Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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4. Kapitel.

Eberhardt ließ sich von Wischhusen für den Rest des Nachmittags beurlauben. Er schützte die Ankunft eines auswärtigen Verwandten vor. Beim Weggehen mahnte er Krämer noch einmal: »Also pünktlich halb neun an der Ecke.«

Dann ging er in die Stadt und machte Einkäufe. Er bestellte Blumen in großen Sträußen, Konfekt, Liköre, ein wenig Wein und viel Gebäck. Zum Schluß erstand er einige Vasen, ein Dutzend Weingläser, Likörschalen und bunte Kissen; vor allem aber einige Leuchter und viele Kerzen. Es gab zwar einen beträchtlichen Riß in seinem Taschengeld, aber er war in einem Taumel des Verschwendens, dem er nicht Einhalt gebieten konnte. Bei jedem Gegenstand stellte er sich Lisbeths Freude und Erstaunen vor.

Er war lange vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt. Es war ihm unerträglich, daß die Minuten so träge dahin krochen. Aber als er die Geschwister Krämer auf der Plattform einer Straßenbahn endlich entdeckte, war alle Unruhe mit einem Schlage verscheucht. Ihm war sehr still, fast feierlich zumute. Auch Lisbeth war ernst und sah um einen Hauch blasser aus als sonst. Otto Krämer hatte zwei junge Menschen mitgebracht. Er stellte vor: »Dies ist Herr Kolloge, und dies ist Herr Schröder. Beide 97 interessieren sich sehr für Literatur. Man kann wohl sagen«, fügte er lächelnd hinzu, »daß sie selber schreiben . . .«

»So weit sie nicht Dienst tun müssen«, ergänzte Kolloge. »Der da auf der Volksschule und ich auf einer Kanzlei.«

Kolloge trug einen schwarzen, hoch geschlossenen Anzug. Alles an ihm atmete Sauberkeit, Ordnung und Korrektheit. Selbst in der Aussprache tat er sich offensichtlich Zwang an. Man hätte ihn für einen müden, erstarrten Beamten halten können, wenn nicht dieses ständige Flimmern und Zucken in seinen Augen gewesen wäre. Schröder schien in jeder Beziehung das Gegenteil. Er trug einen Manchesteranzug mit Kniehosen und Wickelgamaschen. Sein Haar war locker und lag weit hinten im Nacken. Seine Augen waren von einem stumpfen Glanz und schienen nichts von seiner Umgebung zu sehen.

»Wohin gehen wir?« fragte Lisbeth. »Gibt es ein ruhiges Lokal in der Nähe?«

»Ja«, lachte Eberhardt und nahm ihren Arm. »Wollen die Herrschaften uns bitte folgen?«

Er führte sie in ein Haus in einer Nebenstraße. Sie mußten eine dunkle Treppe hinauf steigen. Dann öffnete Eberhardt eine Türe, und mit einem Male standen sie in einem großen, behaglichen Zimmer. Der Tisch war weiß gedeckt, Blumen standen in leuchtenden Karlsruher Vasen; Kerzen in kleinen Holzleuchtern; Gläser daneben, in denen ihr Licht sich spiegelte, Schalen aus Kristall und blauem Glase, Flaschen mit bunten Etiketten, farbige Kissen auf einer breiten Chaiselongue. Alles atmete Form und Kultur und Behaglichkeit.

Lisbeth blieb mitten im Zimmer stehen. »Ist das 98 schön«, flüsterte sie. »So habe ich es mir immer gewünscht.«

»Sie sind ein Leichtfuß«, sagte Krämer. »Richtet er sich wahrhaftig eine Junggesellenbude ein!«

Eberhardt stellte sich an den Tisch und sagte ernst: »Es soll mir keiner den Sinn verkehren, den ich mit einem solchen Raume verbinde. Ich möchte, daß wir einen Ort haben, an dem wir in Ruhe zusammenkommen können. Sie sollen keine bösen Gedanken damit verbinden. Sie sehen ja, es ist keine Schlafgelegenheit da. Entschuldigen Sie, daß ich das sage. Aber ich möchte nicht, daß man diesen Raum so nennt, wie sonst . . .«

»Verzeihen Sie«, sagte Krämer leise.

»Es soll sich hier keiner als mein Gast fühlen«, sprach Eberhardt weiter. »Wenn es geht, und wenn wir uns verstehen, soll es so etwas werden wie . . . wie eine Heimat für uns . . . für uns und für die Dinge, die bei unseren Eltern keine Heimat haben . . . die wir dort nur flüstern dürfen, und für die wir doch ein volles Organ gebrauchen.«

»Das Licht«, sagte Schröder und trat an die Kerzen heran. »Dieses Licht.« Er hielt seine Hände um die Flamme. »Hände können lebendig werden, wenn man Kerzenlicht hat. Es ist schön hier.«

Kolloge setzte sich steif und feierlich auf einen Sessel und wagte sich kaum zu rühren. Aber seine Augen wurden mit jeder Sekunde unruhiger. Endlich sagte er leise: »Wir danken Ihnen für die Einladung, Herr Melchior. Wir bekommen sonst solche Dinge nicht zu sehen.«

»Sie sollen nur der Rahmen sein«, sagte Eberhardt 99 erfreut, »in dem wir etwas noch Schöneres erleben wollen . . .«

Er füllte die Gläser. Sie gaben einen feinen, melodischen Klang, wie sie gegeneinander stießen. Man horchte ihnen nach und schwieg.

Lisbeth trug ein schlichtes, hellblaues Kleid. Sie saß versonnen da, hatte die Hände im Schoß verflochten und atmete leise. Alle sahen sie mit einem Male an. Sie wollte diesen Blicken entgehen und konnte es nicht. Die Flammen der Kerzen sprangen sie an wie das aufzischende Licht einer Rampe. Sie wich davor zurück. Aber der Schrei der Lichter war ungeheuer stark. Sie schwankte von diesem Anruf. Er traf sie wie körperlicher Anprall. Sie mußte hinein in diesen brennenden Rahmen. Sie wurde wie ein Tiger durch brennenden Reifen gehetzt . . . und dann war vor ihr die dunkle Schlucht eines Raumes, in dem Menschen saßen; Menschen, die man nicht sieht. Masse, die nur Augen hat, unsichtbare, glanzlose; die verschlossene, kalte Herzen hat, träge und schwer aus dem müden Alltag her. Und da ihr Herz noch brannte von dem Sprung durch den glühenden Reifen, nahm sie es, aufstöhnend und erschauernd, in beide Hände und warf es in die Schlucht der Schweigenden. Nun mußte sie ihrem Herzen nach, um es vor dem Versinken zu retten. Sie sprang auf. Alles an ihr war Spannung und ernste Sammlung. Sie bewegte sich leise, als müsse sie einer Schwingung ihres Inneren nachgeben, einem Drängen, das ihre Schultern und Arme und Hände in Bewegung setzte. Sie hob die Augen und ließ sie wieder sinken. Sie beugte sich vor und lehnte sich wieder zurück. Und mit einem Male brachen mit voller, gebändigter Stimme 100 Verse aus ihrer Kehle, erklangen die Rhythmen von Gedichten, formten sich Worte aus Stimme und Geste und leidenschaftlicher Bewegtheit ihres blassen Gesichtes. Es kam daher wie ein goldener Strom. Es schwebte wie ferne Musik. Zuweilen hämmerte es wie wilde Takte, wie aufreizender Trommelwirbel. Dann sang es wie mit Kinderstimmen, hoch, lieblich und verträumt.

Sie sprach Eberhardts Verse. Es war mehr als ein Sprechen. Es war ein leidenschaftliches Bekenntnis zu ihrem Inhalt und zu dem zauberhaften Wirken des gesprochenen Wortes. Sie bekannte damit sich und ihre Liebe zu ihm und ihre tiefe Beziehung zu einer Kunst, deren Anhauch sie getroffen hatte.

Es blieb eine Pause des Schweigens und Atmens hinter dem Ausklang der Verse, eine glückhafte Versonnenheit, ein brüderliches Gefühl des gemeinsamen Erlebnisses. Die erste Bewegung kam von Schröder, der blaß war wie eine Leiche. »Das können! So etwas können!« stöhnte er.

Eberhardt erhob sich aus einem abgründigen Traume. Er ging zu Lisbeth hin, kniete vor ihr nieder und küßte ihre Hände. Sie erschrak und war so erregt, daß sie zu weinen begann.

Er stand auf und nahm sein Glas. Seine Stimme war aufgewühlt. »Es ist ein Anfang heute«, sagte er leise. »Keiner weiß, wohin es geht. Es mag sein, daß dieser oder jener von uns dort landet, wo er es sich erträumt. Es mag auch sein, daß einer irgendwo auf dem Wege liegenbleibt; daß ihn das Leben auffrißt oder der Beruf oder daß er in sich selber verbrennt. Wir wollen darum diese Stunde nicht vergessen und sie nicht um ihren Wert 101 betrügen. Und wenn eines Tages einer zurückbleibt, . . . dann soll ihn der andere darum nicht verachten. Es ist nicht immer Schuld . . . es mag auch Schicksal sein.«

Sie stießen an und tranken. Leise summte das Gespräch. Lisbeth zog Eberhardt zu sich hin, legte ihren Arm um seine Schulter und fragte leise: »Warum sprichst du so traurig von denen, die zurückbleiben werden? Willst du nicht weiter mit mir kommen?«

Er neigte seinen Kopf dicht zu ihr hin. »Ich möchte mit dir kommen. Ich möchte sogar, daß wir uns nie zu trennen brauchen . . .«

»Sag so etwas nicht«, wehrte sie erschreckt ab.

»Da gibt es keine Abwehr«, sagte er bestimmt. »Dieser Abend ist entscheidend für mich und für mein Gefühl zu dir. Aber etwas anderes drückt mich, eine böse, ferne Ahnung . . .«

»Nicht jetzt!« bat sie. »Es ist alles so schön.«

»Nur jetzt«, antwortete er. »So etwas kann man nur einmal sagen. Und das ist es: du wirst groß werden in deiner Kunst. Das habe ich heute gefühlt. Du wirst sehr groß werden . . . und du wirst so weit gehen, daß es eines Tages sein kann, daß du mir um endlose Strecken voraus bist. Wehr nicht ab. Das kann kommen. Es wird kommen, denn ich habe nicht die Sicherheit, die du hast. Aber wenn es kommt, Lisbeth, dann gehst du darum nicht von mir, ja? Du vergißt dann nicht . . . daß einer zurückbleiben kann auch ohne Schuld . . .«

Sie wollte ihn trösten, aber sie konnte es nicht. Selbstquälerisch vertiefte er sich in seinen Gedanken. »Man kann nicht zwei Herren dienen, dem Beruf und der Kunst. Ich will es einmal ganz nüchtern sagen: alle in unserer Familie 102 haben einen versteckten und verschütteten Hang zum Dichten. Aber er wird nie frei. Er taucht zuweilen verschämt auf bei den Familienfesten. Ich schlage ihn nicht allzu hoch an. Er ist bei ihnen ein Ersatz für die Schöpferkraft, die ihnen fehlt. Ich allein habe das Unglück, von meiner Mutter her ein Erbteil zu tragen: einen Schuß Unbändigkeit, einen Durst nach Freiheit, der im Blute sitzt. Ich weiß nichts Rechtes damit zu beginnen. Aber es ist verführerisch, mit der Möglichkeit zu spielen . . .«

»Nun?«

»Mit der Möglichkeit zu spielen, die ganze sachliche Welt zu vergessen, immer so zu leben wie heute . . . Ein Künstler zu werden . . . ein Dichter.«

Sie sagte ganz laut: »Warum solltest du nicht ein Dichter werden? Und warum willst du nicht ein Dichter werden? Du bist doch ein Dichter. Es fehlt dir nur noch an dem Mut, dich dazu zu bekennen.«

Er lachte grimmig. »Ein Dichter werden! Wie der Jüngste von Menkens, über den alle aus dem Häuschen geraten. Bei uns dichtet man, aber man lebt nicht davon.«

Kolloge sagte mit harter, exakter Betonung: »Werden Sie ein Dichter. Sie können es sich leisten. Sie können es sich sogar leisten, nichts als lyrische Gedichte zu schreiben. Man wird sie drucken. Sie werden auch Erfolg haben. Ich kann es nach dem beurteilen, was ich heute gehört habe. Unsereins kann es sich nicht leisten. Wir können uns in die Abendstunden verkriechen, und wenn es hoch kommt, druckt uns der Generalanzeiger ein Gedicht ab gegen drei Mark Honorar.«

»Werden Sie kein Dichter«, sagte Schröder mit dunkler Stimme. »Oder wenn Sie es unbedingt werden müssen, 103 dann bleiben Sie nicht hier. Hier gedeihen keine Dichter. Das Land trägt sie nicht. Es hat zu wenig Blut und Wärme. Und die Menschen tragen sie nicht. Sie haben zu wenig offenes und bereites Gefühl. Wenn Sie einmal ein großer Mann sind, wird man in die Halemsche Buchhandlung kommen und eine Rezitation von Ihnen anhören. Man wird beurteilen, wie Ihr Frack gesessen hat und was für einen Eindruck Sie persönlich gemacht haben. Dann bekommen Sie eine gute Kritik in der Zeitung, eine objektive und wohlwollende, von einem Oberlehrer geschrieben. Aber es wird keine Leidenschaft geben, die für oder gegen Sie Partei nimmt. Sie sind eine Abendunterhaltung. Sie sind keine Notwendigkeit für das geistige Dasein dieser Stadt. Hier gedeiht nur der Ordentliche, der Solide, der Tüchtige. Aber nicht der, den es drängt, Gottes Mauern mit dem Willen zu einer neuen Schöpfung einzureißen. Sie können sich hier Freunde erwerben, aber keine Gemeinde. Werden Sie kein Dichter . . .«

Alle saßen mit gebeugten Köpfen da, sannen dieser Bitterkeit nach und konnten ihr nichts entgegen stellen. Endlich sagte Otto Krämer: »Mag sein, daß es richtig ist, was Sie sagen, Schröder. Aber es lebt hier doch ein stiller Sinn für die Kunst. Sehen Sie sich die Kunsthalle an.«

»Ein stiller Sinn für die Kunst . . . ja, so etwas wie eine verlorene Sehnsucht . . . wenn das Auge beschäftigt wird. Da drinnen steckt Sammlerfleiß und Stadtstolz. Noblesse oblige. Wir haben nicht nur Kontore. Wir haben auch Kunst.«

Krämer wandte ein: »Es gibt hier eine Reihe von Menschen . . .« 104

»Ja! Ja!« schrie der andere. »Das ist es gerade: eine Reihe von einzelnen Menschen! Hier und da eine lodernde Seele, im Schaffen wie im Aufnehmen. Flammen, aber kein Brand. Denkt ihr noch an Paula Modersohn? Wann durfte sie anfangen zu leben? Als sie gestorben war. Wann gedeiht hier einem Menschen das Schicksal, daß er frei werden darf? Wann darf hier einer heiter sein? Nur, wenn ein einzelner kommt und ihm die Hand reicht. Aber die Tausende . . . die kommen nie zu ihm . . .«

»Das Land und die Stadt hier oben haben es immer sehr schwer gehabt«, sagte Eberhardt. »Es ist alles so hart geworden.«

»Sagen Sie: es sei nie weich gewesen.«

»Warum sind Sie so verbittert?«

»Ich bin nicht verbittert. Ich klage nicht an. In keinem Lande wächst mehr an Seelen, als aus dem Acker wächst.«

»Worpswede!« warf Krämer ein.

Schröder lächelte düster: »Vielleicht wird man in zehn Jahren wieder berechtigt sein, über Worpswede zu sprechen. Wenn dort wieder Menschen sind, die die Todesstarre verscheuchen. Vorläufig ist es eine Angelegenheit für Aufsätze in Fachzeitschriften.«

Eberhardt wollte vermitteln: »Es gibt ruhige Zeiten, in denen die Bewegung aller Menschen stiller ist und die Kunst weniger starke Ergebnisse hat.«

Da belebte sich Schröders Gesicht und begann zu leuchten: »Es gibt keine ruhigen Zeiten. Alle Zeiten bewegen sich. Es kommt nur auf das Auge an, ob es die Bewegung sehen kann; auf die Seele, ob sie fein genug registriert. Immer brodelt es im Untergrunde und will 105 etwas an den Tag heben. Aber die Decke aus dem Alltag ist zu schwer. Der Tag besteht nicht mehr aus Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, sondern aus Geschäftsbeginn und Ende. Der Tag wird nicht mehr erlebt, sondern errechnet. Und darum will ich Ihnen etwas sagen, Herr Melchior, obgleich ich Sie kaum kenne: es müßte wieder einmal ein Mensch kommen, der den Mut hat, sich gegen diesen verfluchten Ablauf der vierundzwanzig Stunden aufzulehnen. Der alles Herkommen und alle Tradition und Behaglichkeit aufgibt, um mit der Idee gegen die Tatsachen zu kämpfen. Daß wir es tun, wir Armen, wir Proletarier, das besagt nichts. Es ist unsere Bestimmung, zum Nichts das Weniger hinzuzunehmen. Aber Sie . . . Sie hätten etwas aufzugeben und könnten aus dem Opfer heraus schaffen.«

Eberhardt hielt den Atem an: »Sie meinen ich sollte . . . ein Dichter werden?«

»Das meine ich.«

Entscheidungen! Entscheidungen! hämmerte es in Eberhardts Schädel. Wie kommt ein Mensch zu seinen eigenen Entschließungen? Er sah in die Runde. Kolloge saß steif und aufrecht da und sah aus, als ob er etwas errechne. Schröder hatte den Kopf gesenkt und bewegte leise, unhörbar die Lippen. In Otto Krämers Augen lebte eine wache, kluge, ernste Erwartung. Nur Lisbeths Gesicht konnte er nicht sehen. Sie hatte die Hände darüber gebreitet, als wollte sie der Verantwortung ausweichen.

Er zog ihre Hände herunter und fühlte dabei die heiße Stirne.

»Willst du nichts dazu sagen?« fragte er leise.

»Ich darf nichts dazu sagen«, antwortete sie. »Ich 106 könnte es mir schön, wunderbar schön denken . . . Aber man reißt keine alten Welten ein, ehe man weiß, wo die neue Welt liegt.«

Er klammerte sich an dieses Wort, weil es ihm einen unerhörten Sinn vermittelte. »Doch, man tut es, Lisbeth. Alle Entdecker haben es so gehalten. Da war immer Neuland, das sie nicht kannten. Sie haben es gesucht und gefunden . . .«

Schröder stand mit einem Male groß und massig im Raume und sagte mit dröhnender Stimme: »Und wenn sie es nicht gefunden haben, und wenn sie auf dem Wege krepiert sind, oder so verschollen, daß nie ein Mensch sie wieder gefunden hat: dann ist doch alles von ihnen am Leben geblieben. Es gibt keinen Verlust an seelischer Energie im Weltenraume. Einmal kommt alles wieder ans Licht, in einem Gedanken, in einem Ton oder in einem lebendigen Menschen, der den Weg wieder aufnimmt. Das ist das einzige, was man uns nicht nehmen kann, diesen Glauben an die Ewigkeit der seelischen Energie.«

Die Kerzen brannten still. Sie ließen die Gläser leise aneinander klingen. Sie verloren sich in ihr Jugendgelände hinein und bauten aus kleinen Worten, aus gedämpftem Lachen, aus Mienen und bedeutungsvollen Gebärden die bunten Hügel einer traumhaften Zukunft auf.

Als sie auseinander gingen, war der Beschluß gefaßt, fortab an jedem Mittwoch in der Woche sich wieder zu sehen. »Der Ring« nannten sie ihren kleinen Kreis. Sie umgaben ihn mit unendlichen Deutungen. – – –

Die Stunden bei Josepha Weiß begannen, für Lisbeth Krämer der einzige Zweck und Sinn ihres Tages zu 107 werden. Sie entfaltete eine eiserne Energie. Immer trug sie ein Buch oder ein Manuskript mit sich herum, damit sie in jeder freien Minute ihr Wissen erweitern könnte. Zuweilen kam sie sogar zu spät zu den Verabredungen mit Eberhardt. Er sah ein, daß sie die Zeit nutzen mußte, aber er litt darunter. Es hätte einen Ausweg gegeben, aber er war zu schamhaft, ihn vorzuschlagen. Bis sie ihm eines Tages diese Last abnahm.

»Ebby«, sagte sie. »Habt ihr die Zahl eurer Abende vermehrt?«

»Nein. Warum?«

»An den anderen Abenden ist also dein Zimmer frei?«

»Ja«, sagte er und wurde rot.

»Wollen wir uns dann nicht auf deinem Zimmer treffen? Es ist so unbehaglich, planlos über die Straßen zu laufen, und es ist so unruhig, immer in Lokalen zu sitzen. Ich weiß schon, wie es da aussieht und was man da tut. Ich bin nicht mehr neugierig darauf. Und . . . und wir können uns doch auf einander verlassen, nicht wahr?«

So trafen sie sich also fortan auf Eberhardts Zimmer. Er stattete es von mal zu mal mit größerer Behaglichkeit aus, sehr zum Staunen Ottos, der seine geheimen Bedenken dabei hatte. Er sprach sie eines Abends, als sie aus dem Geschäft kamen, offen aus. »Ich weiß nicht, wie weit Ihre Mittel reichen, Melchior. Aber gehen Sie lieber nicht Verpflichtungen ein, die Ihnen einmal eine Last werden könnten. Ich will Ihnen gestehen, daß es mich schon bedrückt, daß Sie Lisbeths Stunden bezahlen. Ich wollte, ich könnte es selbst. Aber lassen Sie den Luxus beiseite.«

»Kleine Schönheitskorrekturen«, lachte Eberhardt sorglos. 108

»Nein. Bleigewichte, die einem eines Tages die Beine festhalten können. Ich bin kein Spießer und verachte das Geld nicht. Aber aller Besitz macht unfrei. Ein angehender Dichter sollte sich darauf einüben, daß er aus dem Rucksack, oder wenigstens aus dem Koffer leben könnte.«

Eberhardt war solchen Erwägungen unzugänglich. Dabei mußte er sich zugeben, daß selbst das vermehrte Taschengeld nicht ausreichte, alle Anforderungen zu decken. Er machte nochmals einen Vorstoß bei seinem Vater, und hatte, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, Erfolg. So konnte er es durchsetzen, daß die Zahl der Stunden bei Josepha Weiß um eine in der Woche vermehrt wurde. Er ging selbst zu diesem Zwecke zu ihr.

»Sie tun ein sehr gutes Werk«, sagte die Künstlerin, »denn hier liegen sehr bedeutende Kräfte brach.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Aber die Sache hat eine Kehrseite, und die muß ich Ihnen sagen. Auf die Dauer ist mit solchen Abendstunden nichts geschafft. Bald wird es heißen: entweder oder. Aufgeben oder volles Studium. Kunst verlangt den ganzen Menschen. Das will also überlegt sein.«

»Gewiß, gewiß. Da werden sich schon Mittel und Wege finden lassen.«

»Um so besser.«

Jetzt verstand Eberhardt den Sinn dessen, was ihm Lisbeth nach der ersten Stunde gesagt und verschwiegen hatte. Er begriff jetzt die Warnung und auch die Verantwortung. Mit allem Schwung der Jugend beschloß er, sie zu tragen. Wie er es bewältigen sollte, wußte er aber noch nicht. 109 Er ließ einstweilen die Tage über sich dahin gehen. Er sah und fühlte zu deutlich, daß sie einen Inhalt bekommen hatten. Hin und wieder widmete er den einen oder anderen Abend seiner Familie. Er sah sie alle der Reihe nach an, verstand sie und hatte ein wenig Mitleid mit ihnen. Unmeßbar schien die Entfernung, die ihn von ihnen trennte. Darum auch konnte er freundlich und liebenswürdig zu ihnen sein; konnte auf alles eingehen, was sie bewegte; konnte jeden in seiner Meinung und Bedeutsamkeit bestärken; ja, er konnte es so weit bringen, daß man ihn mehr als je liebte und respektierte. Er hatte keineswegs das Gefühl, Komödie zu spielen. Er nahm es als Kampf; als eine Kriegslist, um seinen Willen und seine Freiheit gegen das Schwergewicht der anderen zu verteidigen.

»Er ist fabelhaft geworden«, sagte Onkel Philipp. »Auf der einen Seite ein Windhund, der keinen Topf anbrennen läßt; und doch ein richtiger Melchior: klar, bestimmt, klug und anständig. Wer hätte das vor einem halben Jahre noch gedacht? Erinnert ihr noch die blöde Rede aus dem Familientag? Ich bleibe doch bei dem Rezept: Jugend soll sich austoben. Wie steht es mit dem Taschengeld, Hermann?«

»Na, reden wir nicht darüber. Ich bin neugierig, wann die dritte Erhöhung verlangt wird. Aber die sechs Monate gehen auch herum. Ich habe dieser Tage an de Graff in Surinam geschrieben. Dort soll er seine Auslandsstation machen.«

Philipp war entsetzt: »Aber Mensch, du hast doch Getreide! Was soll er mit Kakao und Kaffee und solchen Kolonialwaren?«

Hermann reckte sich: »Er soll das Geschäft seines Vaters 110 erweitern. Das soll er drüben lernen. Wir stehen schon zu lange auf demselben Fleck. Wir müssen weiter kommen. Und das ist seine Aufgabe. Darum Surinam.«

»Hast du schon mit ihm darüber gesprochen?«

»Das scheint mir nicht erforderlich. Er wird es noch zur rechten Zeit erfahren.«

Eberhardt erfuhr es aber schon am nächsten Tage, und zwar durch Onkel Philipp, der von der Verschickung in diese Wildnis nicht erbaut war. »Ich will dich ja nicht gegen deinen Vater aufhetzen«, sagte er. »Aber ausgerechnet Surinam!«

Eberhardt spielte den Gleichmütigen. »Mir ist alles recht, was Vater bestimmt. Meinetwegen Feuerland.«

Er hat das Kuschen schon gelernt, dachte Philipp. Er konnte nicht ermessen, wie es in Eberhardt nach dieser Unterredung aussah. Er telephonierte sofort bei Lisbeth im Geschäft an und verlangte, sie zu sehen.

»Ich kann doch nicht mitten aus der Geschäftszeit weglaufen!«

»Du mußt. Du mußt sofort kommen.«

»Wenn du es verlangst, ja.«

Als sie kam, lag er auf der Chaiselongue und hatte eine Flasche mit Likör neben sich stehen. Sie machte große Augen: »Nanu, es sieht nicht so aus, als ob etwas wichtiges passiert wäre.«

»Doch«, sagte er lächelnd. »Es liegt nur an der Form. Ich habe soeben mit mir selber auf das neue Ereignis und den neuen Entschluß angestoßen.«

»Also was gibt es?«

»Mein Vater hat beschlossen, mich nach Südamerika zu schicken.« 111

Sie stand reglos. »Du gehst . . .?«

»Ich gehe. Aber nicht nach Südamerika.«

»Wohin?« fragte sie tonlos.

»Das weiß ich noch nicht. Mir scheint, Südamerika ist kein passender Ort für einen Menschen, der sich soeben entschlossen hat . . . na, was meinst du?«

Sie blieb reglos. »Ich weiß nicht.«

»Also: der sich entschlossen hat, bei der ersten passenden Gelegenheit das Weite zu suchen, um irgendwo . . . ein Dichter zu werden. So wie der Jüngste von Menckens!«

Immer noch stand sie wie eine Statue und hatte den Kopf tief gesenkt.

Er wurde ungehalten. »Du freust dich nicht, Lissy?«

Ihre Sprache war schwer und träge: »Ich freue mich nicht . . .«

Eberhardt sprang auf. »Hast du denn alles vergessen, was geschehen ist? Von dir sollte mir doch alle Bejahung und Zustimmung kommen. Von dir sollte doch der Halt kommen, den man in solcher Lage braucht!«

Lisbeth hob langsam den Kopf: »Ich kann dir jetzt keinen Halt geben. Ich habe selber keinen mehr . . .«

»Warum? Was ist denn? Tue ich nicht alles, was ich kann?«

»Mehr als das. Aber damit wird es ein Ende haben. Ich will dich nicht lange quälen. Mein Chef hat erfahren, daß ich dramatischen Unterricht habe.

»Was geht es ihn an?«

»Er sagt, es passe ihm nicht. Es passe nicht für eine Tippse. Er hat sich bei Vater beschwert. Der hat es mir verboten . . .«

»Und du willst ihm gehorchen?« 112

»Wie kann ich das?« fragte sie leise. »Wie kann ein Mensch da zurück? Da hat er mich zwingen wollen und ist zum Chef gegangen.«

»Und?«

»Und heute habe ich meine Kündigung bekommen.«

Eberhardt atmete erleichtert auf. »Aber daran stirbt man doch nicht. Es wird sich eine andere Stellung finden. Es gibt doch genug.«

»Damit ist es nicht getan. Mir ist nicht nur verboten, Unterricht zu nehmen, sondern auch, mit dir zusammen zu sein.«

Eberhardt wurde blaß. An solche Möglichkeiten hatte er nie gedacht. »Was kann dein Vater dagegen haben, daß wir uns treffen?« rief er.

»Du bist so weltfremd«, klagte sie. »Denke dir doch nur, daß ein junges Mädchen aus euren Kreisen . . .«

Er wollte erwidern, das sei etwas ganz anderes. Aber er erkannte im selben Augenblick die Verwerflichkeit dieses Arguments. Bis heute war er in vollster Unbefangenheit gewesen. Jetzt sah er ein, daß die Ritterlichkeit vor dem sozialen Stande nicht Halt machen dürfe.

»Am ersten Abend, als wir hier waren, habe ich dir gesagt, daß ich mich nicht von dir trennen möchte . . .«

Sie packte seine Arme: »Werde doch endlich vernünftig. Du kannst mich doch nicht heiraten!«

»Warum nicht?« fragte er erstaunt. »Es wird einen großen Krach geben und tausend väterliche Flüche. Aber darum werde ich dich doch heiraten. Das heißt: wenn du einverstanden bist.«

»Wenn du noch einmal davon sprichst, dann gehe ich.« 113

»Dann mußt du gehen«, sagte er bestimmt. »Du glaubst, es sei mir nicht ernst?«

»Ich fürchte und sehe, daß es dir ernst ist. Aber es wird dein Unglück sein. Sieh an, Ebby, wir sind doch zwei freie Menschen. Ich will dir nichts versagen, was du von mir verlangst. Nichts, verstehst du? Ich will in einer Dachkammer mit dir hausen, wenn es sein muß. Nur diesen Knebel darfst du uns nicht anlegen. Uns beiden nicht.«

»Warum sagst du Knebel?« rief er verzweifelt. »Gibt es eine höhere Form der Bindung als . . .«

»Man möchte dich an beide Ohren packen, um dich von diesen Höhen herunter zu ziehen!«

»Versucht es nur! Ihr werdet kein Glück damit haben. Ich pfeife auf alle eure Vernunft. Wer hat vom Verschwenden gesprochen und vom Verschenken . . .?«

Sie faßte seinen Kopf: »Alles wirbelt er durcheinander, dieser Himmelsstürmer. Wir haben beide keine Zeit mehr, uns zu verschwenden. Es wird jetzt ernst. Es muß gearbeitet werden. Und dabei darf keiner eine Fessel haben. Ich habe Angst davor, und darum wird es richtig sein, was ich empfinde. Ebby, laß uns zusammen hausen, zusammen arbeiten, und wenn es sein soll, zusammen hungern. Aber wenn ich keinen Weg mehr sehen soll . . . dann ist es besser, wir sind heute das letzte Mal zusammen.«

Er stand fassungslos vor diesem Geschöpf, das er liebte, ohne es zu begreifen; dem er sich verschenkte, ohne die Tiefen ermessen zu können. Immer stärker wurde sein Gefühl, daß er der Geführte und nicht der Führer sei. Aber er gab sich endlich dieser Führung hin, denn die Wirbel, 114 die von ihm Besitz nehmen wollten, machten ihn schwindlig und unsicher.

Er durchlebte zwei Wochen, in denen er bittere Kämpfe mit Lisbeth und Otto ausfechten mußte. Aber nach Verlauf dieser Zeit war neben dem ersten Zimmer ein zweites gemietet, in welchem Lisbeth wohnte. Er hatte durchgesetzt, daß sie keine neue Stellung antrat, sondern sich ganz ihrem dramatischen Studium widmete. Um ihre Eltern zu beruhigen, griff er nach langen Gewissenskämpfen zu einem Mittel, das die Verzweiflung und die Beharrlichkeit seines Planes ihm eingaben. Er fälschte ein Schreiben der Dahlbergschen Stiftung, wonach Lisbeth Krämer ein Stipendium für die Dauer eines Jahres zum Zwecke ihrer Ausbildung erhielt. Albert Krämer las es trotz aller Empörung über sein mißratenes Kind mit einem gewissen Stolz. Die Dahlbergstiftung hatte einen guten Klang. Es schmeichelte seinem Ehrgeiz, als habe sein Kind ein gutes Zeugnis in der Schule bekommen.

Otto Krämer wußte um diese Fälschung. Er billigte sie nicht. Aber er weigerte sich, Partei zu ergreifen. »Ihr seid alt genug, zu wissen, was Ihr tut. Es gibt für das, was Ihr tut, nur eine Rechtfertigung: den Erfolg. Dem Erfolg wird sich auch jeder Spießer beugen. Wenn einer mit dem Aufsammeln von alten Lumpen eine Million verdient, dann ist er eben Millionär. So weit sind unsere Mitbürger immerhin, daß sie eine Zahl zu schätzen wissen. Und damit Gott befohlen.« – – –

Im übrigen wandte er sein Interesse dem »Ring« zu, der sich inzwischen um einige Mitglieder vergrößert hatte. Die Abende hatten die feierliche Bewegtheit der ersten Zusammenkunft verloren. Sie waren wilder, trotziger und 115 lauter geworden. Es wurde um Probleme gerungen, mit Welten gespielt, in Völkerschaften gedacht. Ziele wurden gesteckt, die im Unabsehbaren lagen. Feindschaften wuchsen auf aus der Verschiedenheit der Einsicht und der Einstellung. Oftmals stärkten sie den Willen, zusammen zu halten und an einer Gemeinschaft des Geistes werktätig zu werden. Aber das Ergebnis war jeweils eine vermehrte Spannung. Eberhardt stand diesem Ringen mit immer größerer Befremdung gegenüber. Ihn hatte das Ideal der Freiheit und der Schönheit und der inneren Gläubigkeit verlockt. Er berauschte sich an Harmonien, und seinem Ohr klangen diese Rhythmen aus Groll und Empörung zu hart und fremd. Er sprach einmal das Wort von der Tempelschändung aus, von der Entweihung eines Heiligtums.

»Helm ab zum Gebet«, höhnte Schröder.

»So nicht«, gab er zurück. »Auch in der Kirche können die Orgeln dröhnen, daß man meint, es müßten die Pfeiler und Wände einstürzen. Aber es bleibt ein Orgelspiel. Es wird kein Chaos. Immer ordnet sich die Klangfülle zu Schönheit und Gestaltung. Was ihr treibt, ist . . . Nihilismus.«

Da kam es zum ersten Bruch. Schröder stand auf und sagte: »Nihilismus, Herr Melchior, kommt von nihil, von nichts. Sie werden das in der Schule gelernt haben. Aber es kommt auch im ersten Akt der Weltschöpfung vor, in der creatio ex nihilo. Aus dem Nichts hat Gott die Welt geschaffen. Aus dem Nichts wollen wir sie wieder erschaffen. Für euch ist sie fertig. Für euch soll sie nur noch klingen wie eine Aeolsharfe. Ihr seid satt an der Welt und braucht sie nur noch zu eurem Behagen, zu 116 eurer Freude und Schönheit. Das kommt, weil ihr ein müdes, überaltertes Geschlecht seid. Ihr könnt euch nicht mehr empören. Ihr könnt nicht mehr Luzifer sein, denn ihr könnt nicht mehr stürzen. Darum aber kann euch Gott auch nie wieder in die Höhe ziehen. Es gibt bei euch keine Unordnung mehr, in die er seinen ordnenden Hauch blasen könnte. Ihr selbst habt Gott geordnet und er dient euch so, wie ein treuer Hausdiener. Es hat keinen Zweck für mich, daß ich damit meine Zeit verbringe. Ich will allein bleiben und Gott und der Welt täglich die Faust unter die Nase halten. Vielen Dank für die Gastfreundschaft, und gütigen Ablaß für meine Ehrlichkeit.«

Damit ging er. Und damit war die erste Lücke in den Ring gebrochen. Die zweite Lücke entstand, als Kolloge seinen Austritt anmeldete. Seine Begründung war weniger massiv als die, die Schröder gegeben hatte. Er sagte mit seinem harten, korrekten Organ: »Man muß im Leben verstehen, sich einzuordnen. Ich gebe Schröder recht, wenn er das Chaos sucht. Ich gebe auch euch recht, wenn ihr die Ordnung und die Harmonie sucht. Ich will weder das eine noch das andere. Ich will den Beruf, der in dem geschriebenen Wort liegt. Und die Macht will ich, die darin liegt. Ich will für Zeitungen schreiben.«

»Man wird ihre Entschließungen nicht beeinflussen können«, sagte Krämer trocken. »Immerhin möchte ich aus persönlicher Neugier die Frage stellen, wo hier eine Zeitung ist, die Ihrem Ehrgeiz gerecht werden könnte?«

Kolloge zog die Augenbrauen hoch. »Habe ich gesagt, daß ich hier an einer Zeitung arbeiten wollte? Ich will nicht vergessen, daß ich einmal zu euch gehört habe und will euch keine Unehre machen. Ich habe von der Macht 117 des geschriebenen Wortes gesprochen. Damit ist gesagt, daß ich meine Vaterstadt werde verlassen müssen. Ich möchte zu Menschen sprechen. Nicht zu Abonnenten und Aktionären.«

Eberhardt machte eine letzte Anstrengung, den Kreis zu halten. Für ihn bedeutete er etwas, das er nicht ohne Kampf aufgeben wollte: die Möglichkeit, aus der Lebendigkeit der anderen zu erhorchen, was die eigene Stimme sich zu sagen weigerte.

Es gelang ihm nicht. Es fehlte an Schwung und Triebkraft. Es fehlte vor allem an einem Fluidum, das stark genug gewesen wäre, immer wieder anzuregen und Lust zu neuem Schaffen zu vermitteln. Eberhardt war endlich auch zu müde, diese Anstrengungen zu erneuern, denn es begannen bisher ungekannte Sorgen, ihn zu bedrücken. Es mangelte ihm an Geld, um Lisbeths Unterhalt und ihre Ausbildung weiterhin in der Form zu bestreiten, in der es bislang geschehen war. Er verwunderte sich einige Male und schüttelte den Kopf, wie solche Dinge einen Menschen belasten können. Bis zu diesem Tage war Geld etwas, das man eben besaß, oder das man sich erbitten konnte, wenn man nichts mehr hatte. Daß es eine Last sein konnte, die bedrückt und das Herz schwer macht und alle Gedanken mit Eisenringen umspannt, erfuhr er erst in diesen Tagen. Doch war er jung genug, die Hoffnung nicht zu verlieren. Da sein Vater auf Reisen war, wandte er sich an seine Mutter. Er glaubte, sie würde ohne Wort und Frage geben; aber zu seinem Erstaunen machte sie Schwierigkeiten.

»Zu welchem Zwecke willst du das Geld haben?«

»Muß darüber gesprochen werden?« fragte er unwillig. 118

»Ja, es muß. Ich muß es deinem Vater gegenüber verantworten können.«

»Kannst du dir denn nicht denken, wozu ich es brauche?« rief er.

»Es ist nichts damit genützt, daß ich mir Gedanken darüber mache. Ich kann nicht wissen, ob sie richtig sind. Du hast deine Heimlichkeiten, in die du niemanden hinein sehen läßt. Du kannst die anderen täuschen. Mich nicht. Ich mag mich aber nicht in deine Geheimnisse drängen. Zuweilen denke ich ja, du solltest Vertrauen zu mir haben. Aber ich weiß nicht, welches Recht ich darauf habe. Warte, bis dein Vater zurückkommt.«

Er verstummte. Unheimliche Lasten rückten gegen ihn an. Er kannte ihr Gewicht nicht. Darum hatte er Furcht vor ihnen. Er erfuhr zum ersten Male in seinem Leben, was eine schlaflose Nacht bedeutet und das Blei der Stunden, unter denen man stöhnt.

Nach einigen Tagen wandte er sich abermals an seine Mutter: »Ich bitte dich nochmals, mir Geld zu geben. Die Gründe sind mit dürren Worten gesagt. Ich lebe mit Lisbeth Krämer zusammen und lasse sie zur Schauspielerin ausbilden . . .«

Er sah, wie das Gesicht seiner Mutter voll von einem verhaltenen, mütterlich mitleidigen Lächeln wurde. Er sah, wie sich unendliche Zärtlichkeiten in ihr stauten. Er hörte schon, wie sie sagen würde: Das sind so Jugendstreiche, so köstliche und rührende Dummheiten der Jahre, die noch nichts zu sorgen haben und die noch mit allen denkbaren Idealen durch die Mauern rennen wollen. Wenn es weiter nichts ist, dann will ich es wohl verantworten. 119

Und in der Tat wollte Ethel Melchior so sprechen. Aber sie kam nicht dazu. Eberhardt ließ es nicht zu, daß man seinen Willen und seine Gefühle so in mütterlichen Erwägungen erstickte. Darum sagte er hart und betont: »Im übrigen versteht sich, daß ich Lisbeth Krämer gegenüber moralische Verpflichtungen habe und daß ich sie heiraten werde.«

Ethel schwieg. Dieses war das andere Gesicht, das sie geahnt hatte. Nun es sich offenbarte, war sie doch erschrocken. Sie sagte mühsam: »Ich würde dir nie Schwierigkeiten machen, wenn ich sehe, daß du mit ganzem Herzen bei einem Menschen bist. Aber ich bin nicht frei in dem, was ich tue. Ich habe meine Freiheit aufgegeben, um die Frau deines Vaters und um deine Mutter sein zu können. Ich habe kein Recht, daran etwas zu ändern. Mir sind keine Entschließungen anvertraut . . . sondern nur das Abwarten . . . und das Mitleiden. Darum kannst du nicht mit mir rechnen . . . wenn wir einander auch noch so fremd dadurch werden sollten . . .«

»Mutter, du bist doch die einzige, die nicht kleinlich ist!«

Sie saß ganz in ihrem Sessel zusammengesunken. »Mein Junge«, sagte sie, »ich habe kein Verständnis dafür, wenn andere sich entsetzen und vor jedes Erlebnis den gesellschaftlichen Unterschied stellen wollen. Ich weiß, wer dieses Mädchen ist. Ich habe mich erkundigt. Hab' keine Angst, die anderen wissen nichts davon. Ich würde ihr weder mein Herz noch mein Haus verschließen. Aber gegen alles steht meine Pflicht, deinem Vater gegenüber wahr und ehrlich zu sein. Ich darf nichts tun, was er verwerfen würde.« 120

Der Zorn brannte in Eberhardt: »Niemand ist so klein und eng . . .«

Sie unterbrach ihn: »Ich erlaube dir nicht, etwas gegen deinen Vater zu sagen. Du hast kein Recht dazu. Er mag anders sein, als du dir Menschen träumst. Aber er ist ganz. In seiner Art ganz und geschlossen. Du bist es nicht. Du bist ein unklarer Anfang, ein Mensch, der nach jeder Seite ausbricht, die ihm offen scheint . . .«

Eberhardt sprang auf: »Und von wem habe ich das? Was für ein Erbteil ist das? Du mußt nicht glauben, daß ich kein Gefühl für Menschen hätte. Ich sehe schon lange, woher diese Unruhe kommt; dieses Unbehagen, das sich darnach sehnt, alle Schranken zu durchbrechen; dieses Gefühl, man könnte und dürfte nicht zur Ruhe kommen, weil das Blut nicht Ruhe geben will. Und diese Angst, daß eines Tages die Fesseln kommen und alles einschnüren und so klein und eng machen. Die Angst, bei lebendigem Leibe zu sterben. Ist das nicht alles ein Erbteil von dir? Kommt das nicht alles von dir?«

Ethel weinte aus weit geöffneten Augen und sagte: »Ja . . . Ja.«

Am nächsten Tage ging Eberhardt zu dem Geldmakler Schlohe und bat um ein Darlehen. »Haben Sie Sicherheiten?« fragte der Makler. Eberhardt verneinte: »Ich brauche keine Sicherheiten. Ich bin der Sohn von Hermann Melchior.«

»Das ist etwas anderes«, sagte der Makler. »Der Name ist gut. Sie können das Geld bekommen, wenn Sie mir einen Wechsel unterschreiben.«

Er unterschrieb ohne jedes Bedenken. Nur als er das Datum sah, stutzte er. »Auf einen Monat nur?« 121

»Das ist so üblich. Nach einem Monat wird der Wechsel verlängert, gegen die gebräuchlichen Zinsen. Die Zinsen und die Provision für den ersten Monat pflege ich gleich abzuziehen. Das ist einfacher.«

Eberhardt ließ es über sich ergehen. Einen Tag lang hatte er das Gefühl, eine abschüssige Bahn betreten zu haben. Dann verlor es sich. Seine Gedanken waren anderweitig beschäftigt. Mit einer Hast und Innigkeit, die Lisbeth nie in ihren letzten Gründen kennen lernte, verlebte er seine freie Zeit mit ihr. Er kaufte Bücher, aus denen sie lernen sollte. Er memorierte Rollen und Texte mit ihr, er drängte sie zur Arbeit und zu neuen Leistungen. Er weckte sie zuweilen mitten in der Nacht, wenn sie tief atmend ihm zur Seite lag und raunte ihr zu: »Du müßtest die Hedda Gabler spielen. Hörst du? Oder die Nora. Das ist eine Rolle für dich. Die Frau, die auf das Wunderbare wartet.«

Sie flüsterte müde: »Auf das Schöne warten . . . oder auf das Furchtbare. Es ist gleich . . . Schlafen jetzt . . . schlafen.«

Zuweilen drängte sie ihn, auch an sich zu denken, für sich etwas zu tun, Verse zu schreiben, nicht immer nur aufzunehmen, sondern auch zu geben.

»Ich kann jetzt nicht«, sagte er dann mit einem Anflug von Müdigkeit. »Ich habe keine Ruhe innerlich. Es wird sich wohl alles sammeln und eines Tages an die Oberfläche kommen. Ich denke an das, was Schröder gesagt hat.«

Die Zeit lief ihren Gang, unbeteiligt, kühl, grausam. Ein Monat war vergangen und der Wechsel wurde fällig. »Sie verlängern doch?« fragte Eberhardt. 122

»Ich verlängere nicht«, sagte der Makler. »Ich kann es, aber ich will es nicht. Im Wechsel steht nichts davon.«

»Und warum wollen Sie nicht?« fragte Eberhardt blaß und bebend.

»Weil ich so verschiedene Dinge über Ihre Lebensführung gehört habe. Ich kenne die feinen Herrschaften. So lange es harmlose Dummheiten sind, bezahlt der Herr Vater. Aber wenn es ernster wird, zahlt er nicht.«

»Was wissen Sie von meinen Privatangelegenheiten?«

»Sehr viel. Bremen ist eine kleine Stadt. Da weiß jeder alles. Und sogar mehr, als der, den es angeht. Aber wenn ich nur fünfzig Prozent abziehe, bleibt noch genug. Ich sehe sehr düster und will mein Geld haben. Ich lasse Ihnen drei Tage Zeit.«

Eberhardt wußte, daß sein Vater in zwei Tagen zurückkommen würde. Er wußte aber auch, daß er nicht den Mut aufbringen würde, ihn um das Geld zu bitten. Was also blieb? Er dachte an Onkel Philipp. Der würde Verständnis haben.

Er ging zu ihm: »Onkel Philipp, ich sitze tief in der Tinte.«

»So? Ist was mit dem Mädel schief gegangen?«

»Nein. Was du für Gedanken hast. Viel schlimmer. Ich brauche Geld.«

»Wofür denn?«

»Ich habe mir Geld geliehen und kann es nicht zurückzahlen. Das ist es.«

Philipp begann zu schnaufen und ging in seinem Zimmer auf und ab. »Also du hast Geld geliehen. Du kennst mich. Du weißt, daß ich jeden Unfug mitmache. Aber Geld geliehen? Da mache ich nicht mit.« 123

»Aber Onkel Philipp . . .«

»Wenn du zu mir kommst und sagst: Philipp-Onkel, rück mal was raus. Ich will mit Heini und Fidi kneipen gehen; oder ich will eine Spritztour mit meiner Freundin machen; oder ich will ihr was schenken: gut. Dann gebe ich dir. Vielleicht gebe ich dir noch den guten Rat überher, der am Schütting steht: Was bedächtig, lat nich mehr in, as du bist mächtig. Aber wenn du kommst und sagst: ich habe Schulden gemacht, dann sage ich nein. Man macht keine Schulden. Verstehst du? Man macht sie einfach nicht. Niemand soll weiter huppen, als ihm die Leine reicht. Niemand soll sich leisten, wofür er nicht das Geld in der Tasche hat.«

»Man kann Pech haben«, wagte Eberhardt einzuwerfen.

»Man kann nicht!« erboste sich Philipp. »Denn man faßt nichts an, wobei man Pech haben könnte. Man schuldet niemandem etwas. Darum gebe ich dir nichts. Basta. Sonst noch Wünsche?«

»Danke, nein. Nur den einen Wunsch habe ich, daß du nie in eine solche Lage kommen möchtest.«

»Das walte Gott!« schrie Philipp und war blaurot im Gesicht vor Wut.

Damit war ein Tag vertan. Es blieben noch zwei Tage. Die Stunden hatten Flügel. Abends mußte er zu Hause bleiben, um seinen Vater zu begrüßen. Er hörte die Berichte der Reise und der Erfolge. Zuweilen sah er zu seiner Mutter hinüber und wunderte sich, daß sie so still und gelassen war. In ihm brannte eine grenzenlose Bitterkeit und ein richtungsloser Zorn. Hätte er nur irgend jemanden packen und ihn verantwortlich machen können, 124 dann wäre ihm leichter geworden. Aber es gab hier nichts abzuwälzen. Seine Tat und seine Verantwortung lagen auf ihm. Sie mußten getragen werden. Aber wie sie verantworten?

Er zog die Stirne kraus. Vor wem war zu verantworten. Doch nur vor ihm selbst. Und weiter: worin lag die Verantwortung? Was stand auf dem Spiele?

Eine Frage seines Vaters kam dazwischen, die er nur mit halbem Ohr hörte und zerstreut beantwortete. Dann bohrte er sich wieder in seine Gedanken hinein. Aber vergeblich. Ohne Antwort blieb alles. Er stahl sich leise hinaus.

Aber sein Zimmer war zu eng für seine Bedrängnisse. Er mußte einen Menschen neben sich wissen, der ihm Aufschluß und Klarheit gab. Darum verließ er das Haus und suchte Schröder auf.

Schröder saß in Hemdsärmeln an einem roh gebeizten Tisch und schrieb. Er war nicht erstaunt, als er Melchior sah. Er räumte einen Stuhl ab, auf dem Bücher lagen und sagte: »Bitte«.

»Was schreiben Sie da?« fragte Eberhard verlegen.

»Ein Drama. Mit einer Rolle darin für Lisbeth Krämer.«

Eberhardt lachte gezwungen: »Bestellte Arbeit oder eine Überraschung?«

»Wir haben eingehend darüber gesprochen«, sagte Schröder gelassen. »Ich hielt es nur nicht für angebracht, darüber eher zu sprechen, bis die Arbeit fertig ist.«

Melchior war vor Eifersucht geschüttelt. »Merkwürdig«, sagte er grimmig, »daß ich der Letzte sein soll, der davon 125 erfährt. Sie werden nicht bestreiten können, daß ich ein Anrecht darauf habe, zu wissen, was Lisbeth Krämer tut.«

Schröder sah kaum von seinem Tische auf. »Wieso haben Sie ein Anrecht? Weil Sie Lisbeth Krämer ausbilden lassen? Ich habe mir bisher gedacht, Sie täten es um der Sache, um ihrer Kunst willen. Leiten Sie persönliche Rechte daraus her? Dann sollten Sie es aufgeben, um sich vor Enttäuschungen zu bewahren. Alle Kunst ist eigensüchtig. Sie kennt nur sich und ihr Ziel. Wer nicht die Fähigkeit hat, sich einem solchen Ziele zu opfern, der soll besser die Hände davon lassen.«

»Ich verlange ja keinen Dank«, sagte Eberhardt.

Aber der andere unterbrach ihn schroff: »Davon bin ich noch nicht überzeugt. Aber das geht mich auch nichts an. Es kommt hier nur darauf an, ob einer die Verantwortung trägt und wie er sie trägt. Sie geben Lisbeth Krämer materielle Möglichkeiten. Niemand erkennt es mehr an als sie selbst. Damit ist nicht alles getan. Sie muß auch geistige Möglichkeiten haben. Und Sie sollten nicht eifersüchtig werden, wenn Sie erfahren, daß ich sie ihr geben will. Es geht um ein Ziel, Herr Melchior. Man darf keinen Menschen auf der Strecke liegen lassen. Es gibt nur eine einzige Verantwortung: die für das Ziel. Dafür muß man alles tun können; die Menschen verachten, sich von ihnen absondern, sie bestehlen, betrügen, belügen . . .«

Er senkte den Kopf in die Hände: »Nehmen Sie es nicht für bare Münze, was ich sage. Ich sehe ein, daß ein Schuß Bitterkeit darin ist. Aber wir . . . wir haben nichts als die Empörung. Ihr . . . ihr habt die Mittel, eure Tage ruhig zu gestalten. Gehen Sie, Herr Melchior. Mir 126 brennen zu viele Gedanken auf der Seele. Und seien Sie mir nicht böse.«

Eberhardt ging. Seine Schritte waren langsam und betont. Er ging wie ein Mensch, der eine reifende Entscheidung nicht durch Hast und Unruhe stören will. Er ging zu Lisbeths Wohnung, aber er blieb auf der Straße stehen und sah zu ihrem Fenster hinauf. Oben brannte Licht, ruhig, gleichmäßig. Nicht ein Schatten wurde an den Vorhängen sichtbar. Aber wenn er scharf hinhorchte, konnte er hören, daß da oben eine kraftvolle Stimme von Mal zu Mal auftönte.

Eberhardt lächelte. Eine grenzenlose Zärtlichkeit durchpulste ihn. Dort oben ging ein Mensch mit der Sicherheit des Nachtwandlers seinen Weg. Der Reichtum einer Seele wollte sich da verschwenden um der Gestaltung willen. Und er, der den ersten Anstoß zu dieser Entfaltung gegeben hatte, sollte in Bedenklichkeiten versinken und den krummen Weg scheuen, wenn der gerade sich nicht gehen ließ? Schröders Worte gingen ihm nach. »Es gibt nur eine einzige Verantwortung: die für das Ziel.«

Er nickte zu dem Fenster hinauf und ging weiter. Als er vor dem Kontorhause von Steding & Kroog stand, verharrte er eine Weile, um diesen letzten Rest von Unruhe und Angst verebben zu lassen. Dann klingelte er und wartete, bis der Hausmeister kam. »Ich habe oben Briefe liegen lassen, die ich unbedingt noch zur Bahnpost bringen muß. Entschuldigen Sie die Störung.«

Der Hausmeister öffnete ihm das Kontor. Er ging ohne zu zögern an den Schreibtisch von Wischhusen und zog sein Schlüsselbund. Er sah sich nicht um, verriet keine Erregung, sondern suchte gelassen, welcher Schlüssel passen 127 würde. Er mußte beinahe lachen, als er feststellte, daß es der Schlüssel zu seinem eigenen Schreibtisch war. Er öffnete das linke Schubfach und griff hinein. Dort lag die »kleine Kasse«. Er fühlte weiche Papierbündel unter seinen Fingern, nahm sie und tat sie in seine Tasche. Dann schloß er wieder ab und ging gelassen fort. »Ist schon in Ordnung«, sagte er unten dem Hausmeister.

Er schlief völlig ruhig in dieser Nacht. In der Mittagspause des nächsten Tages ging er zu Schlohe. »Haben Sie das Geld?«

»Natürlich«, sagte er geringschätzig. Er hatte das Geld noch so in der Tasche, wie er es am Abend vorher hinein getan hatte. Er zählte tausend Mark davon ab und sah, daß er noch zweihundert übrig hatte. Damit ging er zum Postamt und schickte sie ohne Angabe eines Absenders an Schröder. Alsdann begab er sich wieder in das Kontor.

Der Tag verlief ohne irgend ein Ereignis. Nichts wies darauf hin, daß ein Verlust in Wischhusens Kasse aufgedeckt sei.

Aber am Nachmittag des nächsten Tages saß Steding ernst und korrekt vor Hermann Melchior in dessen Kontor. Dort berichtete er über den Verlust des Geldes, über den abendlichen Besuch Eberhardts und die Aussage des Hausmeisters. »Ein Zweifel scheint leider ausgeschlossen, denn wir haben festgestellt, daß zu den Schreibtischen ihres Sohnes und Wischhusens die gleichen Schlüssel gehören. Ein Irrtum ist unmöglich.«

In Hermann Melchior brachen mit diesem Bericht Welten der Ordnung und Rechtlichkeit und Zuverlässigkeit zusammen; Welten des stolzen Zutrauens zu seinem eigenen Kinde, und dafür brannte ein Schandmal mit 128 unerträglichen Schmerzen in seiner Seele. Keine Stunde seines Lebens war so schwer und so unauslöschlich wie diese. Aber nichts davon kam zum Ausbruch. Eher hätte er sich bei lebendigem Leibe rösten lassen, als einem Fremden diese Schmach und Niederlage einzugestehen. Hermann Melchior kämpfte einen heroischen Kampf um die Reinheit seiner Ehre und seiner Familie. Während innen alles wund und blutend war, zwang er sein Gesicht, ruhig zu bleiben. Er zwang es, sich zu Falten eines leisen Lächelns zu verziehen. Er zwang es endlich seinem gequälten Herzen ab, daß er ein lautes, fast überlautes Gelächter anstimmte und sich hin und her bewegte, als könne er seiner Heiterkeit nicht Herr werden.

Steding erhob sich brüsk: »Wo ist da ein Grund zum Lachen, Herr Melchior?«

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Hermann und mühte sich um einen Ernst. »Sie werden selbst lachen, wenn ich Ihnen alles aufkläre.«

»Da bin ich neugierig«, sagte Steding und nahm wieder Platz.

Und nun baute Hermann Melchior an der ersten Lüge seines Lebens.

»Also die Sache verhält sich so: Ich habe dem Jungen Geld versprochen. Weiß der Kuckuck, wofür er es haben wollte. Dann habe ich gehört, daß er eine kleine Freundin hat, und ich habe mir gesagt, es ist besser, er macht solche Dummheiten nicht. Darum habe ich ihm gesagt, er bekäme das Geld nicht. Doch er revoltierte. Er bestand darauf, weil ich ihm das Geld versprochen hätte. Dagegen war ja an sich nichts zu sagen. Aber es paßte mir nicht, daß er so beharrlich war, und ich sagte rundweg: Du 129 bekommst es nicht. Und was sagt mir der Junge? Ich hätte mein Wort gegeben und er würde mich zwingen, es einzulösen. Stellen Sie sich das vor! Er würde seinen eigenen Vater zwingen, Wort zu halten. Er hat mir sogar ein Ultimatum gestellt, der Bengel. Ich hielt es für einen schlechten Scherz. Und jetzt? Jetzt sitze ich in der Patsche, und nicht er.«

»Na, wissen Sie«, sagte Steding ernst, »solche Experimente würde ich doch mit ihm nicht wieder machen. Sie sehen ja, was dabei herauskommt. Moralisch sind Sie der verantwortliche Teil. Sachlich ist er im Recht. Das Mittel aber . . . wenn es auch kühn ist . . . will mir nicht gefallen.«

»Mir auch nicht. Weiß Gott. Aber es ist für mich eine Lehre, die ich nie vergessen werde. Wieviel war es doch, zweihundert, nicht wahr?«

»Zwölfhundert, mein Lieber!«

»Gewiß, gewiß. Entschuldigen Sie. Natürlich zwölfhundert.«

Als Steding fort war, brach Melchior zusammen. Mehr als die Schmach, die er noch hatte verdecken können, brannte jetzt das Gefühl der Enttäuschung. Wie konnte es sein, daß er einen Menschen falsch beurteilte? Wie konnte sein Sohn ein Dasein führen, das ihm verborgen blieb? Waren seine Instinkte so matt geworden?

Nein. Sein Wille war matt geworden! Da lag der Schlüssel. Er hatte es an Strenge und Energie fehlen lassen. Er hatte sich eine große Gebärde geleistet, die seinem Kinde eine Freizügigkeit gab, auf das es noch keinen Anspruch hatte. Es war eine verliebte Schwäche, vielleicht auch eine zu große Rücksichtnahme auf Ethel, die 130 ihn dazu verführt hatte, milde zu sein, wo es schädlich war. Seine ganze Hoffnung war, daß es noch nicht zu spät sei, Wandel zu schaffen.

Er verließ frühzeitig das Bureau und ging heim. Ethel war unruhig, als sie ihn zu so ungewohnter Zeit sah. »Du siehst blaß aus, Hermann. Was ist geschehen?«

»Wir müssen etwas sehr Ernsthaftes besprechen, Ethel. Weißt du, was unser Junge in seinen freien Stunden treibt?«

Sie senkte den Kopf. »Ich weiß es seit zwei Tagen. Du weißt, ich hätte es dir nicht vorenthalten.«

»Das weiß ich. Wenn du nicht mehr wahr zu mir sein solltest, wer dann?«

»Was weißt du?« bangte sie.

Hermann bezwang sich zum anderen Male an diesem Tage, oder er belog sich zum anderen Male. Selbst seiner Frau gegenüber war das Bekenntnis zu schwer. »Er hat Schulden gemacht«, sagte er gepreßt.

Ethel atmete auf. Sonst nichts? dachte sie. Wie wird der arme Junge sich gequält haben.

»Und was weißt du?« fragte Hermann.

Sie erzählte alles, was sie wußte. Sie verschwieg nichts, obgleich sie nicht von dem Gefühl frei kam, sie verrate ihr einziges Kind. Aber die einmal übernommene Pflicht, die Grundlage ihres Lebens, wog schwerer.

Hermann hörte mit gesenktem Kopfe zu. Als sie alles berichtet hatte, war eine Pause aus Erwartung und gespanntem Schweigen. Endlich hob Hermann den Kopf und sagte bestimmt: »Nun sehe ich klar. Daß er Schulden macht, ist an sich nicht zu verantworten. Aber es ist zu reparieren. Daß er Dichter werden will, ist eine Eselei,131 die ihm schon von selbst vergehen wird. Aber daß er ein Mädchen heiraten will, das . . . ein solches Mädchen . . . da fängt die Sache an, für mich unerträglich zu werden. Damit vernichtet er die Grundlage seiner Existenz. Ich bin nicht hochmütig, aber ich sehe auf Herkommen und Stand. Er hat nicht das Recht, aus unserem Stand heraus zu laufen. Ich dulde es nicht. Mag sein, daß das Mädchen die besten Eigenschaften hat. Mir genügt sie nicht als Schwiegertochter. Es lohnt nicht, weiter darüber zu reden. Unsereins muß in seiner Art bleiben.«

»Was willst du tun?« fragte Ethel still und erschöpft.

»Er muß sofort weg.«

Sie wußte, daß jeder Widerspruch vergeblich war. Sie faßte nur liebevoll seinen Arm: »Nicht wahr, du wirst nicht hart zu ihm?«

Er strich ihr über den Kopf. »Nein, denn ich habe auch Schuld. Ich war nicht aufmerksam genug. Ich habe ihn verwildern lassen. Aber ich will es nachholen. Wenn du es für richtig hältst, möchte ich einmal mit dem Bruder dieses Mädchens sprechen; nicht mit dem Mädchen selbst. Nur, damit ich einmal die geistige Umgebung kennen lerne, in die er da geraten ist.«

»Wie du meinst. Aber verlange nicht, daß ich zugegen bin.«

Hermann rief im Geschäft von Steding & Kroog an und verlangte Otto Krämer zu sprechen. »Würden Sie die Güte haben, für einen Augenblick zu mir zu kommen?«

»Um was handelt es sich?« fragte die ruhige Stimme zurück.

»Um meinen Sohn. Ich nehme an, daß er Ihr Freund ist.« 132

»Ich komme sofort.«

Nach einer Viertelstunde war Krämer da. Er war ruhig und unbefangen wie immer. »Sie wünschen?« fragte er so kühl, daß Hermann Melchior fast an den Rand seiner Selbstbeherrschung geriet.

»Ich wünsche von Ihnen zu erfahren«, knurrte er, »was Sie dagegen getan haben, daß mein Sohn mit Ihrer Schwester in Beziehungen getreten ist.«

»Ich habe weder etwas dafür noch etwas dagegen getan. Mein Taktgefühl verbietet es mir, mich in die privaten Angelegenheiten der beiden zu mischen. In unseren Kreisen«, sagte er mit vermehrter Betonung, »ist man geneigt, Respekt vor solchen Dingen zu haben. Darum sehe ich auch keinen Grund und keine Möglichkeit, weiter darüber mit Ihnen zu sprechen. Wenn ich Ihnen sonst dienlich sein kann . . .«

»Es gibt wohl verschiedene Auffassungen über den Wert und die Zulässigkeit solcher »Dinge«, wie Sie es zu nennen lieben.«

»Das gibt es allerdings«, sagte Otto ruhig. »Sie bestätigen mir also, daß es zwecklos ist, darüber zu reden. Wir müßten dann schon die großen Probleme der Klassengegensätze anschneiden. Ich sehe nicht ein, was Ihrem Sohn damit gedient sein kann.«

»Indirekt dient es ihm insofern, als es meine Entschließungen beeinflussen könnte. Ich habe den Eindruck – verzeihen Sie – daß mein Sohn durch Sie in Kreise und Gedankengänge geraten ist, die sich mit seinem Stand und Herkommen nicht vereinbaren lassen.«

»Das ist zum Teil richtig«, lächelte Otto Krämer. »Ich habe ihm das gleiche gesagt. Ich habe es ihm aber nicht 133 verwehrt, in Dinge Einblick zu nehmen, die außerhalb seiner Lebenssphäre liegen. Ich sehe, daß Sie deswegen Befürchtungen haben. Trösten Sie sich, Herr Melchior. Es liegt für Ihren Sohn keine Gefahr darin. Er ist mit der Kenntnis dieser gefährlichen Ideen nicht zu Ende gekommen. Dafür werden Sie sorgen, vermute ich.«

»Was ich daran tun kann . . .«, rief Hermann erregt.

»Wie gesagt, Herr Melchior: haben Sie keine Angst. Er ist nicht fertig geworden und er wird nicht fertig werden, auch wenn Sie ihn nicht hindern würden.«

»Das sind unklare Redensarten.«

»Sie lassen sich erklären«, sagte Otto bescheiden. »Er kommt aus einem Milieu, wo nur die individuelle Lebensauffassung etwas gilt. Er nimmt sie auch für sich in Anspruch. Er kann nicht anders. Für uns, die wir die Welt anders sehen und erleben, ist diese individuelle Lebensauffassung längst zusammengebrochen. Aber er wird keine andere kennen lernen. Er wird nicht an dem zugrunde gehen, wofür wir leben wollen: an dem inneren Gewicht einer Masse von lebendigen Menschen. Er gehört zu einer Kaste, die sich aus einzelnen zusammensetzt. Wir gehören zu einer Gemeinschaft. Er wird nie in ihr untergehen.«

»Sie sprechen nicht so, als ob er Ihr Freund wäre,« sagte Melchior mit leiser Verachtung.

»Das unterliegt nicht Ihrem Urteil!« rief Krämer erregt. »Ich lasse es nicht zu, daß Sie Ihre Meinung darüber äußern! Ich brauche Ihr Urteil nicht. Er ist mein Freund, auch wenn wir auf verschiedenen Seiten der Welt stehen, denn er ist ein guter Mensch.«

Da verlor Hermann Melchior seinen Hochmut. Es 134 zuckte in seinem Gesicht. Er stand auf und drückte Otto Krämer die Hand: »Ich danke Ihnen, Herr Krämer. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen.« Er begleitete ihn bis an die Haustüre. Da sagte er noch einmal leise: »Haben Sie vielen Dank, Herr Krämer.« – –

Nach dem Abendessen ließ er Eberhardt in sein Kabinett kommen. Er legte ihm einen Schein vor und sagte ruhig: »Unterschreib das bitte.«

Eberhard las: »Von meinem Vater habe ich heute 1200,– ℳ zur Deckung des bei der Firma Steding & Kroog gestohlenen Betrages erhalten. Bremen . . .«

Er nahm eine Feder und unterschrieb mit großen, steilen Zügen. Dann wartete er. Sein Gesicht war hochmütig und kalt. Ihn beherrschte nur eine einzige Empfindung: Wie abgeschmackt! Wie langweilig!

»Kann ich jetzt gehen?« fragte er endlich.

»Bitte.«

Er schloß leise die Türe hinter sich, so wie er es immer tat, wenn er aus diesem Kabinett kam. Draußen auf dem Flur stand seine Mutter, hielt sich mühsam an der Wand aufrecht und fragte: »Eberhardt . . . wohin gehst du?«

»Wohin ich gehöre, Mutter«, sagte er. Seine Stimme war so kalt und klanglos, so fern und unbekannt, daß sie sich besinnen mußte, von wem dieser Klang kam. Sie wollte ihn fragen: warst du es, der eben gesprochen hat? Aber während sie nachsann und diese Frage erwog, hörte sie schon die Haustüre mit dem metallenen Geräusch einschnappen.

Sie blieb so stehen, an die Wand gelehnt, müde und schwach, mit kleinen, scharfen Stichen in der Herzgrube. Das Haus war so groß und still und leer. Man wußte 135 nicht, wo man sich bergen konnte. Jeden Tag wurde es leerer. Jetzt war auch das Kind fortgegangen. Sie wußte: ich sehe ihn nicht wieder. Und sie fragte sich: was soll ich noch hier?

Als Hermann Melchior aus seinem Kabinett kam, fand er sie auf dem Boden, in hockender Stellung, den Kopf ohnmächtig gegen die Wand gelehnt. – – – – –

Eberhardt stand vor dem Hause in der kleinen Querstraße und sah hinauf. Licht war oben. Er ging über die dunklen Stiegen. Seine Glieder bewegten sich und er wußte es nicht.

Lisbeth saß in eine Ecke gekauert und las aus einem Manuskript. Sie schreckte leise zusammen: »Ich habe dich nicht kommen hören. Ich war so vertieft.«

»Was liest du da? Ist es das Drama von Schröder?«

Sie errötete. »Ja. Woher weißt du davon?«

»Er hat es mir gesagt. Ist denn etwas dabei? Du wirst rot. Du solltest nicht rot werden, Lissy. Das sieht aus, als hättest du ein schlechtes Gewissen. Du sollst aber kein schlechtes Gewissen haben. Jeder verantwortet, was er tut.«

»Wenn ich ein schlechtes Gewissen hätte«, sagte sie leise, »dann würde ich versuchen, mich zu rechtfertigen.«

»Du tust es aber nicht«, lächelte Eberhardt.

»Ich tue es nicht. Nein . . . Ich nehme ja nur das, was mir zukommt . . . Ich bin da, wohin ich gehöre . . . Es ist nichts zu rechtfertigen.«

»Lies weiter«, sagte er. »Ich will dich nicht stören.«

Sie beugte sich wieder über das Manuskript. Er sah sie an. Er wollte unendlich vieles sagen. Es mußte so vieles in diesem Augenblick gesagt werden, wenn nicht ein 136 Gebirge von Mißverständnissen zurückbleiben sollte. Aber wie sie da saß, über das Manuskript gebeugt, dem Sinn irgendwelcher Worte hingegeben, an das Schicksal von Menschen und Geschöpfen verloren, in sich hineinspielend, was sie eines Tages aus sich heraus spielen würde, mit jeder Faser dienstbar und bereit dem, was von ihr Besitz ergriffen hatte . . . da erkannte er, daß es hier nichts mehr zu sagen gab; nichts, was entscheiden konnte. Es war alles ausgerichtet und im Gleichgewicht. Er liebte sie; dafür hatte er Opfer gebracht. Was gibt es da zu reden? Er hatte sie zur Kunst geführt, und sie war dort gelandet. Kein Grund, darüber zu reden. Er hatte geglaubt, er könne Wegstrecken mit ihr gehen. Aber sie war schneller und zielstrebiger als er. Sie war schon weit voraus, während er sich um die ersten Anfänge mühte. Was also war zu sagen? Nichts.

Er stand auf und küßte sie. Sie sah ihn befremdet an und wollte etwas fragen. Aber er legte ihr die Hand auf den Mund: »Frag' nichts. Lies weiter. Was Schröder schafft, ist wirkliche Kunst. Ihr beide . . . Ihr gehört eigentlich zusammen . . .«

Er hörte sie sprechen. Aber sein Ohr nahm es nicht mehr auf. Er war schon draußen und ging die dunklen Stiegen hinunter. Er war auf der matt erhellten Straße und sah noch einmal die Umrisse jener Fenster. Dann ging er heim . . . . . 137

 


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