Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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5. Kapitel.

Die Jahreszeit näherte sich wieder dem Frühling. Es war eine unbestimmte Jahreszeit; kein Winter und kein Herbst. Es war eine Nässe und Feuchtigkeit; dazwischen unvermittelt helle Tage mit strahlender Sonne. Dann wieder nebelndes Grau, kalte Ostwinde, Stürme, die über das blanke Land zogen.

Grit fror. Surinam war nicht zu vergessen. Sie saß viel am Kamin. Aber sie war nicht mehr so oft alleine. Hermann Melchior und Onkel Philipp leisteten ihr Gesellschaft. Hermann war so alt und müde geworden, daß er nicht mehr regelmäßig ins Geschäft ging. Nach außen hin hatte zwar alles sein altes Gesicht bewahrt; in Wirklichkeit aber liefen die meisten Geschäfte über die Firma seines Sohnes. Er war es zufrieden. Er hatte ausgesorgt. Er fühlte sich in dieser Rolle nicht vereinsamt, denn auch Philipp hatte genug an der Last der Jahre zu schleppen. Die Firma lag in den Händen von Bernd, und Bernd wiederum hatte sich in einem ausführlichen Vertrage eng mit der Firma Eberhardt Melchior liiert. So war wieder einmal ein Kreis geschlossen. Draußen werkten die Jungen. Hier saßen die Alten, wärmten sich und lebten schon in Vergangenheiten.

Aus den Gesprächen, den kurzen Worten, den Anekdoten und kleinen Berichten enthüllte sich vor Grit der ganze Ablauf dieser Generation. Sie war ein Glied dieser 362 Kette geworden, und sie war es zufrieden. Oben, in dem weißen Kinderzimmer, tummelte sich der kleine Johann und balgte sich mit den Jungens von Toni Melchior. Ein wenig war die Ruhe dieses Hauses aufgelockert. Aber auch damit waren alle zufrieden. Dieses Geschlecht starb nicht aus.

Doch bei allem, was geschah und was sie hörte, hatte Grit ihren geheimen Vorbehalt, ihr stilles Warten und ihren unerfüllten Anspruch. Sie unterschätzte nichts, was geschah, aber sie verlor die Entfernung zu den Dingen nicht.

Zurzeit war Hamerling in Surinam und inspizierte die Plantagen. Er wollte nach Brasilien weiterfahren und dort Verhandlungen wegen des Ankaufs neuer Plantagen zu Ende führen. Zugleich sollte der Ausbau des Frachtgeschäftes weiter bearbeitet werden. Die »Frisia« war im Begriff, sich auszudehnen. Ihre Fahrten nach den Nordländern und nach Rußland waren längst zu einer regelmäßigen Linie geworden. Jetzt griffen die Hände weiter aus. Für die Fahrten nach der Ostküste Südamerikas liefen zwei Motorschiffe von je dreitausend Tonnen. Ein drittes, das einen Gehalt von viertausendzweihundert Tonnen haben sollte, befand sich bei einer Bremer Werft in Bau.

Philipp erzählte behaglich: »Bernd hat ganz gut von deinem Jungen gelernt. Er hat die Leute von der Saxonia jetzt so weit, daß sie bei der nächsten Generalversammlung mit der Frisia zusammengehen. Dann bekommt sie einen neuen Namen: Melchior-Schiffahrts-A.G.«

Sie sonnten sich in diesem Gedanken: Unser Name hinausgetragen auf das Weltmeer. Unser Name auf die 363 ewigen Straßen geschrieben. Ein schönes Alter der Erfüllungen . . .

»Grit«, sagte Philipp, »dann müßte das neue Schiff auf deinen Namen getauft werden.«

»Nein«, antwortete sie. »Das kommt Vater zu. Er ist der älteste.«

Hermann liebkoste ihre Hände: »Aber du bist die beste. Du hast so viel Sonne ins Haus gebracht. Das Schiff soll deinen Namen tragen.«

Sie schüttelte leicht den Kopf: »Es geht nicht. Er schuldet mir etwas anderes. Ich kann noch nicht sagen, was es ist. Es ist noch nicht die Zeit dafür. Und er ist auch noch nicht frei genug dafür. Aber es wird eines Tages sein.«

»Du wirst es uns nicht verraten?« fragte Hermann.

»Ihr werdet mich nicht drängen, es zu verraten«, antwortete sie.

Hermann nickte. »Das respektieren wir, Grit. Geb' Gott, daß wir es noch erleben.«

»Nun«, meinte Philipp philosophisch, »so lange ein Mensch Sorgen hat, so lange lebt er noch.«

»Hast du noch welche?« lachte Grit.

»Ja. Die Jungens kommen mit der letzten Baurate für den neuen Dampfer zu kurz. Und da müssen wir wohl einspringen, Hermann.«

»In Gottes Namen«, sagte Hermann. »Ich will wenigstens das Gefühl haben, daß die Jungens im Sattel sitzen. Und wenn es nach mir geht, wirft sie keiner wieder raus.«

So planten sie, berieten miteinander, halfen einander und sahen in ihren Kindern den Weg aufwärts, immer aufwärts gehen. Sie erlebten die Generalversammlung der 364 Frisia, ihre Fusion mit der Saxonia und die Entstehung des Namens Melchior-Schiffahrts-A.G. Sie gaben, was sie zu geben hatten: ihr Ansehen, ihre Beziehungen und ihr Geld. Zwar wurden Verträge darüber aufgesetzt, wie es sich für ordentliche Kaufleute ziemt. Aber sie legten kein großes Gewicht darauf. Es hieß »unsere Schiffe«, »unsere Plantagen«, »unsere Geschäfte«. Wenn sie an ihrem Stammtisch im Ratskeller saßen, beide grau und ehrwürdig, und ihre bescheidene Flasche Moselwein tranken, sahen sie ihresgleichen, Weggenossen, oft Gegner, oft Freunde. Sie tauschten ihre Gedanken über die Zeitläufte aus; sie sprachen oft und immer öfter von ihrer Vaterstadt. Sie hatten nie aufgehört, daran zu denken. Aber jetzt, wo sie für sich und ihr eigenes Wollen gesättigt waren, konnten sie sich mehr mit dieser Frage beschäftigen. Ohne daß sie sich dessen bewußt waren, wirkte diese Art der Gedankenbetätigung in den Geschäften nach, so weit sie noch daran Anteil nahmen.

Als sie so eines Tages zum Mittagessen heimgingen, sagte Hermann: »Weißt du, Philipp, der neue Dampfer ist bald fertig. Es ist ja sehr schön, daß die Kinder ihm meinen Namen geben wollen. Aber wir sollten ihm doch lieber einen Namen geben, der etwas mehr zu unserer Stadt Beziehungen hat. Mir genügt es schon, wenn die Gesellschaft unseren Namen trägt. Kannst du nicht einmal mit Eberhardt darüber sprechen?«

»Das kann ich wohl. Richtiger wäre aber, du tätest es selber.«

»Das ist unmöglich. Offiziell weiß ich doch nichts davon, daß der Dampfer meinen Namen bekommt. Und wenn er ablehnen sollte, seinen Plan zu ändern, dann will 365 ich nicht derjenige sein, der ihm die Freude der Überraschung nimmt.«

Also entschied sich Philipp, mit Eberhardt darüber zu sprechen. Eberhardt hörte aufmerksam zu, aber dann schüttelte er den Kopf: »Geht nicht, Philipp Onkel. Das Schiff wird Hermann Melchior getauft. Für die Stadt . . . habe ich etwas anderes in petto.«

»Hm, daß da irgendetwas in der Mühle ist, habe ich mir schon gedacht. Grit hat mal so ganz ferne Andeutungen gemacht, aus denen wir aber nicht recht klug geworden sind. Ich bin ja nicht neugierig . . .«

»Das bist du doch. Du gehst aus dem Leim vor Neugier. Aber ich kann dir nichts sagen. Offen gestanden weiß ich auch selber noch nicht, wie ich an die Sache herankommen will.«

»Tja«, meinte Philipp, »wie der Bremer sagt: ›das ischa man sone Sache‹. Soll ich dir dabei helfen oder nicht? Auf Verlangen wird das Geheimnis mit ins Grab genommen. Ohne besondere Spesen oder Vergütungen.«

Eberhardt überlegte: »Ich müßte dann erst mit Grit darüber sprechen, ob sie einverstanden ist.«

»Na, mein Sohn, Du scheinst ja gut verheiratet zu sein. Hat sie schon Prokura?«

Er lachte. »So ungefähr.« Dann wurde er ernst. »Es ist nur, weil der Plan aus ihrem Kopf . . . und, möchte ich sagen: aus ihrem Herzen gekommen ist. Ich darf also nicht darüber sprechen, ohne sie vorher gefragt zu haben.«

»Wenn die Sache so liegt, dann nehme ich alles zurück. Aber frag' sie gleich heute. Verstehst du? Und gib schnell Bescheid. Vater soll wohl nichts wissen? Versteht sich. Gewiß. Also ruf' mich an.« 366

Nach dem Abendessen deutete Eberhardt vorsichtig an, was er mit Philipp besprochen habe. Grit sah nicht auf. »Ich kann nichts mehr dazu sagen. Du mußt selber wissen, ob die Zeit dafür gekommen ist. Ich meine nicht nur äußerlich. Wenn du mit Philipp darüber sprechen willst, soll es mir recht sein. Eine Diskrepanz wird immer bleiben.«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt, daß ich mich mit den deinigen völlig ausgesöhnt habe. Und doch werden sie in dem, was du planst, etwas ganz anderes sehen, als was ich darin sehen und was es für mich bedeuten muß. Sie denken an die Stadt und ihren Ruf. Ich denke an dich . . . und an die Notwendigkeit, dein Leben nicht ohne eine Tat und ein Symbol verlaufen zu lassen. Aber darüber wird man mit ihnen nicht sprechen können.«

»Wenn sie uns nur zur Sache verhelfen«, sagte er herzlich, »dann soll es an mir nicht fehlen, den Sinn zu erspüren.«

»Gut. Dann wollen wir sofort zu ihm gehen.«

Sie gingen zu Onkel Philipp; nur auf einen Sprung, wie sie sagten. Sie saßen auf der Terrasse, die nach dem Osterdeich ging, sahen über Strom und Stadt, tranken langsam den tiefgekühlten Moselwein, atmeten die sanfte Kühle dieses Abends, die aufhauchenden Duftwellen der Gartenblumen, und gingen ihren eigenen Gedanken nach. Endlich sagte Grit: »Tante Becka, wollen wir noch etwas in den Garten gehen? Die Männer können unter sich bleiben.«

Philipp sah ihnen mit großen Augen nach. Dann fragte er Eberhardt: »Will sie nicht?« 367

»Doch. Aber sie will nicht dabei sein, wenn ich es mit dir bespreche. Ich glaube, sie schämt sich ein bißchen. Verstehe ich gar nicht.«

Philipp grollte: »Verstehe ich sehr gut. Du bist doch auch sonst kein Holzklotz. Aber nun erzähl' los.«

Eberhard senkte den Kopf. »Jetzt, wo ich es aussprechen soll, scheint es mir eigentlich unmöglich schwer. In Gedanken war es sehr leicht. Und es ist im Grunde genommen alles schon fertig. Entschuldige, aber . . . es hat so viel Gewicht; inneres Gewicht, mußt du wissen. Ich kann dir die Voraussetzungen nicht sagen, die dahin gehören, sondern nur die nackten Tatsachen. Du mußt dann sehen, was du damit anfangen kannst. Aber sei ehrlich dabei.«

»Vorrede fertig?« fragte Philipp. »Dann kommen Sie zur Sache. Ich will dir meine Meinung schon sagen.«

Eberhardt begann: »Denke dir, du kämst die Weser aufwärts von der Weserbrücke her. Mit einem Male bist du gegenüber der Altmannshöhe. Da, wo jetzt am Osterdeich einige Segler oder kleine Motorboote liegen, siehst du, von schweren Steinsäulen flankiert, gewaltige Stufen aus Granit oder Marmor, die aus dem Wasser aufsteigen und den Deich mit seiner Böschung gliedern. Ein gedrungenes, schweres Geländer aus Stein führt diese Linie mit und trägt das Bremer Wappen. Du steigst diese Stufen hinauf, und wie du in halber Höhe aufwärts siehst, entdeckst du, daß jenseits der Straße diese Treppe sich fortsetzt, mit schweren Absätzen und Unterbrechungen, bis sie den höchsten Punkt der Altmannshöhe erreicht haben. Dann stehst du dort mit einem Male vor einem gewaltigen Steinwürfel aus Klinker und Sandstein. Du gehst durch kurze, gedrungene Bogen und gelangst in einen Ehrenhof 368 mit einem Brunnen und den Gedenksteinen derer, die sich um die Stadt verdient gemacht haben. Schwere, bunte Majolika wird da an den Wänden sein. Auf den drei Seiten des Hofes kommst du in Räume und Säle, die allen erdenklichen Zwecken dienen, an denen dem Allgemeinwohl gelegen sein kann. Die Stadthalle ist darin. Räume für Kongresse und Versammlungen. Vielleicht wird Raum sein für das historische Museum. Es liegt jetzt so abseits und verborgen. Es muß in das Herz der Stadt hinein. Vielleicht werden auch Gemäldesammlungen und Kunstausstellungen dort untergebracht. Die Rückseite des Würfels geht zur Kunsthalle hin. Man kann da irgendwie anschließen oder eine Brücke schaffen. Das sind alles Einzelheiten, über die man noch sprechen kann. Der Würfel, Onkel Philipp, muß einen zweiten, verjüngten Würfel tragen, so daß es zwischen den beiden einen Umgang oder eine Balustrade gibt. Darüber kann noch ein dritter, meinetwegen noch ein vierter Würfel sein, die sich alle verjüngen. Aber« – er stand mit einem Male auf, wie einem Zwange gehorchend – »aber aus diesen Würfeln heraus muß ein Turm steigen, viereckig, massig, hoch, ganz hoch. So hoch wie ein Kirchturm, wie der Dom. Ein Turm, von dem aus man das ganze Bremer Land sieht, bis über Verden hinaus, bis über Bremerhaven hinunter. Der höchste Punkt der ganzen Stadt. Ein Wahrzeichen, eine Warte . . . ein Symbol . . .«

Er brach ab und setzte sich. Nach einer Weile: »Vielleicht verstehst du. Ich kann nicht mehr darüber sagen. Ich bitte dich nur um eines: sieh darin keine Baumeister Solneß-Ideen. Ich bin nicht gehetzt und aufgestachelt, wenn ich diesen Turm bauen werde. Ich werde 369 auch nicht schwindlig werden, wenn ich oben stehe. Unsereins stürzt nicht hinunter. Unsereins . . . richtet sich daran auf . . .^

Philipp schenkte sich mit zitternder Hand ein neues Glas ein. »Hast immer noch etwas vom Poeten in dir. Kannst sagen, was du willst. Du kannst jemanden mit kalter Miene bankerott machen . . . aber Gedichte machen, so wie eben, kannst du auch. Laß nur, mein Junge. Ich spotte nicht. Kennst mich schon. Ich will mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Mit dem Schlaf nachts ist es doch nicht mehr so weit her. Morgen reden wir noch mal darüber.«

Becka und Grit kamen aus dem Garten zurück. Grit trug einen großen Strauß von Mandelblüten. Philipp flüsterte ihr zu: »Rund herum muß man sehr viele Stauden anpflanzen. Verstehst du?«

Sie lächelte verschämt und nickte.

Das Projekt, einmal in Worte gefaßt und Philipp anvertraut, begann zu leben. Aber er faßte es mit aller Sachlichkeit und aller Nüchternheit an, die zu seiner Verwirklichung nötig waren. Wie ein ganz Unbeteiligter entwickelte er Eberhardt einige Tage später seinen Plan: »Siehst du, für mich ist der Gedanke verständlich, weil er von dir kommt und ich dich verstehe. Für mich ist er auch fertig. Aber die anderen müssen erst daran gewöhnt werden. Man muß, um zum Ziel zu kommen, die Sache so drehen, daß die Gegner, die man vermuten muß, sich später einreden können, sie erst wären diejenigen gewesen, die einen solchen Plan hätten entstehen lassen. Wozu bin ich Senator gewesen? Die Sache muß langsam durch die Presse gehen, aus vielen kleinen Kanälen. Die 370 verschiedenen Interessen müssen geweckt werden. Es muß den vielen verschiedenen Köpfen Gelegenheit gegeben werden, sich zu betätigen; vielleicht sogar, sich wichtig zu machen. Die einen fängt man mit dem Stadtstolz, die anderen mit der Möglichkeit der Arbeitsbeschaffung, andere wieder mit der Fremdenindustrie und so fort. Laß mich das nur machen. Du selbst darfst erst ganz zum Schluß in die Erscheinung treten. Erst muß der Boden bereitet sein.«

»Ich überlasse dir das, Onkel Philipp. Ich werde doch in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, mich um die Sache zu kümmern, weil ich andere Pläne habe.«

»Ein Jahr werde ich auch brauchen«, gab Philipp zu bedenken. »Die Sache muß ja durch die Bürgerschaft, weil der Staat den Platz hergeben muß.«

Eberhardt berichtete über diese Unterredung nichts an Grit. Er wußte, daß sie die Wege der diplomatischen Sachlichkeit nicht liebte, zumal nicht bei diesem Plan, den sie gerne in eine höhere Sphäre gerückt hätte. – – – –

Inzwischen näherte sich der Schiffsbau seiner Vollendung. Hermann hatte Philipps Bescheid entgegen genommen, daß es bei dem vorgesehenen Namen bleiben müsse, und er hatte sich gefügt. Er wartete jetzt mit Stolz und sichtlicher Erregung auf den entscheidenden Augenblick. Ihm war so feierlich zumute, als stände er mit dieser Handlung vor dem endgültigen Abschluß seines Daseins. Grit war in diesen Tagen aufmerksamer als je. Ihre Ahnung gab ein helles Signal, das nicht zu überhören war: es wird die letzte Handlung seines Lebens sein. Darum war sie selbst ungeheuer ergriffen und erregt. Sie wich nicht von seiner Seite. Sie gab ihm ein überreiches Maß an Kindesliebe und Zuneigung; sie tauchte den Rest 371 seiner Tage in ein goldenes Meer von Glück und Zufriedenheit. Er wurde darunter ein sanfter, milder, heiterer Greis; ganz fern vom Hammerschlag des Werkens; ganz Mensch, der dem Anfang des Lebens so nahe war wie dem Ende.

Sie fuhren zur Werft. Während die anderen ein Auto nahmen, saß Hermann mit Grit in der alten Equipage von Großvater Simon. Es war für ihn ein altehrwürdiger Hausrat, ein Stück Vergangenheit, die noch diese Gegenwart aufwog.

Die Fahnen flatterten von den Kränen und Gerüsten. Der Schiffsrumpf war mit Girlanden aus Tannenreisig umwunden. Dazwischen die Bremer Farben in endloser Folge. Die Kanzel trug denselben Schmuck. Eberhardt wollte seinen Vater die Stufen hinauf geleiten. Aber er wehrte lächelnd ab und nahm den Arm seiner Tochter. Sie führte ihn und zitterte dabei vor Erregung und Mitleid. Dann standen sie oben. Der scharf geschnittene Bug des Schiffes war vor ihnen und über ihnen. Menschen standen unten neben den Helgen und Seilen und oben auf der Reeling. Sonne lag über allem und klare, flirrende Luft. Hermann hörte seine Stimme. Sie war gleichmäßig stark. Aber vom Sinn der Worte nahm er nichts wahr. Wie seine Augen von der steil einfallenden Sonne geblendet waren, so war auch sein Bewußtsein von dem heißen Licht der Erfüllung überhüllt. Er kam erst zu einem klaren Blick, als die Flasche mit dem Schaumwein am Bug zersplitterte. Seile wurden gekappt. Eine Maschine drückte gegen die Stützen des stählernen Gehäuses. Langsam glitt der Rumpf über die Helgen, beschleunigte sich durch sein eigenes Gewicht auf der schrägen Fläche, tauchte mit den 372 beiden bronzeroten Schrauben in das Wasser, drängte es in breiter Flutwelle seitwärts, senkte sich, begann zu schwimmen, drehte sich, von rasselnden Ankern gekettet, um seine eigene Achse und lag da, breit, massig, stolz, während viele hundert Rufe von Land und Deck ihn grüßten . . .

Als sie wieder zu Hause waren, gab es eine kurze Feier im erweiterten Kreise. Vorstand und Aufsichtsrat der Melchior-Schiffahrts-A.G. waren erschienen, dann Hamerling und Bertram, und als besonderer Ehrengast Emmo Büsing. Er hatte sich trotz seiner Gicht und seiner Jahre ausbedungen, die erste Fahrt dieses Schiffes zu leiten. Dann wollte er das Amt seinem Sohne abtreten. Man hörte ihn mit Jungfer Metta sprechen, wobei er seine Stimme gewaltig laut erhob.

Metta posaunte: »Was will der Junge mit'n ganzen Dampfer? Wir sind früher mit'n Torfboot auf der Lesum gefahren.«

Grit sagte lächelnd: »Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit.«

»Man sieht es«, sagte Hamerling still. – – –

Hermann Melchior verlebte die folgenden Wochen ganz zurückgezogen und still. Einmal zeigte ihm Philipp einen Zeitungsartikel, in dem darauf hingewiesen wurde, daß im laufenden Jahre bereits drei Kongresse in Bremen abgehalten worden seien und Bremen wohl die einzige größere Stadt darstelle, die ihre Gäste nicht in einer eigenen Stadthalle begrüßen könne. Hermann las es, ohne ein Interesse dafür aufbringen zu können. Das Maß seines Lebens war voll. Er konnte nichts mehr aufnehmen. Er wollte auch nichts mehr aufnehmen. Der Abend hatte sich gesenkt. Er ging schlafen und wachte nicht wieder auf. 373 Er starb aus dem Schlaf der Nacht in den Schlaf der Ewigkeit hinüber, ohne Schmerz und ohne Bewußtsein. Stilles Verlöschen und Versinken.

Niemand erschrak darüber. Es mußte doch eines Tages so sein. In diesem Tode war kein Schrecken, und der Schmerz über den Verlust fügte sich ausgleichend in den Gedanken vom Ablauf eines gesegneten Daseins. Die ungeheure Beteiligung bei dem Begräbnis auf dem Rhiensberg bestätigte noch einmal Wert und Gewicht dieses Menschen. Dann kam der Alltag, für kurze Zeit in die Winkel gescheucht, wieder mit gleichmütigem Gesicht hervor und sagte: Ich bin da. – – –

In den Geschäften änderte sich nichts dadurch. Eberhardt, als einziger Erbe, zeichnete jetzt auch für die Firma Hermann Melchior; nur verlegte er ihren Sitz in die Langenstraße. Aber etwas anderes hatte dieser Tod für ihn im Gefolge: er war der Erbe eines großen Vermögens geworden. Es war, mit Mutter Ethels Anteil zusammen, beträchtlicher, als er gedacht hatte. Der Vater hatte im letzten Jahrzehnt sein Geschäft gehalten, aber es nicht mehr erweitert. So waren tote Summen aufgestapelt, die jetzt in seine Hand kamen; und was in seine Hand kam, mußte arbeiten; etwas hervorbringen; den Kreis der Dinge erweitern; das Ruhende bewegt machen.

Grit wußte es . . . und fürchtete es. Für sie war diese neue Macht, die ihm da in den Schoß gefallen war, ein Prüfstein seines Wesens und seiner Entwicklung. Wohin wandert der Mensch, wenn er Geld auf Geld und Macht auf Macht häuft? Sie wog seine Worte: etwas hervorbringen; den Kreis der Dinge erweitern; das Ruhende bewegt machen. Und sie hielt dagegen, um was er einmal 374 gekämpft hatte: Freiheit des Menschen, seine schöpferische Gestaltung, den ewig fruchtbaren Ausgleich von Liebe und Haß, die Anreicherung durch das Verschwenden. Und was würde aus dieser neuen Macht entstehen? Sie wußte: an äußeren Dingen ein neues Unternehmen, und nach innen hin ein neuer Panzer des Willens und des Wollens. Sie weinte still vor sich hin und dachte an ein Wort von Schröder: es ist edler, im Chaos unterzugehen als in der Ordnung sich zu behaupten . . . Aber sagen konnte sie nichts von diesen Dingen. Und Eberhardt erfuhr nichts von ihren Sorgen.

Wie immer, besprach er die Situation ausführlich mit Hamerling. Von ihm kam, wie seit dem ersten Tage ihrer Zusammenarbeit, der heftige, gewaltsame, einer gestaltenden Phantasie entsprungene Plan.

»Ich halte immer noch unsere Schiffahrtsgeschichte für den schwächsten Punkt in unserem ganzen Komplex. Die Plantagen sind gut. Die Kolonialgesellschaft ist auch gut. Unsere kleinen Betriebe laufen automatisch. Aber die Schiffe! Da sitzt uns die Konkurrenz im Nacken. Wenn der neue Dampfer erst in Fahrt tritt, kann es zweifelhaft werden, ob wir immer genug Frachtaufträge haben. Dieses Risiko können wir nur ausgleichen, wenn das Drum und Dran der Schiffe uns nicht so viel kostet.«

»Sie wollen wohl wieder auf eine Werft hinaus?« spottete Eberhardt.

»Ich möchte Ihnen nicht vorschlagen, sich Schiffe auf Vorrat zu bauen, so lange wir mit unserer sogenannten Flotte genug zu sorgen haben. Aber wir können uns Werkstätten einrichten, in denen wir selbst unsere Reparaturen ausführen, selbst Maschinen herstellen, die mit der 375 Schiffahrt zusammenhängen, Steuerapparate, Spillanlagen, Pumpen; überhaupt Hilfsmaschinen. Wir verringern damit unsere Regiekosten. Wir können für andere Linien Reparaturen ausführen, Patente erwerben und Spezialmaschinen bauen. Wir können schließlich – zum ersten Male in der Entwicklung der Firma – Fabrikate herstellen, die wir exportieren.«

»Das alles bedeutet den Sprung in die Industrie.«

»Wenn wir produktiv werden wollen, bleibt er uns nicht erspart. Was wir drüben auf den Plantagen treiben, ist, streng genommen, auch Industrie.«

»Gut. In ähnlicher Richtung haben sich meine Gedanken auch schon bewegt. Die Frage ist: einen alten Betrieb kaufen oder einen neuen aufziehen? Von der Sache selbst verstehen wir beide nichts. Also ist das Risiko das gleiche.«

Hamerling zuckte die Achseln: »Für bares Geld finden wir Pläne und Ideen und Menschen, die etwas davon verstehen. Alles liegt auf der Straße herum. Ich meine, man sollte für den Anfang nichts Großes machen.«

»Entweder oder«, sagte Eberhardt. ».Wir werden die Frage prüfen müssen.«

In den nächsten drei Monaten arbeiteten sie, völlig getrennt voneinander, Literatur über Schiffe und Schiffsmaschinen. Eberhardt hielt sich, so oft ein Schiff der Gesellschaft einlief, im Hafen auf. Er hatte erstaunlich viel Zeit für Gespräche und kleine Geselligkeiten mit den Kapitänen und Offizieren. Insbesondere holte er sich den jungen Heino Büsing heran. Hamerling dagegen nahm alte Schulbeziehungen wieder auf, machte auf seinen nächtlichen Streifen, die er immer noch nicht aufgegeben hatte, 376 Bekanntschaften mit Ingenieuren und sonstigen Leuten vom Fach, schleppte Tabellen und Preisangebote und Kalkulationen mit nach Hause, und ging somit ganz andere Wege als Eberhardt. Aber die Wege ergänzten sich auf die Länge doch, und als sie nach drei Monaten wieder zusammenkamen, war das Ergebnis dieses: Eberhardt wußte genau, welche Hilfsmaschinen ein Schiff brauchte, über welche sich die Kapitäne und Maschinisten am meisten beklagten, und was alles an Reparaturen möglich sei. Hamerling wußte, woher die Ideen zu neuen Maschinen kommen, wie man eine solche Sache anpackte und was alles dazu gehörte, sie herzustellen. Insbesondere versteifte er sich auf Nägel, Nieten und Schiffsbeschläge.

»Ich habe mir alles angesehen, so weit das unauffällig möglich war. In ganz Bremen gibt es keine ordentliche Nagelfabrik. Damit muß man anfangen. Vom vielzölligen Nagel bis zum Blaukopf wird alles durch Automaten hergestellt. Genau so werden wir Nieten machen, alles mit automatischen Pressen. Damit haben wir zugleich den ersten Ausfuhrartikel.«

Eberhardt war entsetzt: »Ihre Pläne werden scheinbar mit jedem Tag kleiner.«

Hamerling lachte: »Jetzt sind Sie es, dem meine Phantasie nicht genügt. Die Pläne werden nicht kleiner, sondern die Grundlage wird solider.«

»Nein, Sie werden älter. Das ist die Sache.«

»Man kann auch älter werden, ohne sich dem Größenwahn zu nähern.«

Nun waren die Geister wieder entfesselt. Die Meinungen platzten wild gegeneinander. Vielfach klang die Drohung, auseinander zu gehen. Sie kämpften Stunde 377 um Stunde. Als es später Abend war, saßen sie am Kamin in der Contrescarpe. Sie nahmen keine Rücksicht darauf, daß Grit anwesend war. Was sie in all den Jahren an Sorgen und Hoffnungen und Bangnissen und Erfolgen auf sich genommen, was sie an Gutem und Bösem getragen hatten, ohne sich mit einem Wort zu verraten, das brannte jetzt lichterloh in Vorwürfen und verächtlichen Worten, in scharfen Bemerkungen und Urteilen. Dabei wuchsen die Pläne einander entgegen, trieb die Verachtung des einen den Ehrgeiz des anderen, warf ein Faustschlag alles durcheinander, und kittete endlich die Gewöhnung und die verbissene Gemeinsamkeit des Weges beider Willen zu einer Einheit.

Grit wich nicht von ihrem Platze. So deutlich war ihr die Existenz ihres Mannes nie geworden wie heute. Eine andere Mutter Ethel, saß sie da, eingeordnet und eingefügt, bejahte die Welt ihres Mannes . . . und bejahte ihren geheimen Vorbehalt. In einem Augenblick, als das ganze Projekt wieder in Frage gestellt war, wandte sich Eberhardt zu ihr hin mit der schroffen, aus der Erregung geborenen Frage: »Soll ich in die Industrie gehen oder nicht?«

»Ja!« sagte sie laut.

»Alle Frauen sagen ja«, schrie Hamerling, »wenn es sich um ihren Mann handelt.«

»Ich habe meine Gründe, Hamerling, und die gelten für euch beide.«

»Wird man die Gründe erfahren?«

»Ihr werdet sie selber erfahren, wenn ihr erst einmal im Zuge seid. Wir können dann einmal darüber reden. Jetzt nicht.« 378

Während die beiden sich wieder ihren Plänen zuwandten, stand die Antwort klar umrissen vor Grits lebendigem Gefühl: Ihr müßt einmal mit dem Menschen zusammenstoßen, der sich mit kleiner Sorge durch den Alltag müht. Ihr müßt einmal ganz nahe die Herde der Kleinen, Unbeachteten vor euch haben, damit ihr sehen lernt, wo die Ordnung aufhört, nützlich und notwendig zu sein; wo sie anfängt, sich als Not und Quell aller Zerrissenheit zwischen den Menschenklassen zu enthüllen. Vielleicht vermenschlicht sich euer Machtwille am Anblick der Kleinen, die euch dienen werden. . . . . . . . . . .

Es erwies sich jetzt als gute Voraussicht, daß Eberhardt Land in Lankenau gekauft hatte. Hamerling spottete nicht mehr über Viehzuchtgelände, sondern schimpfte mit sorgenvoller Miene, daß nur so beschränkter Raum vorhanden sei. »Wir müssen den Betrieb turmartig machen«, sagte er. »Ich habe da einen Ingenieur erwischt, der die Sache aufziehen will. Im untersten Stockwerk wird Draht gezogen; links Eisen, rechts Kupfer. Dann mit Fahrstühlen nach oben. Erster Stock: Nietenpressen. Zweiter Stock: Nagelmaschinen. Dritter Stock: Lager und Packraum. Von da aus geht ein Gleitband zum Dampfer oder Leichter. Vierter Stock: Kontorräume mit Fahrstuhl von außen. Es wird ein hoher Kasten, aber er braucht wenig Grundfläche.«

Dieser erste Teil des Betriebes wuchs auf, durch eine hohe Schutzmauer von den Speichern getrennt, mit seinen schweren Betonfundamenten. Es entstand eine einfache, klare, würfelige Form. Wände und Decken; weiter nichts. Wagrechte und senkrechte Linien, alles aus Eisenbeton. Nach drei Monaten stand der Bau fertig. Man nannte 379 ihn den eisernen Turm. Von dem flachen Dach her bauschten sich die Fahnen zur Richtfeier.

Zwei Wochen später waren die Maschinen, Aufzüge und Motore montiert. Es vergingen weitere vier Wochen, da glitten aus dem dritten Stockwerk die ersten Kisten hinunter zum Dampfer »Hermann Melchior«.

Philipp kam, um seine Glückwünsche darzubringen. Aber er fand keine Gegenliebe für seinen Stolz und seine Teilnahme. Er sah verdrossene, leicht gequälte Mienen. Was denn war geschehen? Man hatte sich wieder einmal zu einem neuen Anfang bekannt. Und dieser Anfang schmerzte, weil er unablässig nach dem Mehr verlangte. Hamerling knurrte: »Sollte mal bei Ihnen zu Hause ein Bild von der Wand fallen, dann rufen Sie uns an. Wir schicken Ihnen dann einige Nägel zum Osterdeich.«

Die alte Unrast, Erbteil verschollener Ahnen, denen Strom und Meer die Flügel der Seßhaftigkeit gebrochen hatte, war jetzt wieder am Werken. Sie waren seßhaft an dem einzigen Element, dem alle Seßhaftigkeit ewig feindlich ist: am Wasser, am Ozean. Sie mußten den Weg machen, den einmal die ungefügen Einbäume gemacht hatten; diese Fahrten zwischen Nacht und Morgen, zwischen Trieb und Notwendigkeit. Da gibt es keinen Anfang und kein Ende. Mit Wind und Strömung und Ruderschlag folgen sie dem Gebot, unrastig zu sein – –

Neben dem eisernen Turm entstand mit den Monaten eine Metallgießerei. Hier wurden Schiffsbeschläge hergestellt; daneben, in immer steigendem Umfange, eine Unzahl von Gegenständen, die zum Export dienen konnten. Es gelang ihnen der Ankauf eines Patentes zur Herstellung einer besonders soliden und widerstandsfähigen 380 Bronze für Propeller und Propellerflügel. Die Modelltischlerei mußte vergrößert werden. Nach gründlichen Vorstudien wurde, mit allen Möglichkeiten zur Erweiterung, die Reparaturwerkstatt eingerichtet. Den ersten zufriedenen Augenblick genossen sie, als sie auf ihren eigenen Schiffen mit der Ausführung von Reparaturen beginnen konnten.

Alles das brachte es mit sich, daß die Organisation straffer angezogen werden mußte. Mit Philipps Zustimmung brachte Bernd alle seine Geschäfte in Eberhardts Firma ein. Dafür übernahm er den alleinigen Vorstandsposten in der Reederei und wurde an dem Industriebetriebe beteiligt. Den Vertrieb der Fabrikate übernahm die Kolonialgesellschaft, deren Vertrag, wie die vorgesehene Klausel ermöglichte, auf Export erweitert wurde.

»Es ist merkwürdig«, sagte Philipp, »daß du erst als Außenseiter angefangen hast und daß jetzt doch ein Familienunternehmen daraus geworden ist.«

»Ich nenne es Konzentration der Kräfte. Aber auf die Bezeichnung kommt es mir nicht an, sondern auf das Ergebnis.«

»Es mag sein, daß du Recht hast, aber du darfst es mir nicht sagen! Ich bin zu alt, um solche sachliche Bezeichnung zu vertragen. Wenn ich das Wort »unser« nicht mehr mit voller Überzeugung gebrauchen darf . . . dann bin ich am Ende.«

»Du wirst doch nicht sentimental werden, Onkel Philipp! Du kannst noch ganz gut ein paar Jahre lachen.«

»Man kann auch mitten im Lachen einschlafen.«

»Nun laß mal diese dunklen Gedanken. Wie weit bist du mit dem Stadthallenplan?« 381

Philipp lächelte augurenhaft vor sich hin: »Die Wespen summen und suchen, wo sie sich gegenseitig in den . . . na, Rücken stechen können. Die einen schreien: Stadthalle her! Die anderen grunzen: kein Geld. Andere sagen: Notstandsarbeiten. Wieder andere: haben Säle genug; baut Rotunden. Kurz und gut, die Sache läuft. Ich spreche dieser Tage mit dem Dezernenten vom Grundstücksverwaltungsamt. Grit soll ihren Turm haben. Und der Rotweinfritze soll endlich mit seiner Gemäldesammlung an das Tageslicht kommen. Er kauft und kauft und hat die Sachen hinter seinen hohen Gittern. Wer sieht sie? Wem nützen sie? Sie müssen raus und in die Stadthalle hinein. Laß mich nur machen. Hauptsache, daß du mit den Mitteln bereit stehst, wenn es eines Tages so weit ist.«

»Die Mittel werden da sein. Gleich, woher sie kommen. Ich habe nicht das Recht, diesen Plan im Stich zu lassen. Ich habe hier eine Ehrenschuld abzutragen.«

Diese Bemerkung war für Philipp Anlaß, seine Bemühungen zu verdoppeln. Er ging zu einem alten Freunde, dem Senator Henrikus, und besprach die Sache eingehend mit ihm. Der meinte: »Dafür brauchen wir nichts als einen Beschluß von Senat und Bürgerschaft, damit das Gelände zur Verfügung gestellt wird. Ich kann aber nicht dafür garantieren, daß wir jetzt eine Majorität bekommen.«

»Warum nicht?« verwunderte sich Philipp.

»Ohne die Linke bekommen wir keine Majorität.«

»Die sollten froh sein, daß ihre Leute Arbeit bekommen!«

»Das sind sie auch. Aber sie haben jetzt den Kopf mit anderen Dingen voll. Sie reiten wieder mal auf dem sozialen Problem herum. Sie kennen jetzt nur Zölle, Teuerung, Achtstundentag, Lohnerhöhung, Tarifverträge, 382 Siedlungsbauten und solche Sachen. Alles Dinge, gegen die ja kein Mensch etwas einzuwenden hat, aber die sich nun mal nicht übers Knie brechen lassen. Schlimm genug, daß die Zeiten so schlecht geworden sind. Unsere Schuld ist es ja nicht. Früher waren diese Dinge auch gar nicht so wichtig, denn da hatten wir nicht so viele Arbeiter in Bremen. Jetzt machen sie uns bei jeder Gelegenheit die Hölle heiß.«

Philipp machte über diese Besprechung vorsichtige Andeutungen, als er mit Bernd und Eberhardt zusammensaß. Aber bei beiden verspürte er die Unlust, sich mit solchen Fragen zu befassen. Insbesondere Bernd, der Stille, Sachliche, Arbeitsame, wehrte sich dagegen. »Ich will nichts mit diesen Dingen zu tun haben. Wir bekommen die wirtschaftliche Entwicklung so oder so einmal zu spüren. Mir kann nur daran gelegen sein, dann so da zu stehen, daß mir und den Dingen, für die ich verantwortlich bin, nichts geschehen kann.«

»Ich fürchte«, sagte Eberhardt, »daß man den Dingen nicht einfach entgehen kann. Es scheint mir richtiger, man geht ihnen entgegen.«

Dem technischen Betriebe stand jetzt der Oberingenieur Liesche vor, der durch Hamerlings Beziehungen gewonnen war. Er hatte sich als brauchbar erwiesen, so daß man ihm allmählich die ganze innere Organisation des Betriebes überlassen hatte. Mit ihm versuchte Eberhardt in nähere Fühlung zu kommen, sei es auch nur, um seine Kenntnisse über den Standard und die Organisation der Arbeiter zu vervollständigen.

Er hörte sich einen langen und sachlichen Vortrag an, ohne innerlich daran interessiert zu sein. Das sind Dinge, 383 die ein Syndikus wissen muß, dachte er sich. Er konnte Liesche nicht sagen, woran ihm lag und was es war, das wie eine verhaltene Unruhe hinter ihm stand. Er horchte erst auf, als Liesche ihm erklärte, daß er jeden Augenblick das Ergebnis der Wahlen zum Betriebsrate erwarte.

»Sind tüchtige Leute darunter?«

»Ich kann es gleich feststellen.« Liesche nahm den Hörer und sprach mit einem Meister: »Wann bekomme ich die Liste von eurem Betriebsrat? Sofort? Schön, schön . . . Einen Augenblick mal . . . Was sagten Sie, Herr Melchior? . . . Ja, gerne . . . Hören Sie noch? Bitten Sie doch den Vorsitzenden des Betriebsrates, selber mit der Liste zu mir zu kommen . . . Wollte er auch? Gut.«

Bald darauf kam ein breitschultriger, grauhaariger Mann in das Zimmer. Er warf einen kurzen, scheuen Seitenblick auf Eberhardt, brummte einen Gruß und übergab Liesche ein Papier.

»Wie ist Ihr Name?« fragte Melchior höflich.

»Krämer«, sagte der Mann. Er sah beharrlich zu Boden und preßte die Lippen aufeinander, als wolle er weiteren Fragen ausweichen. Merkwürdiger Mensch, dachte Eberhardt. Wie scheu und verbissen er aussieht. Dann fragte er, ohne eigentlich dem Sinn seiner Frage ein Gewicht beizumessen, nur aus der Erinnerung an den Klang des Namens heraus: »Haben Sie einen Sohn, der Otto Krämer heißt?«

Die Antwort kam zögernd und doch mit einer leichten Schärfe in der Betonung: »Ja. Und ich habe noch eine Tochter, die Lisbeth heißt.«

Eberhardt empfand ein unangenehmes Schreckgefühl in 384 den Wangen. Aber es gab hier keine Möglichkeit, zu schweigen oder das Gespräch kurz abzubrechen. Darum fragte er weiter: »Was macht Otto jetzt?« Er sagte: Otto; nicht: Ihr Sohn. Er wollte damit betonen: wir sind ja früher einmal gut Freund gewesen. Aber Krämer hatte kein Verständnis dafür. Zu ihm sprach nur die Herablassung des Herrn Chef, dieses Patriziersohnes, der so tun konnte, als sei nichts vorgefallen . . .

»Mein Sohn ist in der Gewerkschaft. Er sitzt auch in der Bürgerschaft.«

Eberhardt war nicht überrascht. »Ich dachte mir wohl, daß er eines Tages die kaufmännische Tätigkeit aufgeben würde.«

»Vielleicht hätte er es nicht getan, wenn man ihn nicht . . . brotlos gemacht hätte«, sagte der Alte verbissen. »Er konnte eben nirgends mehr ankommen. Es paßte den Herrschaften nicht, daß er sich politisch betätigte.«

»Nun«, sagte Eberhardt versöhnlich, »wer weiß, ob er mit seiner jetzigen Tätigkeit seiner Idee nicht viel besser dienen kann.«

»Seiner Idee vielleicht. Seinem Geldbeutel bestimmt nicht.« Damit drehte sich Albert Krämer schroff um und ging hinaus.

Liesche war ein aufmerksamer Beobachter. Aber er besaß Takt genug, die Liste zu lesen, während die anderen beiden sprachen.

»Ist der Mann tüchtig?« fragte Eberhardt und schämte sich im gleichen Augenblick des Nebengedankens, den er dabei hatte.

Liesche nickte. »Sehr tüchtig. Gute, alte Schule. Aber ein Scharfmacher. Ich kann hier oben eine ganz 385 merkwürdige Beobachtung machen. Diese alten Leute, so im Range der Werkmeister etwa, fühlen sich eigentlich noch wie vor vierzig Jahren als Handwerker. Das Patriarchalische steckt noch darin. Wenn solche alten Leute in die Politik hinein kommen, dann werden sie meist schlimmer als die Jungen, die schon aus der politischen Schule kommen. Die sind viel zu sehr mit Parteikram und Parteiweisheit überladen, als daß man sie wichtig nehmen brauchte. Aber diese Alten haben meist persönlich ihr bitteres Maß von Erfahrungen hinter sich, und darum sind sie mehr mit der Galle als mit dem Herzen bei der Sache. Das sind die Leute, die uns allein gefährlich werden können.«

Eberhardt war nachdenklich. »Sie sprechen so, als ob irgendeine Gefahr . . . sagen wir: in der Luft läge.«

Liesche zuckte die Achseln. »Da kann man weder ja noch nein sagen. So lange es noch Tarifverträge gibt, die eines Tages ihr Ende erreichen, und so lange der Achtstundentag nicht entweder ganz fest eingeführt oder beseitigt ist, und so lange es noch Betriebsrat und solche Sachen gibt, so lange besteht die Möglichkeit von Machtkämpfen. Wir werden selbst sehr bald die Probe auf das Exempel machen können.«

»Warum denn?«

»Unsere Leute gehören fast alle zum Metallarbeiterverband. Der Tarifvertrag läuft jetzt ab und wir haben noch keinen neuen.«

»Ich erinnere«, sagte Eberhardt, »daß ich vom Syndikus des Arbeitgeberverbandes neulich eine Zuschrift bekommen habe, die sich auf solche Dinge bezog. Ich hab es gar nicht durchgelesen.« 386

Liesche lächelte: »Entschuldigen Sie, wenn ich bemerke, daß Sie sich darum eigentlich kümmern müßten. Wir werden bald die ersten Schiedsgerichte erleben, und zwar wegen Überstunden und wegen Lohnerhöhung.«

»Werden die Leute nicht gut bezahlt? Aus den Kalkulationen ersehe ich jedenfalls, daß die Löhne hoch sind.«

»Die Preise der Lebenshaltung auch«, wagte Liesche einzuwenden.

Eberhardt antwortete nicht darauf. Er konnte selbst am besten die Preissteigerung an seinen eigenen Produkten verfolgen. Und er erkannte, aus einem ganz unpathetischen Gefühl für Gerechtigkeit, den Anspruch des Arbeiters auf erhöhten Lohn an, sobald der frühere Lohn seinen Lebensstandard drückte. Aber hier geriet er in eine Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab. Wenn er an seinen Reis und seinen Kakao und seinen Kaffee dachte, an die Früchte, die er einführte, rechnete er mit der großen Masse der Abnehmer und wünschte, daß sie Geld genug verdienten, um für seine Produkte aufnahmefähig zu sein. Wenn er an seine Nieten und Nägel und Schiffsbeschläge und Maschinen dachte, wünschte er einen Erstehungspreis, der ihn auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig machte. Darum mußte er gegen jede Lohnsteigerung sein.

Er verwunderte sich einen Augenblick darüber, daß diese Dinge sich so vermischen konnten. Organische Gesetze tauchten vor ihm auf, die er in ihrer schlichten Klarheit bisher nicht so gesehen hatte. Es war nötig, sich mit ihnen auseinander zu setzen.

Früher hatte er solche Dinge mit Otto Krämer besprechen können. Heute schien es ihm unmöglich. Er hatte keinen Streit mit ihm gehabt, konnte ihm nichts Böses 387 vorwerfen, hatte seiner nie in Feindschaft gedacht, hatte ihm im Gegenteil vieles zu danken . . . aber er trug an der Schuld, ihn Jahre hindurch, über zehn Jahre lang, aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben. Er wollte sich überzeugen, daß dieses ein Ergebnis der Zeit und ihrer Wandlungen sei; der Zwischenraum, den zwei Ebenen mit verschiedener Lage im Weltenraum notwendig erzeugen. Die Unbestechlichkeit seines Charakters sagte ihm aber, es sei Untreue gegen ein Erlebnis . . . und gegen einen Menschen . . . Trägheit des Herzens. Keine erfreuliche Erkenntnis. Aber da er keinen greifbaren und vernünftigen Anlaß sah, zu ihm zu gehen, gab er den Gedanken, der ihm flüchtig ankam, wieder auf.

Um so größer war seine Überraschung und – er mußte es zugeben – seine Bestürzung, als wenige Tage darauf Otto Krämer sich bei ihm melden ließ. Er war viel, viel älter geworden; sah über seine Jahre hinaus gereift und wissend und in sich gekehrt aus. Man hätte ihn für verbittert halten können, wenn nicht das Auge seine klare und ausdrucksvolle Sicherheit bewahrt hätte. Und gerade dieser Blick gab ihm den Mut, ihn herzlicher zu begrüßen, als es sein Argwohn ihm eingegeben hätte. »Guten Tag, Herr Krämer. Daß Sie mich hier in meinem Bau auftreiben, das nenne ich eine Leistung.«

Krämer lächelte etwas verschämt. »Es wäre eine Leistung, wenn ich für mich selbst und in eigener Sache käme. Das aber ist seit mehr als zehn Jahren nicht geschehen . . . und wird auch wohl nicht geschehen.«

Da war die Andeutung, die ihre innere Situation klarstellte. Eberhardt nahm sie als gerecht hin. Er fühlte sich sogar erleichtert, daß diese Dinge nun endlich 388 ausgesprochen waren. Darum konnte er mit aller Anteilnahme fragen: »Aber mit irgend etwas werde ich Ihnen doch dienen können, wenn Sie zu mir kommen; nicht wahr?«

»Ja«, nickte Otto. »Ich bin Bittsteller für meinen Vater. Er weiß nichts davon. Ich bin schon bei Herrn Liesche gewesen; aber der fühlt sich nicht zuständig. Ich muß Ihnen eine kleine Vorgeschichte erzählen, damit Sie meine Bitte verstehen. Sie werden dann auch einsehen – vielleicht, ich bin nicht sicher – daß es sich hier um ein typisches Schicksal handelt.«

»Nur zu, Herr Krämer. Ich erfuhr neulich durch Zufall, daß Ihr Vater in der Maschinenfabrik draußen Werkmeister ist. Er wurde mir als sehr tüchtig geschildert.«

»Ja. Er ist lange Jahre hindurch in einem anderen Betriebe Meister gewesen. Gleich, in welchem. Dort hat er Differenzen bekommen; sicher ohne seine Schuld. Er war immer bescheiden und friedlich. Er war« – Otto lächelte seltsam – »er war das, was man in unserer Terminologie den ausgesprochenen kleinen Bürger zu nennen pflegt. Sein ganzes Ziel war: ehrbare Kinder, Sparkassenbuch und Pensionskasse für die alten Tage. In dem Augenblick, als man ihn entließ, war sein Anspruch auf die Pensionskasse erloschen. Er hat gegen seine Entlassung nicht remonstriert. Man hat ihn aus der Kasse abgemeldet. Dazu war die Firma berechtigt, da es sich um eine Privatkasse handelt. Ein alltäglicher Vorgang, nicht wahr?«

Eberhardt dachte an Liesches Berichte und nickte.

»Für ihn bedeutet dieser Vorgang aber: Zusammenbruch aller Strebsamkeit; Zusammenbruch aller guten Gedanken an den friedlichen Lebensabend mit Vorgarten und 389 kurzer Pfeife. Das hat ihn aus der Welt seiner Ordnung herausgeworfen. Er hat mich immer – vergeblich natürlich – gewarnt, mich mit Politik zu beschäftigen. Jetzt stellt er mich mit seiner Agitationswut in den Schatten. Er geht dabei vor die Hunde. Solche Dinge taugen nicht für ihn. Darum komme ich mit einer Bitte: melden Sie ihn wieder bei der Pensionskasse an. Ihr Betrieb ist ihr angegliedert. Sie werden es nicht einmal wissen; aber ich weiß es. Wenn Sie ihn anmelden, können ihm die vergangenen Jahre noch angerechnet werden. Die Beitragsleistung für Sie ist gering. Ich mag Ihnen nicht anbieten, sie Ihnen zu erstatten. Aber Sie bringen damit einen Menschen wieder dahin, wohin er gehört: auf den Weg der bürgerlichen Ordnung.«

Beide waren sehr blaß, als Krämer geendet hatte. Eberhardt sah: das bedeutete schwerste Überwindung, zwischen der Idee und dem Kindesgefühl wählen zu müssen . . . und dann noch den Weg zu ihm finden. Er konnte nichts antworten. Mechanisch griff er zum Hörer und ließ sich mit der Fabrik verbinden. Er sprach mit Liesche. »Ach, Herr Liesche, wollen Sie bitte veranlassen, daß der Werkmeister Albert Krämer zur Pensionskasse angemeldet wird? So weit möglich, rückwirkend. Eine Ausnahme? Das macht nichts. Veranlassen Sie es bitte. Ich verlasse mich darauf. Guten Tag.«

Während er den Hörer hinlegte, dachte er: jetzt sind wir quitt. Aber zugleich überzog ihn eine brennende, quälende Scham. Grits Worte waren nicht zu vergessen: Ihr kennt nur eines –quitt sein; einander nichts mehr schulden . . .

»Ich danke Ihnen, Herr Melchior«, sagte Krämer und stand auf. 390

Aber Eberhardt konnte ihn so nicht gehen lassen. »Bleiben Sie doch noch etwas«, bat er. »Ich habe Zeit. Wenn Sie noch eine Viertelstunde für mich übrig haben, sollte es mich freuen.«

Krämer lächelte still: »Wie vor langen Jahren – ach, es ist schon so lange her – muß ich Ihnen wieder sagen: ich warne Sie! Die Situation ist gegen früher noch verschärft. Damals hatten wir beide nichts zu geben als einen Austausch der Gefühle, der zu nichts verpflichtete. Heute bin ich . . . Gewerkschaftler und Sie Kaufherr; ich . . . Doktrinär einer Idee; Sie . . . Repräsentant einer feindlichen Gruppe.«

Eberhardt sah ihn aus ehrlichen Augen an: »Geht es nicht über das Menschliche hinweg, Krämer?«

»Das Menschliche«, sagte Krämer ernst, »steht dazwischen. Das Menschliche ist nicht die dritte Ebene, auf der man ohne Kollisionsgefahr spazieren und parlieren kann. Das Menschliche ist eben das . . . was uns trennt.«

»Ich denke: das Soziale«, sagte Eberhardt. Er war schon ein wenig in die Reserve getrieben; schneller und jäher, als er es gedacht hatte.

»Sie machen es sich bequem. Sie wollen alle Unterschiede und Spannungen auf das Wirtschaftliche abwälzen. Das geht nicht. Aber ich verstehe, daß Sie es tun. Sie können nicht anders.«

Eberhardt hatte die Lippen schmal zusammengedrückt. So klang es, als spräche er hinter den Zähnen her: »Sie haben immer noch diese schonsame . . . überlegene Art, mir Recht zu geben. Ich bin gerade kein Jüngling mehr. Halten Sie mich noch immer nicht für fähig, zu begreifen, 391 wo nach Ihrer Meinung der Unterschied . . . oder die Trennungswand liegt?«

Krämer beugte sich zurück, maß den Abstand, als wolle er einen Gegner anspringen, und sagte betont und gemessen: »Die Trennungswand verläuft dort, wo man das Menschliche aus dem Ablauf des Tages und der Wirklichkeit herausreißt und ihm einen besonderen Salon anweist. Wenn in der Wüste oder im Urwald oder in den Steppen Asiens sich zwei Menschen begegnen, aus Willen oder aus Zufall, dann begrüßen sie sich als Brüder. Die Not der Einsamkeit gibt es ihnen ein, sich am Anblick des anderen zu freuen. Je weiter sie nach Norden oder Westen kommen, je dichter die Menschen aufeinander hocken, desto weniger kennen sie diese menschliche Freude. Je mehr sie an Besitz zu verteidigen haben, desto größer ziehen sie den Abstand zum Nächsten; desto heftiger bilden sie eine Gruppe der Gleichen. Alle Solidarität wird Sache der Gruppe. Es gibt keine Solidarität mit dem, der außerhalb der Gruppe steht; auch keine menschliche. Ihr lebt vom Gruppengefühl. Ihr haßt aus dem Gruppengefühl. Ihr könnt den Gärtner Müller oder den Kutscher Meier wie einen Hausrat lieben; aber die Müllers und die Meiers könnt Ihr nur hassen. Ihr kennt nur eine einzige Gefahr – und es gibt für euch auch nur eine einzige Gefahr – die soziale. Alles andere ist euch gleichgültig.«

»Auch in der Politik?« lächelte Eberhardt höhnisch.

»Auch dort. Vor dem Kriege waret Ihr stolze Republikaner. Das war Gruppengefühl der freien Kaufleute. Heute seid ihr – vorsichtig ausgedrückt – weniger republikanisch. Das ist das Gruppengefühl der freien Kaufleute, die ihre Freiheit durch die aufsteigende Masse 392 bedroht fühlen. Nach außen dasselbe: Ihr handelt mit dem Ausland; ihr heiratet sogar ins Ausland; aber ihr bleibt Gruppe, die sich absondert und haßt.«

»Ist das nicht Haß, was Sie da predigen?« rief Eberhardt aufbrausend.

»Nein, Melchior. Ich predige nicht Haß. Ich stelle nur den Tatbestand fest. Ich bezeichne nur die Mauer, durch die keine Pforte der Verständigung führt. Zwischen euch und uns ist der Kampf eine Notwendigkeit. Wenn in glücklicheren Gegenden vielleicht längst die Morgenröte eines Verstehens zwischen Hüben und Drüben leuchtet . . . glauben Sie mir, Melchior: dann wird man an dieser harten Wasserkante noch mit gefletschten Zähnen gegeneinander stehen. Aber zwischen uns beiden, lieber Melchior, wird es sein wie . . . nicht böse werden! . . . wird es sein wie mit dem Kutscher Meier oder dem Gärtner Müller: stiller Reliquienkult . . . Leben Sie wohl, Melchior. Und haben Sie Dank für Ihre Freundlichkeit.«

Er war aufgestanden und hielt ihm die Hand hin. Eberhardt sah auf den Schreibtisch. »Nun? Nicht einmal die Hand wollen Sie mir geben?«

Eberhardt schreckte auf: »Ich habe es nicht gesehen. Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich war nur . . . nachdenklich. Leben Sie wohl, Krämer. Es ist nicht einfach, die Beziehungen der Menschen zueinander klar zu stellen. Man müßte die Zeit haben, sich damit zu befassen. Leben Sie wohl. Und auch ich habe Ihnen zu danken.«

Er blieb in einer leichten Befangenheit zurück. Je mehr er über Krämers Worte nachdachte, desto mehr beunruhigte ihn ihr Gewicht. Nicht, daß er ihm Recht gegeben hätte. 393 Wenn schon Ideologien gegeneinander standen, war nicht einzusehen, warum die eine nicht so gut sein sollte wie die andere. Ihn beunruhigte nur, daß er dieser geschlossenen Idee keine von gleichem Gewicht und gleicher Geschlossenheit entgegen zu stellen hatte. Er versuchte, mit Grit darüber zu sprechen. Aber sie kam ihm nicht zu Hilfe. Sie sagte: »Wenn Otto Krämer so Ideen gestalten kann, wie seine Schwester Menschen darstellen kann, dann verlohnt es schon, sich damit auseinander zu setzen.«

»Auseinander setzen?« sagte er stolz. »Nein. Wenn die Ideen sich nicht versöhnen lassen, dann mögen sie sich feindlich bleiben. Dann muß man sie als eine Tatsache hinnehmen. Auch auf die Gefahr hin, daß man sie nicht in sein Weltbild einordnen kann, wie man jetzt so schön sagt.«

»Jeder muß wissen«, sagte sie still, »wo er anfängt, den Kreis um sich zu ziehen. Es gibt Menschen, die ihn immer wieder durchbrechen und ihn nie zu einer Rundung führen können.«

Er hörte ferne Andeutungen. Alles in ihm straffte sich. »Das sind die Schröders«, sagte er schroff. »Ich bin kein Schröder. Ich bin ein Melchior.«

Sie nickte nur und sah stumm vor sich hin. 394

 


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