gehen und sich vor ihm demütigen? Vergeblich, sich einzureden, es sei ein reguläres Geschäft zwischen zwei Firmen, der gewöhnliche, täglich erlebte Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. Es lohnte nicht, sich hier etwas einzureden. Vor seinem Herzen, seiner Seele und seinem Gewissen war Hermann Melchior bankerott . . .

Er ging weiter und tastete wie ein Blinder mit dem Stock den Saumstein entlang.

Oben aber, im Erker des Privatkontors, stand Eberhardt Melchior und sah seinem Vater nach. Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf. Die schmale Hand zitterte, als sie die Asche von der Zigarre streifte. Er wußte nicht, was in ihm vorging, erkannte nicht einmal die 273 Richtung seines Willens. Aber seine Augen brannten hinter dem Alten her, wie er die Straße weiter entlang ging. Sie griffen ihn im Rücken an mit Blicken, die wie die Arme eines Polypen sich anhängten und festsaugten: du sollst zurückkommen . . . du mußt hier her . . . Heute wird ein Konto ausgeglichen. Heute wird hier ausgerechnet, ob ich vor mir selbst im Debet oder im Kredit stehe . . .

Als wäre er von den Blicken des Sohnes körperlich getroffen und berührt, als hätte ihn dieser aufgereckte, gerüstete Wille mit hörbaren Stimmen gerufen, drehte sich Hermann Melchior mit einem Male um und kam die Straße zurück. Eberhardt erblaßte und trat schnell vom Fenster weg, damit er nicht gesehen würde. Er hätte aufschreien mögen vor Freude . . . er hätte aufstöhnen mögen vor Furcht und Beklemmung. Da kam ja nicht nur der Kaufmann Hermann Melchior . . . es kam auch der Vater; einer, der mit der Macht der Autorität und des Befehls ausgerüstet war. Aber heute durfte das nicht gelten. Er nahm die blaue Mappe, die auf dem Schreibtisch lag. Er schlug sie mit einer hastigen Bewegung auf. Blatt über Blatt gehäuft lagen da die Dokumente, diese Bürgen und Zeugen seiner Macht . . . und seines Willens. Nur darauf kam es an. Er hatte sich zu behaupten und zu bewähren. Alles andere – dieses ganze trübe Gemisch aus Gefühlen und verschütteten Kinderängsten, diese Reliquien aus Familientradition und Gemeinschaftsgefühl – alles andere ging ihn in diesem Augenblick nichts an. Er spürte, wie ein stählernes Gerüst in ihm aufwuchs, ihn steifte, stärkte, sein Rückgrat gerade machte . . . er schloß die Mappe, legte schwer die Hand 274 darauf und sagte durch die eng geschlossenen Zähne: »Da! . . . Das da!«

Die Türe wurde aufgerissen, Hamerling wischte herein, zupfte mit beiden Händen an seinem Querbinder und stöhnte: »Alles steht Kopf! Der Alte ist da!«

»Ich weiß«, sagte Eberhardt ruhig. Er ging an Hamerling vorbei in das Hauptkontor. Es gab ihm doch einen Riß, wie er den Alten da stehen sah, weißhäuptig, Hut und Stock in der Hand, die Schultern leicht gebeugt, und mit einem verhaltenen Schmerzenszug, wie einer . . . wie einer, der nach Kanossa geht. Das Personal saß da mit verhaltener, lüsterner Anteilnahme; begierig auf diesen großen Moment der Begegnung zwischen Vater und Sohn.

Aber Eberhardt gab ihnen das erhoffte Schauspiel nicht. Er streckte beide Hände aus und winkte: »Tag, Vater. Das ist nett, daß du mal reinspringst.«

»Tag Eberhardt«, antwortete der Alte. Er atmete um einen Schlag leichter, daß wenigstens dieser Anfang ohne allzu große Last war. Und daran erkannte er die Seinigen: man gibt dem Volke kein Schauspiel. »Nett hast du es hier. Sieht alles ein bißchen hochmodern aus.«

»Der Zug der Zeit«, lachte Eberhardt. »Komm rein und sieh dir mein Privatkontor an.«

Sie entschwanden den Blicken der Angestellten. Kaum hatten sie die Türe hinter sich geschlossen, als in ihren Zügen die große, entscheidende Wandlung vor sich ging. Der Sohn nahm seinen gewohnten Platz hinter dem Schreibtisch ein. Vor ihm, in dem Klubsessel, wie irgendein beliebiger Kunde oder Makler oder Händler, saß der Vater. Das war eben der Platz, auf dem diejenigen 275 saßen, die etwas von Eberhardt Melchior wollten. Und so war die Verteilung der Plätze in höchstem Maße gerecht. Nur, während er sonst mit stiller Verbindlichkeit nach den Wünschen des Besuchers zu fragen pflegte, blieb er jetzt stumm und wartete.

Das waren die Sekunden des Wartens, in denen diese beiden ihr Leben und seinen Ablauf gegeneinander stellten, sich und den anderen maßen und abwägten; ausrechneten, was sie an Leid und an Freude, an Mitgefühl und Gegnerschaft einander gegeben hatten. »Das bittere, bittere Schicksal«, dachte Hermann in sich hinein. »Die große, große Gerechtigkeit«, fühlte Eberhardt seinen Herzschlag. So fühlten sich beide in ihrem Dasein bestätigt . . . und zwischen ihnen klaffte der ewige Abgrund der Selbstbejahung . . .

Endlich fing Hermann Melchior an zu sprechen: »Markt ist schlecht.«

Eberhardt nickte: »Flau. Gar nichts los.«

Dann wieder Schweigen.

»Die Makler laufen sich die Beine aus«, fuhr Eberhardt fort. »Aber man weiß ja gar nicht, wie es wird. Heute gibt man ab, morgen sitzt man vielleicht blank. Schlechtes Geschäft.«

»Es ist ja noch Ware genug da«, tastete der Alte. »Aber sie wird zurückgehalten.«

»Mit Recht, Vater. Verkaufen ist heute kein Kunststück. Greifbare Ware haben: darauf kommt es an.«

Die Stimme des Vaters wurde etwas betonter: »Es ist ein merkwürdig spekulativer Zug ins Geschäft gekommen. Ich meine: so ganz im allgemeinen. Früher nahm man die Sache so auf, daß ein Kaufmann und 276 Importeur sich . . . sagen wir: als Instrument fühlte, als einer, der verantwortlich war. Die Bevölkerung braucht dieses und jenes. Der Kaufmann muß es besorgen. Er muß es gleichmäßig besorgen, damit keine Stockung eintritt, und er muß es zu Preisen besorgen, die einigermaßen stabil sind, damit ein Lebensstandard entstehen und die Bevölkerung rechnen kann. Das ist seine Vermittleraufgabe. Das ist sein nobile officium

»Der Handel ist keine Wohlfahrtseinrichtung«, sagte Eberhardt kalt.

»Es ist noch kein Kaufmann bei einem regulären Geschäft verhungert«, erwiderte Hermann Melchior.

»Wir haben mit solchen Sentiments nichts mehr zu tun«, erklärte der Sohn gelassen. »Das patriarchalische Verhältnis, das du da andeutest, würde uns nur den Hals brechen. Wir stehen nicht alleine da, sondern wir haben Konkurrenten. Wir sind jeweils genau so stark, wie unsere Konkurrenten schwach sind.«

»Ich habe nichts gegen den freien Wettbewerb. Er ist . . .«

»Er ist eine Fiktion«, unterbrach ihn Eberhardt. »Er ist in Wirklichkeit ein unfreier, ein erzwungener Wettbewerb. Ich habe die Verpflichtung, meinen Konkurrenten aufs Knie zu zwingen. Sonst zwingt er mich. Es gibt mehr Konkurrenten, als für den Warenumsatz nötig sind. Darum muß der andere, der unnötige, beseitigt werden.«

»Und wem dient das?« grollte der Alte.

»Mir. Meiner Machtstellung. Meiner kaufmännischen Vorherrschaft. Meiner überragenden Position im Wirtschaftsleben.« Er sprang auf, nahm die blaue Mappe in die Hand und hielt sie wie im Triumph hoch: »Hier . . . 277 da liegen die Kontrakte. Da liegt die Ware. Alles hungert nach Ware. Da ist sie. Herr Meyer und Herr Müller und Herr Schulze müssen zu mir kommen, zu Eberhardt Melchior, und müssen schön bitten: geben Sie uns etwas Ware ab, Herr Melchior. Und dann überleg' ich, ob ich ihm gebe und den Preis verlange, an dem er sich die Zähne ausbeißt, oder ob ich ihm sage: nicht ein Korn bekommen Sie von mir. Gehen Sie meinetwegen Pleite, wenn Sie Ihre Kontrakte nicht erfüllen können. Dann sind Sie aus dem Wege. Dann ist einer weniger, der mir das Wasser abgräbt!«

Hermann Melchior sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Eine unheimliche, fremde, bedrückende Welt stand da vor ihm. Es war nicht seine Welt. Es war ein Inferno der Selbstsucht und der Machtgier und des Rufes nach Geld und Besitz. Es war eine Welt, in der alles Gerade krumm wurde und aller Sinn des Tuns sich zu wägbaren und meßbaren Größen erniedrigte. Eine Welt, die keine Verpflichtung anerkannte, die nicht der Allgemeinheit wegen da war, sondern um der eigenen Macht willen. Gewiß, auch in seiner Welt hatte er sich nie verschenkt und vergeudet, aber immer hatte er doch wie heimlicher, stolzer Besitz um seinen Wert im Rahmen des Ganzen gewußt; stärker als dieser Spekulant hier um seine sittliche Sendung und Bedeutung im Umschlag von Gut und Geld gewußt.

Er stand auf, zitternd in den Knien, die rechte Hand in unbewußter körperlicher Abwehr ausgestreckt. Eine Falte aus Scheu und Widerstand und Verachtung lag deutlich um den gefurchten Mund. Er suchte nach seinem Hut und konnte ihn in der Aufregung nicht so schnell finden. 278 Er konnte aber auch hier nicht länger verweilen und taumelte, barhäuptig, den silbernen Krückstock vor sich herstoßend, der Türe zu.

Eberhardt ernüchterte. Er ließ die Mappe auf den Schreibtisch fallen. Undeutlich hatte er das Bewußtsein, Dinge gesagt zu haben, die den alten Mann mit der Schwere einer Beschimpfung treffen mußten. Er lief ihm nach und hielt ihn an den Schultern fest: »Aber Vater, was ist denn?«

»Laß mich los!« keuchte der Alte. »Fass' mich nicht an! Ich bin nicht Herr Meyer oder Herr Müller oder Herr Schulze . . . und du kannst mir sagen: machen Sie Pleite, mein Herr. Ich gebe Ihnen keine Ware, kein Korn . . .«

»Ich hab' nicht von dir gesprochen, Vater . . .«

»Das war für alle gesagt. Jetzt habe ich dein Gesicht zum ersten Male ganz deutlich gesehen . . . und Pleite machen, ja . . . wenn das sein muß, dann kann ich es ohne dich. Dann brauche ich mich nicht erst vor dir, vor dir zu demütigen . . . du . . . du Spekulant!«

Er stieß ihm die Faust vor die Brust. Eberhardt taumelte zurück. Nicht der Schlag traf ihn mit solcher Schwere, sondern dieser grell aufflackernde Haß, diese fanatische Abgrenzung von Welt gegen Welt. Zum ersten Male empfand er Zweifel an der Richtigkeit seiner Idee, mit der er seine Tätigkeit ausübte und trug.

Er stemmte die Fäuste vor sich hin auf den Schreibtisch. Was anders hatte er getan, als die Lehren der Vorfahren zu Ende gedacht? Er lebte nicht mehr in der Zeit der Kontore zu Brügge; nicht mehr in der Zeit, zu der am gemeinsamen Mittagstisch alle Lehrlinge und 279 Kontoristen saßen und der Patriarch so gut den Braten wie das Gehalt austeilte.

Er sah nach der Uhr. Es war beinahe zwölf. Er lief plötzlich an das Erkerfenster, in der Hoffnung, er könne seinen Vater noch sehen. Aber aus dem Wirrwarr der vielen Menschen war die gebeugte Gestalt mit den weißen Haaren nicht mehr zu finden.

Eberhardt war unruhig. Wozu dienten letzten Endes solche Aussprachen? Er würde doch nie überzeugen, und was lohnte die Geschwätzigkeit, wo es ihm nur darauf ankam, vor sich selber im Recht zu sein und die Stellung zu befestigen, nach der er strebte? Er verwünschte seinen Wortreichtum. Man erschlägt einen Konkurrenten; wohl, aber man spricht nicht darüber. Man verzichtet auf die Eitelkeit, seinen Sieg mitzuteilen. Es wird doch eines Tages das Ergebnis dastehen wie aus Erz gefügt, und dann werden es die Leute sein, die den Sieg verkünden. Er selbst braucht nichts dazu tun als still und unauffällig den Weg seines Handels und seiner Handlungen zu gehen und nach dem Rechten schauen.

Schlechte Eigenschaft der Könige, immer sichtbar, immer im Vordergrunde zu sein. Unsichtbar, unhörbar sein und wirken, das war das Geheimnis. Und dann die Bestätigung den anderen aus den Händen nehmen. Schlechter König, der sich selber den Lorbeer um das Haupt windet.

König – dachte er dem Worte nach. Welchen Nutzen hatten alle diese Monarchen von ihrem Königtum? Sie ließen sich huldigen und mußten ihre Würde an dem Tage zu Grabe tragen, an welchem es dem geringsten unter den Vasallen in den Sinn kam, diese Huldigung zu versagen. Sie übten eine Macht aus, die sie nicht 280 machtvoll fundierten, sondern einer Gläubigkeit zuliebe von der Gnade Gottes herleiteten. Ein Kaufmann (ein königlicher Kaufmann, dachte er im stillen), und Macht und Gottes Gnade . . . welche törichte Zusammenstellung.

In seiner freien Stadt hatte man nie sonderlich der Gnade Gottes vertraut. Man lobte Gott, man dankte Gott, man gedachte seiner, wenn eine schickliche Gelegenheit dazu geboten war, aber man überließ ihm nicht das Regiment. Man regte selber die Fäuste, und vom Ertrag des harten Werkens gab man endlich Gott, was Gottes war, und dem Könige, was des Königs war. Freilich, wenn die große Kurve des Daseins sich neigte und unter den Schollen der Friedhofserde dumpf dröhnend zusammenbrach, dann ließ man den Priester gläubig und dankbar den Segen über das vollendete Dasein sprechen; dann ließ man ihn, den begnadeten und unentbehrlichen Mittler zwischen Gott und den Menschen, die Gewißheit des Glaubens und der Demut mit stillem Glorienschein um das Erinnerungsbild des Toten winden. Keine Unehrlichkeit war dabei; keine Heuchelei, und weit mehr als eine Form der Gewohnheit. Es galt dann, tröstliche Schleier über das ewige Rätsel von Dasein und Sterben zu breiten und das Unvermeidliche in den Ratschluß dessen hinauszutragen, aus dem alles Leben und Sterben kam. Man konnte sehr klug und aufgeklärt sein: so lange einer nicht das gewaltige Experiment von der Erzeugung des Daseins ihnen vorgezaubert hatte, trugen sie ihr Staunen und ihre Ehrfurcht vor dem Unabweisbaren und Unergründeten zum Namen Gottes hinauf, der niemals aufgehört hatte, alle Fragen und Schmerzen in seinen Schoß aufzunehmen . . . mochte man ihn nun als Gestalt oder als Idee erkennen . . . 281

Eberhardt erschrak. Was für Dinge dachte er da? Warum zwang dieser Vorfall ihn, an Sterben und an Priester und an Gott zu denken? Man stirbt nicht solcher Bagatelle wegen. So tief sind die Menschen hier oben nicht mit ihren Ideen verknüpft, daß sie ihr Herz aus den Händen lassen würden, um es der Vernichtung einer Idee willen preiszugeben. Mag sein, daß sie hier und dort eine Scharte empfangen, und daß unter der Narbe ein Gefühl oder eine Regung noch verhaltener und gedämpfter wird als sonst. Aber darum sterben?

Eberhardt trat vom Fenster zurück. Er kam von diesem Sterbegedanken nicht frei. Es trieb ihn mit seltsamer Lust und Neugier zu solchen Bildern. Er empfand endlich diese Erwägungen als wahre Erholung, als entspannende Pause in dem angestrengten Gleichmaß seiner Arbeit. Erholung? überlegte er. Gewiß. Es ist nichts Schweres und Bedrückendes am Sterben und im Sterben. Es ist nur die erhöhte Feierlichkeit und Heiligkeit einer Stunde. Niemand bemühte sich, dem auszuweichen oder diese Stunde zu vergessen. Fast hätte er sagen mögen: im Gegenteil. Er erinnerte sehr gut unter Vaters Familienpapieren die Grabreden, die da gesammelt lagen. Wer wollte und wem es Ernst damit war, konnte zu jeder Zeit Sinn und Klang dieser letzten Weihe zu sich heranbeschwören und sich im Rückdenken und Rückempfinden erregen . . . oder beruhigen . . . oder sich im Schmerz läutern . . .

Allmählich wurde es qualvoll für Eberhardt, so im Netz dieser Todesvorstellungen verstrickt zu sein. Sollte es denn damit keine Ruhe geben? Oder waren es Ahnungen, die ihn anwehten als Vorboten kommenden Geschehens? Vielleicht sogar ging es den eigenen Vater an . . .? 282

Er wanderte in seinem Zimmer hin und her. Wenn der Vater sterben würde . . . unausdenkbare Folgen lagen da vor ihm. Es war niemand da, der die Firma übernehmen konnte. Würde sie eingehen? Würde er sie selbst übernehmen? Er kräuselte die Lippen. Wozu denn war das nötig? Nicht zu leugnen, daß ein guter, voller Klang hinter dem Namen Hermann Melchior stand. Aber wer sagte, daß Eberhardt Melchior junior weniger gut im Kurse lag? Weniger mit Klang und Wichtigkeit und Bedeutung begabt war? Es ist recht bequem, sich in das alte Bett zu legen. Alle vor ihm hatten das getan, waren alt und unlustig und verärgert geworden, bis sie in die Nachfolge aufrücken konnten und ihnen der geheiligte Sessel hinter dem Schreibtisch als Thron eingeräumt wurde. Ihm lag nicht daran, Nachfolge anzutreten. Er stand schon, er ging schon, er war schon nicht mehr unten, er fühlte schon den ersten Hauch von Höhenluft. Die eigenen Kräfte langten schon aus, den ikarischen Schwung zu wagen. Er brauchte dafür nicht Erbe sein und aus den Tod des Vaters zu warten . . .

Nun wurde es ihm doch zu viel. Wie konnte man Dinge mit solch irrsinniger Hartnäckigkeit denken? War er etwa in Ferien gegangen oder hatte er sein Geschäft aufgegeben? Hol's der Teufel! Es gibt noch Kontrakte auf der Welt! Er schlug die blaue Mappe auf und ließ die Blätter durch seine Finger gleiten. Er kehrte wieder in die Ebene der unleugbaren Wirklichkeit zurück.

Das Telephon rief. Er nahm den Hörer auf, wieder ruhig und leicht angespannt. »Eberhardt Melchior«, sprach er in den Trichter. 283

Eine schnelle Stimme von drüben: »Ist Ihr Vater bei Ihnen?«

Gelassene Gegenfrage: »Wer ist denn dort?«

Der andere polterte los: »Das weißt du ganz gut, du dummer Junge!«

»Sie sind vermutlich falsch verbunden«, feixte Eberhardt mit kühler Verbindlichkeit.

»Nein. Gerade dich wollte ich haben. Ich pfeif darauf, ob du Chef einer Firma bist. Für mich bist du noch, was du früher warst.«

Eberhard erwog, ob er den Hörer hinlegen sollte. Er hatte keine Lust, ewig in diesem Gefüge der Anhänglichkeiten zu bleiben, immer mit irgendeinem Faktotum auf du und du zu stehen. Das waren diese billigen Überreste aus der patriarchalischen Familienzeit, diese zwangsweise Einbeziehung aller möglichen Menschen in den Rahmen der Familie, diese sinnlose Treue gegen den Zeitablauf, dieses Beharren bei Menschen, die man einmal aufgenommen hatte und nun nicht wieder fallen lassen konnte.

»Hast du gehört?« klang es von drüben. »Was ist mit deinem Vater?«

»Er ist wieder weggegangen«, erwiderte Eberhardt gehorsam und ein wenig verärgert.

»Wohin denn?«

»Weiß ich nicht.«

»In drei Minuten bin ich drüben. Bleib' im Kontor.«

Eberhardt legte den Hörer hin. »Der getreue Diener«, lächelte er spöttisch. »Immer wieder tauchen solche widerlichen Menschen auf, die behaupten, sie hätten einen schon als ganz kleines Kind auf den Armen getragen. Schade, 284 daß man als so kleines Wurm noch nicht die Möglichkeit hat, sich solche Zudringlichkeiten zu verbitten. Und später kommt man vor lauter Gewohnheit nicht dazu. Dieser Bertram ist ein Trottel.«

Er beschloß, fortzugehen und diesen Besuch nicht erst abzuwarten. Aber mit kaum bewußter Absicht verzögerte er die Vorbereitungen so lange, daß er endlich vom Erkerfenster aus Bertram daher kommen sah, mit großen Schritten, die Hände tief in die Taschen gedrückt. So würde er ihm also unten begegnen. Darum war es besser, wenn er blieb.

Bertram kam nach einem kurzen Klopfen in das Privatkontor. Eine Anmeldung hielt er nicht für nötig. Seine Augen sahen etwas böse drein.

»Guten Morgen. Sag' mal, hast du deinem Vater etwas verkauft?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Er hat keine Ware von mir verlangt. Wir haben über ganz allgemeine Dinge gesprochen. Und dabei hat er sich so aufgeregt, daß er weggelaufen ist.«

Bertram fixierte ihn scharf: »Du hast dir wohl nichts gedacht bei diesem Besuch?«

Eberhardt zog die Augenbrauen hoch: »Ich habe mir eine ganze Menge gedacht. Aber es macht einen Unterschied, ob der Vater Melchior zum Sohn Melchior kommt, oder der Inhaber der einen Firma zum Inhaber der anderen. Du bist ein prächtiger Kerl, Bertram. Aber mitunter bist du genau so verschroben wie mein Vater. Ihr seid wie ein paar Eheleute, die sich nach Ablauf von dreißig Jahren auch im Gesicht ähnlich sehen. Wenn ihr 285 Ware von mir haben wollt, dann könnt ihr ja einen Ton sagen. Anfrage durch Fernsprecher genügt. Ich gebe euch sogar Ziel. Ihr seid mir gut dafür. Aber daß ich wie ein Hampelmann tanze, wenn ihr pfeift oder Stielaugen macht, das könnt ihr wirklich nicht von mir verlangen.«

Bertram nahm seinen Hut. »Der Junge wird erwachsen«, sagte er leise. »Natürlich hast du Recht. Aber noch mehr hat dein Vater Recht mit dem, was er mir sagte, ehe er zu dir ging.«

»Und was war das?«

»Er meinte . . . nur so nebenbei meinte er das, als ich ihm sagte, er dürfte nicht zu dir gehen . . . weil ich nämlich glaube, es vergibt sich ein Vater etwas, wenn er in Ehren so alt geworden ist, und wenn er dann so zu einem jungen Kerl geht . . .«

»Mach' doch nicht so viel Brei, Bertram. Was willst du denn eigentlich erzählen?«

»Entschuldige. Es geht mitunter ein bißchen Gefühl mit einem durch. Er sagte also: der Weg hierher, das bedeute, daß da jemandem das Rückgrat abbräche. Du wirst das wohl verstehen, du mit deinem kühlen Schädel . . .«

Eberhardt erschrak tief innerlich. Aber er beharrte bei seiner gleichmütigen Haltung. »Es ist ja nicht so weit gekommen, denn er hat ja nichts davon gesagt, daß er Ware von mir wollte.«

»Das glaube ich«, sagte Bertram bitter. »Das ging ihm wohl doch nicht über die Lippen. Und wer könnte ihm zumuten, daß er einen solchen Kelch austrinkt? Es sind Marotten von dem Alten. Das weiß ich wohl. Aber eine solche Marotte, eine solche grundehrliche 286 Anständigkeit ist mir tausendmal lieber als die Kaltschnäuzigkeit, mit der moderne Kaufleute korrekt sind. Ich weiß auch, daß unser Geschäft in die Binsen geht. Die Methoden ziehen nicht mehr; sie sind nicht zeitgemäß. Aber, Mensch«, er packte seine Schultern, »wenn du wüßtest, was da vor die Hunde geht, dann würdest du dich in Grund und Boden schämen!«

Eberhardt wich zurück. Jetzt war der Sinn seines Gedankenspiels, das auf Tod und Sterben ging, blitzartig erhellt und aufgedeckt. Und er beugte sich, ohne jeden Willen zum Widerstand, vor der Unbedingtheit dieser Marotte, die aus dem schweren, massiven Gang erledigter Zeiten in das Tempo und den Elan dieser Gegenwart hineinreichte. Als letzter Widerstand blieb nur, daß er nichts von diesem Gefühl verriet und . . . und daß er sich über dessen Wert nicht täuschte.

»Wenn Zeiten alt werden, lieber Bertram, dann werden sie poetisch. Wenn Menschen alt werden, werden sie sentimental. Wenn Zustände alt werden, macht man Vokabeln für die Literatur daraus. Das ist euer jetziger Zustand. Und da ihr das sehr genau einseht, werdet ihr grob und diktatorisch. Ohne mehr für heute verbleibe ich Ihr ergebener und so weiter. Im übrigen hat die Sache nichts mit Scham zu tun. Wenn du mich angerufen hättest, wäre dir jeder Posten abgegeben worden, den du brauchst. Wenn du weißt, wie der Alte zu solchen Dingen steht, dann kümmere dich doch auch darum. Also wieviel brauchst du?«

»Gar nichts!« schrie Bertram. »Wenn er einmal hier gewesen ist und wieder weggegangen ist, ohne daß er den Mund aufbrachte, dann nimmt er nichts von dir! Und 287 wenn ich ihm einen Kontrakt von dir brächte, dann würde er ihn mir zerrissen vor die Füße werfen.«

»Wieviel brauchst du?« beharrte Eberhardt.

»Fünfzehn Waggon. Aber ich sage ja, er nimmt nichts von dir.«

»Wie habt ihr verkauft?«

,.Mit zweiundsechzig.«

»Gut.«

Er klingelte und sagte zu dem Schreiber: »Gehen Sie bitte zu Bernhard Lehmann herunter. Ob er einen Augenblick zu mir kommen könnte.«

Der Schreiber ging. Eberhardt stand im Erker und sah auf die Straße. Seine Stirne war gefurcht. Bertram beobachtete ihn unruhig und gereizt.

Lehmann kam, frisch, rosig, wie aus dem Ei gepellt. Er hatte immer ein freudiges Erstaunen in seinen Zügen. »Guten Morgen, meine Herren. Was gibt es Gutes?«

Eberhardt nahm ihn in die Ecke und flüsterte einige Zeit mit ihm. Lehmann nickte erfreut und verbiß sich ein Lachen.

»Lachen Sie nicht!« schrie Bertram gereizt.

Lehmann wurde todernst. »Ich lache lediglich über das gute Geschäft, das mir da soeben in den Schoß geworfen worden ist. Auf Grund eben dieses Geschäftes, Herr Bertram, bin ich in der angenehmen Lage, Ihnen ohne Makler und Zwischenhändler ein Geschäft zu offerieren,«

»Das sind Mätzchen, mein Herr.«

»Gar nicht. Ich biete an: 15 Waggon, prima, per Kassa loco, gegen Lagerschein, unverzollt waggonfrei Bremen-Lankenau. Zug um Zug, Gewicht tel quel, Preis . . .« 288

Schon war Bertram bei der Sache: »Na? Äußerst!«

»Na, 62.«

»Nein.«

»Äußerst: 61½. Gut so?«

»Ist gemacht«, sagte Bertram. »Scheck gegen Lagerschein. In Ordnung?«

»Schreiben wir gleich den Schlußschein aus. Kommen Sie eben mit mir in mein Kontor. Auf Wiedersehen, Melchior. Das ist sehr nett, was Sie da machen. Man sieht doch immer wieder: diese alten Familien halten wie Pech und Schwefel zusammen. Schöne Sache. Guten Morgen.«

Bertram ging langsam auf Eberhardt zu. Seine Augen zuckten unruhig: »Ich habe dich nicht richtig gekannt, Eberhardt . . .«

»Laß diese Erzählungen«, wies der andere ihn schroff zurück. »Was ich hier getan habe, habe ich für mich und nicht für euch getan. Es hat mit Gefühlen gar nichts zu tun. Ich will nicht darüber reden. Die Geschichte ist für mich aus. Fertig.«

»Wie du willst. Im übrigen: wie der Alte. Nur um Gotteswillen nicht merken lassen, daß einem etwas ans Herz gehen könnte. Im Grunde genommen seid ihr alle so weich, daß ihr einen Panzer braucht, um euch nicht jeden Tag Löcher in den Bauch zu stoßen. Ich wünsche gesegnete Mahlzeit.«

»Mahlzeit«, murmelte Eberhardt und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Bertram ging in das Parterre zu Lehmann und erledigte dort sein Geschäft mit den fünfzehn Waggons. 289 Keiner von beiden verriet etwas von der wirklichen Grundlage dieses Abschlusses. Schon die Tatsache, daß es sich überhaupt um ein Geschäft handelte, erforderte den größten Ernst.

Bertram machte sich sofort auf den Weg nach Frundt, lieferte dort den Lagerschein ab und empfing seinen Scheck. Er atmete erlöst und beeilte sich, wieder in das Kontor zu kommen.

Hermann Melchior saß, als sei nichts an diesem Morgen vorgefallen, an seinem Schreibtisch und kramte in Papieren. Aber es war nur eine Gebärde, und Bertram durchschaute sie. Sie sollte über die dumpfe Leere im Gehirn und über das wilde Brennen im Herzen hinweghelfen. Aber das aschfahle Gesicht und die Augen mit dem müden und überreizten Glanz widerlegten die Ruhe, die die Hände vortäuschten.

Komödie, Komödie! dachte Bertram. Aber sie muß gespielt werden. Ich spiele mit.

Er stöhnte und legte Hermann Melchior den Scheck auf den Tisch. Er warf einen Blick darauf, hob zweifelnd, fragend und drohend zugleich die Augen: »Geliefert? Wer hat geliefert?«

»Der junge Lehmann. Aber der Preis war gerade kein Vergnügen. Ich habe bis 61½ ausgehandelt.«

Hermann Melchior schloß die Augen. Er hatte noch einmal einen Augenblick des Triumphes. Noch war es also möglich, so zu leben und zu arbeiten, wie es Herkommen und Gewissen ihm vorschrieben. Aber doch wurde er nicht froh darüber. Eine dumpfe Bedrückung blieb zurück. Die Augen waren so müde.

»Sie freuen sich gar nicht?« fragte Bertram. »Ist das 290 etwa nichts, was wir da erreicht haben? Für Sie muß es doch etwas bedeuten.«

Melchior streckte ihm die Hand hin: »Vielen Dank, Bertram. Ich sehe ein, daß Sie mich aus einer Situation gerettet haben, die unerträglich für mich war. Aber ich kann doch nicht recht froh werden. Ich habe mir das durch den Kopf gehen lassen, was der Junge mir vorhin gesagt hat. Es waren unerhörte Dinge. Aber er mag Recht haben, daß sie in die Zeit gehören. Und diese Zeit, alter Bertram, ist nicht mehr unsere Zeit. Wir waren still und eifrig und zähe und hartnäckig im Aufbau. Die Jungen legen ein anderes Tempo vor. Wir werden eines Tages abtreten müssen.«

»Aber noch nicht«, sagte Bertram bestimmt. »Wir sind nicht so alt, daß wir nicht noch zulernen könnten. Eine solche Situation wird sich nicht wiederholen. Sie darf sich nicht wiederholen. Der Junge glaubt, er sei ein König, der den Markt beherrscht. Wir haben ihm das Gegenteil bewiesen. Wir sind noch auf dem Markte. Wir gelten noch was. Sie dürfen nicht resignieren.«

»Ich resigniere nicht. Glauben Sie nicht, daß ich ihm so schnell das Feld räume. Es war nur ein kleiner Choc. Aber ich komme darüber hinweg. Er hat mir heute gezeigt, daß zwischen Vater und Sohn nicht die gleichen Beziehungen bestehen wie zwischen den Firmen Hermann und Eberhardt Melchior. Ich will ihm da nichts schuldig bleiben. Er ist mein Sohn; gut. Aber diese Firma da, diese junge Firma, ist fähig, mich ohne Mitleid an die Wand zu drücken.«

»Sie übertreiben.«

»Ich meine es nicht wirtschaftlich. Da stehe ich solider 291 da als er. Ich meine es moralisch. Er würde seinen Vater nicht kaputt machen. Das weiß ich. Aber er würde mir ohne Bedenken den Nachweis liefern, daß sein Weg der richtige sei und seine Methode besser als meine. Das heißt: er würde mich vor mir selbst, er würde mich moralisch vernichten, ohne mit der Wimper zu zucken. Und das wäre ihm beinahe gelungen. Wir müssen aufpassen, Bertram. Verstehen Sie?«

Das Telephon summte. Hermann nahm den Hörer ab. Die Stimme war wie immer: »Melchior, Hermann . . . persönlich . . . Herr Frundt, bitte? . . . Irrtum im Lagerschein? Wieso? Bitte lesen Sie vor . . . Ab Lager Lankenau . . . ab Lager Lankenau. Es ist kein Irrtum. Wie da steht: ab Lager Lankenau. Guten Tag.«

Der Hörer fiel. Die Hand sank auf den Schreibtisch. Die Augen schlossen sich. Es herrschte Schweigen.

Bertram stand da und sah den ganzen Raum im Kreise wirbeln. Blaß und verängstigt horchte er auf die schweren Atemzüge. Es war eine unmeßbare Zeit. Endlich sah Hermann auf: »Er hat an Lehmann verkauft, damit der . . .?«

Bertram nickte. »Fügen Sie sich darein, Herr Melchior. Ich habe es verantwortet, weil die Form so anständig war. Er schiebt einen Dritten vor, an dem er nichts verdient, nur um seinen Vater . . .«

»Ich weiß«, winkte Melchior ab. »Ich sage ja: gegen seinen Vater ist er gut. Aber das andere . . . alles andere . . . Wie spät haben wir?«

»Zwei Uhr. Sie sollten nach Hause gehen und sich etwas ausruhen. Sie sehen erschreckend aus.«

Melchior nickte und stand auf. Er sprach, als wollte er 292 für lange Zeit sein Geschäft verlassen: »Geben Sie gut acht, damit alles ordentlich geht. Und sehen Sie sich noch einmal alle Kontrakte genau an.«

Der Heimweg war mehr ein Schleichen als ein Gehen. Er mußte die Last seiner ersten großen Niederlage mit sich schleppen. Es war auch mit dem Ausruhen an diesem Nachmittag nicht geschehen. Er fühlte sich so erschöpft und erschlagen, daß er gegen Abend Dr. Hoffman kommen ließ.

Hoffman untersuchte gründlich, machte alle Proben und Reagenzien, die nötig waren, kam am nächsten Tage nochmals und verkündete dann das Ergebnis: »Ihr Zustand hat mehrfache Ursachen. Es ist leichte Arterienverkalkung festzustellen. Nicht gerade erheblich. Aber sie summiert sich mit einem allgemeinen Erschöpfungszustand. Sie sind im Augenblick vollkommen verbraucht und überarbeitet. Sie müssen sofort pausieren. Im übrigen scheinen seelische Erregungen schweren Grades mitzuwirken. Ich schreibe Ihnen hier etwas auf. Dreimal täglich. Aber erste Bedingung: sofort ins Bett und nicht in das Geschäft gehen. Unter gar keinen Umständen. Ich werde regelmäßig kontrollieren.«

Hermann Melchior fügte sich dieser Anordnung. Der Familie gegenüber schützte er eine leichte Angina vor. In den ersten Tagen war es wohltuend, sich so völlig der Ruhe hinzugeben, im halb verdunkelten Zimmer zu liegen und richtungslos vor sich hinzustarren; entspannt zu sein; hier und da einen Fetzen Erinnerung aufzunehmen und ihn wieder fallen zu lassen; dieses und jenes zu erwägen und es auf halbem Wege zu vergessen.

Als aber die erste Gewöhnung an diese Ruhe und 293 Zurückgezogenheit kam, brach die Erkenntnis seines Zustandes mit Macht über ihn herein. Die leichte Benommenheit wich von ihm. Sein Gehirn begann wieder zu arbeiten. Er nahm seinen Bestand auf.

Beginnende Arterienverkalkung, meinte Dr. Hoffman. Nun, es ist kein Mensch aus Eisen gebaut. Er näherte sich den sechzig Jahren. Kein Grund, noch über die körperliche Spannkraft eines Jünglings zu verfügen.

Allgemeiner Erschöpfungszustand, meinte Hoffman weiter. Kein Grund zur Erregung. Eher ein Grund, sich zu bestätigen, daß man mit eisernem Fleiß auf seinem Posten gewesen ist. Ein wenig Ruhe, vielleicht eine längere Reise, und alles würde sich ausgleichen.

Seelische Erregungen, meinte der Doktor endlich. Eine ganz moderne Krankheit. Sie schien in der Luft zu liegen und immer mehr in Mode zu kommen. Natürlich gab es Aufregungen. Man kann alles noch so sachlich anpacken, man kann noch so gesichert und gestützt dastehen: es wird immer Gründe geben, sich zu erregen. Aber man stirbt nicht daran. Man hat nicht einmal das Recht, deswegen krank zu sein . . .

Je mehr er diesen Gedanken ablehnte, desto mehr verfiel er ihm. Und nach Tagen und Nächten, in denen ihm jede Stunde mit kleinster Münze zugeteilt wurde, lag das bittere Ergebnis vor ihm:

Draußen geht die Welt ihren Gang; hart, stampfend, mit eisernen Sohlen. Draußen regen sich Arme, breiten sich aus, packen an und lassen nicht mehr los. Draußen, in dem kleinen Bezirk, der sich eine Stadt nannte, saßen Kräfte, geduckt, gespannt; sahen über das Binnenland und über das Weltmeer; zogen ein Netz von Drähten über 294 den Erdball und knoteten sie in ihren Händen zusammen. Nur er lag hier und hatte die Hände müde und untätig auf der Bettdecke liegen.

Er ließ den Kopf sinken. Im Gehirn spulten sich Worte und Ziffern ab: Manitoba II, loco 14,65 . . . La Plata 11,65 . . . Kanada III Mai-Juni Ablieferung 10,70 . . . pari unverzollt, waggonfrei Bremen-Unterweser per Kassa loco . . . feste Tendenz . . . feste Tendenz . . .

Er schreckte auf. Was machst du da? fragte er laut. Und antwortete sich selber laut: ich lenke ab von dem, was das Wichtigste ist: von der Tatsache, daß der Sohn dem Vater ein Almosen gibt . . . daß er ihn gedemütigt und verhöhnt hat . . . und daß er die Macht hat, mich zu verhöhnen . . .

Er warf sich vor, er sei kleinlich. Auch die Jugend habe ihr Recht zum Aufstieg. Es gebe einen allgemeinen Fortschritt . . . und endete wieder, verbittert und vergrämt, bei dem schmerzlichen Gedanken: deine Rolle ist ausgespielt. Das Geschlecht nach dir rückt in die Front . . .

Von diesem Tage an wurde er ernstlich krank . . . 295

 


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