Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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Dritter Teil / Erfüllungen

1. Kapitel.

Die Überfahrt von Surinam nach Deutschland stellte Eberhardt Melchior vor eine harte Belastungsprobe. Er war aus dem Gleichmaß einer ununterbrochenen dreijährigen Arbeit herausgerissen. Der Tag hatte ein anderes Maß und ein anderes Gesicht bekommen. Die Stunden zergingen ihm leer unter den Händen. Bedrückend war das Gefühl, Zeit zu haben; sie ausfüllen zu müssen, ohne zu wissen, womit. Er war ein Passagier erster Klasse; weiter nichts. Er hatte weder einen Zweck noch ein Ziel. Sein Reiseziel war nur eine Tatsächlichkeit; nichts, das mit einem Sinn erfüllt gewesen wäre. Doch mit jedem Tage näherte er sich nicht nur dem heimatlichen Gestade, sondern auch allem, was er dort zurückgelassen hatte. In den heißen, schlaflosen Nächten standen Gespenster vor ihm auf, verzerrte Wesen, denen allen irgendein Glied oder ein Körperteil fehlte. Unvollkommene Fratzen, unausgeborene Geschöpfe, die Ausgeburten seiner unvollendeten Erlebnisse. Dann erhob er sich und ging ruhelos über das Promenadendeck.

Er versuchte, Ordnung in diese andrängenden Erinnerungen zu bringen. Da war Lisbeth Krämer. Er hatte nie wieder von ihr gehört. Er hatte sie geliebt, aber die Zeit hatte das Gefühl verdorren lassen. Er konnte nichts mehr davon in sich aufspüren. Wenn überhaupt die 232 Gestalt einer Frau in seinen Vorstellungen Platz hatte, so war es Grit Kuvell und ihre reife, mütterliche Zärtlichkeit.

Da war Otto Krämer. Er war ihm einmal zugetan. Auch über dieser Zuneigung lag der Dunstschleier der Zeit. Mehr noch lag darüber das Wissen um die harten Tatsachen der Welt und ihres Ablaufes in Arbeit und Erfolg und Gewinn und Verlust. Da er einmal gespürt hatte, wie unerträglich es ihm sei, sich selber aufzugeben und einer umfassenden Natur oder Gemeinschaft zu dienen, verloren auch die Gedankengänge eines Otto Krämer von ihrem Gewicht.

Da war Schröder, der Brennende, Glühende. Solche Augen hatte er zuweilen gesehen, wenn in den Bars von Paramaribo die Gefesselten sich frei machen wollten. Aber in den Taten des einen wie des anderen war dieses Maßlose enthalten, diese wilde und sinnlose Rebellion gegen jeglichen Bestand. Der eine zerstörte Welten, der andere zerstörte einen Spiegel. Und ihre Lust war im Grunde die gleiche: die Furcht vor der ewigen Unlust.

Kolloge? Er lächelte. Dieser Mann würde seinen Weg machen. Er würde mit seinem Pfunde weise wuchern.

Aber eines umging er bei allem Denken sorgfältig, als wäre es feindlich drohendes Gebiet: die Seinigen. Von ihnen empfand er nur einen Schatten, und wenn er ihn tiefer in sich eindringen ließ, war es nur eine dumpfe Trauer um den Tod seiner Mutter. Ein Strom von Liebe, gebändigt durch unendliche Hemmungen aus Tag und Gewohnheit und Herkommen, brach jetzt erst auf. Und in dem aufgerissenen Flußbett schmerzte es . . .

Weiter gedieh er nicht. Über das, was er tun mußte 233 und tun würde, machte er sich keine Gedanken. Irgendetwas würde ihn einfangen und zum Handeln zwingen. –

Als das Schiff in Bremerhaven an der Columbusmauer angelegt hatte, begab er sich in die Lloydhalle, um seinen Vater zu suchen. Aber statt seiner stand plötzlich Onkel Philipp vor ihm. Es gab ihm einen Ruck. Dieser da hatte einmal seine bittende Hand zurückgestoßen, hatte gegen eine brennende Not die kalte Härte eines ererbten Prinzips gesetzt. Und dieser begrüßte ihn in der ersten Minute der Heimkehr?

Philipp kam ihm mit weit offenen Armen entgegen: »Junge! Junge!« rief er.

Eberhardt stand kerzengerade, straff, braun, die Stirne aus Gewohnheit gekraust und sagte kalt: »Guten Tag. Wo ist Vater?«

Philipps Arme sanken verlegen herunter. Er wußte um den Sinn dieser frostigen Begrüßung. »Dein Vater wartet zu Hause auf dich. Er meinte, es wäre vielleicht richtiger, ihr sähet euch in deinem Elternhause zum ersten Male wieder.«

»Mir soll es recht sein«, sagte Eberhardt und nahm seinen Handkoffer auf. »Wollen wir also einsteigen.«

Unter der Glashalle stand der Lloydexpreß. Als sie am Zuge entlanggingen, sagte Philipp leise, als müsse er sich dessen schämen: »Wir haben Plätze belegt.«

»Wer ist wir?«

»Bernd und Toni. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen.«

Eberhardt biß die Zähne zusammen. Toni, das war ein anderes Erlebnis. Seltsam, daß er es vollkommen vergessen hatte. So schnell fallen einem Menschen aus 234 dem Herzen. Und auch da brannte noch ein Rest Bitterkeit, wenn er an einen Brief und an ein Paket dachte . . .

Er hörte einen Anruf und erkannte Bernds Stimme: »Tag Eberhardt. Mensch, wie hast du dich herausgemacht.«

»Guten Tag, Bernd. Du hast dich nicht verändert.«

Das war alles. Mehr brachte er nicht heraus. Er wußte ihnen nicht mehr zu sagen. Onkel Philipp stöhnte vor Befangenheit. Er hatte gedacht, den Jungen von einstmals abholen zu können und alles Geschehene mit seinem Lachen übertönen zu können. Aber diesem fertigen, ernsten, verschlossenen Menschen gegenüber versagte seine Heiterkeit und Unbefangenheit.

»Willst du Toni nicht begrüßen?« fragte er.

»Gerne«, sagte Eberhardt verbindlich. »Wo ist sie?«

Toni stand hinter einem Pfeiler und kämpfte verzweifelt um ihre Selbstbeherrschung. Langsam kam sie Eberhardt entgegen. Jeder ihrer Schritte war beschwert mit der Last einer unausgeglichenen Schuld. Sie sah ihn an und wußte: es ist nicht vergessen und verwunden. Ich hätte ihn nicht verraten dürfen!

Sie war es, die die Spannung dieses Wiedersehens löste. Sie folgte blind dem wilden Auftakt ihres Herzens, nahm Eberhardts Schultern, lehnte sich an ihn und begann laut zu weinen.

Da begann das verhaltene und verdrängte Heimweh in Eberhardt zu zittern und zu zucken. Was waren alle Jahre und Entfernungen, was waren alle Bitterkeiten und Enttäuschungen gegen dieses weinende Gefühl eines Menschen, der um seinetwillen einen Schmerz trug? Er nahm sie sachte in seine Arme und streichelte ihre Schultern: »Laß gut sein, Toni. Es wird sich schon alles ausgleichen.« 235

Sie sah zu ihm auf und nickte. »Hat schon einer zu dir willkommen gesagt? Dann will ich es sagen.« Und sie küßte ihn auf beide braunen Wangen.

Philipp stand daneben. Es wetterleuchtete in seinem Gesicht. Er nahm Eberhardts Hand, zog ihn ein wenig beiseite und sagte bittend: »Wollen wir es nicht auch auslöschen? Ich bin alt geworden, mein Junge, und so ein altes Herz trägt doppelt schwer an bösen Erinnerungen.«

Noch einer, der ein Gefühl für mich aufbringt? dachte Eberhardt. Hier ist man nicht so verlassen wie im Urwald. Wenn nur diese unmännliche Rührung nicht wäre, dieses kinderhafte Verlangen nach Tränen und einem Winkel, sich auszuweinen!

»Nun?« drängte Philipp.

Er sah ihn an und sagte laut und deutlich: »Hast du gute Jahrgänge Rotwein liegen?«

Philipp verstand den Sinn des unbeholfenen Scherzes. Er fand das Lachen aus der Tiefe des Unbeschwerten wieder. Aber dann mußte er sich abwenden, um nicht zu verraten, daß das tiefste Lachen in der Nähe des Tränensees ruht.

Sie stiegen ein. Der Zug fuhr eine schreiende Kurve, dann glitt er in das ebene Land hinaus mit seinen Wiesen und kleinen Waldungen, mit den Knicks zwischen den Feldern und den glatten Äckern. Wieder, wie vor Jahren, die Bilder, die nicht vergessen werden konnten, weil sie Anstoß zu erstem Erlebnis gewesen waren. Es war wieder Herbst, und es wehte hoch und blau über den geschwungenen Himmel. Heimatliche Sonne lag über den kleinen Ortschaften. Aus der Ferne stand klar umrissen das Gefüge einer Stadt mit vielen hohen Türmen. 236

Alles das kannte Eberhardt. Hier liefen Wege, die nicht Fremde waren . . .

In das Schweigen hinein sagte Philipp plötzlich sehr laut: »Was den Rotwein angeht, und wegen der Überraschung: der Fritze wird in Bremen in der Halle sein. Wird es dich sehr stören? Ich meine nur, es könnte dir etwas viel werden.«

»Ich bin Kummer gewohnt«, lachte Eberhardt. »Wie geht es deiner Tochter?«

»Danke. Sie ist um drei Jahre älter und um zehn Jahre gesetzter geworden. Sie ist unser aller Sonnenschein.«

»Und der Senator?«

Philipp zog ein schmerzliches Gesicht. »Dem ist schwül zumute. Die neuen Senatswahlen stehen vor der Türe. Einerseits möchte er, andererseits nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weißt du, die Sache ist nicht mehr so exklusiv wie früher. Da kannte man seine Leute. Heute kann jeder Senator werden. Ist ja sehr schön, wenn tüchtige Leute aufsteigen können. Aber regieren muß man eben können. Das kann man nicht lernen.«

»Drüben kann jeder das werden, was er leisten kann.«

»Ja, drüben. Aber hier sind wir in Bremen.« Er sah aus dem Fenster. »In jeder Beziehung. Da ist schon Walle. So, nun macht euch fertig.«

Die fernere Begrüßung auf dem Bahnhof verlief, wenn auch herzlich, so doch ohne größere Erregung. Mähren sagte: »Ich habe das Auto draußen.«

»Wenn es euch recht ist«, sagte Eberhardt, »stelle ich meinen Handkoffer hinein und wir gehen die zehn 237 Minuten zu Fuß. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie es ist, statt Baumwurzeln und trockener Erde mal wieder ein kultiviertes Pflaster unter den Füßen zu haben.« Er sah sich um: »Hat sich wohl nichts verändert, was? Immer noch wird man von der Badeanstalt begrüßt, wenn man aus dem Bahnhof kommt. Schöner Ehrgeiz, dem Ankömmling gleich den rechten Begriff von Bremer Sauberkeit beizubringen.«

»Er ist immer noch ein kleiner Spötter«, sagte Mähren knitterig, denn er vertrug es nicht, wenn man etwas gegen seine Vaterstadt sagte.

Sie bogen in die Rembertistraße ein. Alle wurden stiller, je mehr sie sich dem Hause an der Contrescarpe näherten. Eberhardt ging durch diese Straße, als wäre es Nacht und er . . .

»Wenn es nicht stört«, sagte Philipp, »und wenn dein Vater einverstanden ist, kommen wir heute abend zu euch, ja?«

Zu euch? dachte Eberhardt. Merkwürdiger Klang; merkwürdiger Sinn. War alles schon ausgelöscht? Waren die drei Jahre einfach gestrichen und mit der Gewalt des Herkommens der frühere Zustand wieder hergestellt?

Sie standen vor dem Hause. Mit einem Male waren alle bedrückt und aus ihren Mienen sprach die Sorge, wie diese erste Begegnung zwischen Vater und Sohn verlaufen würde. Toni drückte ihm stumm die Hand. Er blieb allein.

Eberhardt sah nicht auf. Er ging sehr langsam, den Kopf gesenkt, durch den Vorgarten. Dann war das braune, blanke Holz der Haustüre vor ihm. Sie bewegte sich gedämpft und gelassen mit ihrem Luftventil. Einmal, 238 einmal . . . hämmerte es in seinen Gedanken. Und wieder gingen seine Vorstellungen durch eine Nacht.

Drinnen öffnete sich der Windfang. Sein Vater stand da ganz grau, fast weiß, mit scharf umrissenen Zügen, die sich vertieft und verhärtet hatten. Wie immer trug er einen hoch geschlossenen, schwarzen Anzug. Nur, daß er jetzt auch eine schwarze Krawatte trug. Seine Augen, um einen Schein müder als sonst, waren unruhig von einer gespannten Erwartung. Er streckte seinem Sohne die rechte Hand hin und sagte – es klang wie Bangnis –: »Willkommen, mein Junge.«

Wie alt, wie alt! dachte Eberhardt, und aus einem Mitleid, das in ihm aufzuckte, umklammerte er die Hand seines Vaters ganz fest und sagte: »Guten Tag, Väterchen.«

Das war eine Liebkosung, in all den langen Jahren sparsam gegeben und ausgeteilt, verbunden mit einem Sinn und behangen mit Gefühlen, die man nicht ohne Not äußerte.

Hermann Melchior wandte sich ab. Sein Gesicht hatte für eine Sekunde das Aufleuchten väterlicher Liebe. Er klopfte seinem Jungen auf die Schulter: »Nun komm. Beta bringt gleich den Kaffee.«

Dann tauchte aus der Garderobe ein Gesicht auf, alt, verhutzelt und verrunzelt. »Haberkost!« rief Eberhardt. Der Alte strahlte vor Glück und Stolz: »Herzlich willkommen, junger Herr. Groß sind Sie aber geworden!«

Ferne, schöne Kindheit wehte Eberhardt an. Er konnte wieder ein wenig lachen und sagte: »Du hättest auch eigentlich die weißen Glacé anziehen können, wenn ich komme.« 239

»Das kömmt noch«, sagte Haberkost geheimnisvoll. »Das kömmt alles noch.«

Sie gingen in den Teesaal. Nichts hatte sich darin verändert. Noch immer stand die französische Pendüle auf dem Kamin. Eberhardt streifte über den Glassturz. Ob schon ein Sprung darin ist? dachte er. Aber sie war heil wie immer.

Dann erschien Jungfer Metta. Sie ging jetzt an einem Stock; aber ihre Stimme war die alte geblieben. »Tag«, sagte sie laut. »Schon wieder da?«

Hermann Melchior entschuldigte sie lächelnd: »Sie hat kein Gefühl für Zeit mehr.«

»Das sehe ich«, sagte Eberhardt. »Das sehe ich.« Jungfer Metta saß auf ihrem Platz, auf dem sie seit einem Menschenalter gesessen hatte. Ihre Züge waren steinern geworden. Aber die Augen hatten die durchdringende Leuchtkraft einer Sybille. Sie umfaßten mit kalter Aufmerksamkeit eine Vergangenheit und eine Gegenwart zugleich. Es war unheimlich.

Neben dem Sessel, in dem sonst Mutter Ethel gesessen hatte, stand ein kleiner Tisch aus schwarzem Ebenholz. Darauf ihr Bild, mit frischen Blumen eingerahmt. Als Eberhardt hinzutrat, um aus dem Bilde zu nehmen, was ihm die Lebende nicht mehr geben konnte, sah er einen Brief aus dem Tische liegen, an ihn gerichtet und mit zitternder Hand geschrieben. Drei rote Siegel schlossen ihn ab.

»Es war Mutters Wille«, sagte Hermann, »daß dieser Brief dort liegen sollte, wenn du zurückkämest.«

Eberhardt öffnete den Brief und las ihn. Kein Gefühl verriet sich in seinem Gesicht. Er war völlig beherrscht, 240 aber von einer erschreckenden Blässe. Dann faltete er den Brief zusammen und verbarg ihn in seiner Tasche. Er sprach nicht über den Inhalt und wurde nicht darnach gefragt. Aber aus allem ging ihm ein Wort unaufhörlich durch die Gedanken: »Man sprengt das Gefüge der Welt nicht. Man ordnet sie.«

Er war sehr erregt. Er fühlte sich unfähig, schon an diesem Abend, wie ein heiterer, unbeschwerter Heimkehrer, mit den Seinigen zusammenzusitzen und Willkommen zu feiern. Er bat seinen Vater: »Ließe es sich einrichten, daß der Abendbesuch nicht gerade heute kommt? Es wäre mir sehr damit gedient, wenn ich . . . einige Tage Ruhe haben könnte.«

»Gewiß doch. Ich verstehe, daß du dich erst sammeln mußt. Wollen wir sagen: Sonnabend?«

»Wie du es bestimmst.«

So hatte Eberhardt einige Tage Ruhe. Aber er tat nichts in dieser Zeit, er entschied nichts und überdachte nichts. Er wartete, wohin ihn das nie rastende Unterbewußtsein treiben würde.

Langsam, in Bruchstücken, wie tastend nach dem Verständnis des Vaters, begann er Einzelheiten seines Aufenthaltes zu berichten. Hermann war immer sehr aufmerksam. Zuweilen nickte er zustimmend. Einmal fragte er: »Hast du die Absicht, deine Kenntnisse und Erfahrungen hier irgendwie zu verwerten?«

»Es wird wohl erforderlich sein«, sagte Eberhardt.

»Du weißt, mein Geschäft ist wesentlich aufgebaut auf Getreide und seinen Produkten. Es steht aber nichts im Wege, daß es ausgebaut wird. Du wirst wissen, daß 241 meine Absichten dahin gingen, als ich gerade Surinam für dich auswählte.«

»Wie denkst du dir das?«

»Etwa im Großen so, wie unsere Urahnen es im Kleinen getrieben haben. Damals nannte man so etwas Kolonialwarenhandlung. Man vertrieb jedes ausländische und inländische Produkt, das der menschlichen Ernährung diente. Wir haben uns spezialisiert, um in der Beschränkung das Größere leisten zu können. Jetzt sind wir so groß, daß wir uns ausdehnen können.«

»Du bist doch der alleinige Inhaber der Firma, nicht wahr?«

»Natürlich. Warum fragst du das?«

»Weil du immer sagst: wir.«

»Ist es unzulässig, wenn ich dich in meine Kalkulationen mit einbezogen habe?« lächelte Hermann. »Da du zurückgekommen bist, nehme ich an, daß du nicht aus der Art geschlagen bist und in mein Geschäft eintreten wirst. Über die Bedingungen können wir später sprechen.«

Der Tag, an welchem seine Heimkehr festlich begangen werden sollte, kam heran.

Als Eberhardt sich auf seinem Zimmer umkleidete, las er noch einmal aufmerksam den Brief seiner Mutter. Jedes Wort flehte ihn an: Lauf nicht aus der Spur! Bleib bei den Deinigen. Nimm das Werk auf und setze es fort. Du hast viele Möglichkeiten. Ihr alle habt viele Möglichkeiten. Aber euch dienen sie zum Beharren, nicht zum Verschwenden. Ihr seid immer zwischen die Weite und die Enge gesetzt. Immer zwischen eure kleine Vaterstadt und das unendliche Weltmeer. Immer zwischen das Unzulängliche und das Übergroße. Wer da nicht einen 242 engen Ring um sich zieht, erstickt im Kleinen oder geht im Großen verloren. Nimm den Weg der Deinigen auf und runde dich ab im . . . Unzulänglichen und Unvollkommenen . . .

Eberhardt schüttelte bitter den Kopf: »Auch darin kann man ersticken, wie Ethel Melchior. Ein Leben ablaufen lassen, ohne es zu Ende zu leben. Dein Erbteil, Mutter. Du kannst es nicht zurücknehmen. Ich gehe meinen eigenen Weg. Man muß den Ring größer ziehen können als nur um das Unvollkommene. Ich will es versuchen.«

Als er hinunter ging, sah er, daß die Garderobe schon voll mit Hüten und Mänteln behängt war. Haberkost machte sich da zu schaffen, und wirklich trug er weiße Glacéhandschuhe.

»Na, Haberkost, was gibt es heute?«

»Och, nur so eine kleine Begrüßung für den Junior. Gesche ist auch unten. Und es gibt auch Pilsener. Weißt noch?«

Eberhardt lächelte, aber es kam ihm nicht aus dem Herzen. Familienfeier, dachte er. Altes, bewährtes Lockmittel. Glatter Betrug, um die Jahre auszulöschen und wieder anzusetzen, wo man einmal aufgehört hat. Drei Jahre Urwald sind nichts? Drei Jahre Einsamkeit mit der Last dessen, was nicht zu Ende gekommen ist? Ich will euch zeigen, was das wert ist. Man bestiehlt mich nicht darum. Ich habe es angefangen. Ich werde es zu Ende bringen. –

Dennoch ging er zunächst in die Küche hinunter und begrüßte Gesche Büsing. Sie mußte weinen, als sie ihn sah. »Och, wie der groß geworden ist. Und so was hat man als jämmerliches Wurm aus dem Arm getragen . . .« 243

»Und ernährt«, ergänzte er freundlich. »Was macht dein Mann?«

»Emmo hat die Gicht. Er kann nicht mehr so recht. Aber unser Junge hat jetzt sein Kapitänsexamen gemacht.«

»Na, wenn ich erst ein eigenes Schiff habe, soll er bei mir Käppen werden.«

»Soll mir eine große Ehre sein«, knixte sie ernsthaft.

Im Teesaal war die Familie vollzählig versammelt. Für einen Augenblick, nur zur Begrüßung des unbekannten Onkels, hatte man den kleinen Ludwig hergebracht. Toni nahm ihn auf den Arm: »Das ist der Onkel Eberhardt. Gib ihm Händchen.«

Ludwig dachte nicht daran. Er musterte den neuen Menschen eine Weile, dann griff er zu und riß ihm mit einem Ruck den Querbinder auf. Alles lachte. Eberhardt streichelte seine Bäckchen. »Hab' ich auch mal getan, junger Mann. Laß dir das Vergnügen nicht nehmen.« Von der Zeit an waren sie gute Freunde und eine stete Quelle der Eifersucht für Toni.

Die Uhr auf dem Kamin schlug sieben. Der gleiche dünne Schlag wie immer: Das Rituale lief ab. Nur daß es dieses Mal Hermann Melchior war, der sich zuerst erhob und fragte: »Können wir essen?«

Dann öffnete Haberkost die Türe zum Eßzimmer und wies jedem seinen Platz an. Eberhardt sah an sich herunter, ob er nicht einen Smoking trage und die Pumps, die er auf dem letzten Familientage an hatte. Wieder lastete die Stimmung aus Ernst und Feierlichkeit. Hermann sprach das Tischgebet. Es war wie immer, wie immer . . .

Onkel Philipp trank in langen Zügen: »Man kommt 244 sonst nicht in Schwung«, entschuldigte er sich. »Man muß sich erst an diesen Nigger da wieder gewöhnen. Mensch, wo hast du dein Kindergesicht gelassen? Willst du mir mit aller Gewalt klar machen, daß man alt geworden ist? Und da ich gerade im Zuge bin, und weil es heute so im Programm liegt, daß ich das Amt habe, dich zu begrüßen, so will ich es gleich abmachen. Wir haben dich drei Jahre nicht gesehen. Aber es ist uns trotz allem, als hätten wir dich gestern erst gesehen. Du bist verändert, und doch derselbe. Keiner kann dem anderen ins Herz gucken und feststellen, was sich da verschoben hat. Aber für uns, für uns, sage ich, bist du der Gleiche geblieben. In diesem Sinne noch einmal: willkommen.«

Gläserklingen. Feierliches Schweigen. Kurzes Versinken in Gedanken. Unabänderliche Form.

Dann sprach Eberhardt. Er vermied jede feierliche Einleitung. »Euer Willkommen hat mir gut getan. Heimat ist Heimat. Niemand kann sich eine neue schaffen. Er kann sie aber umschaffen, mit seinem Willen anders gestalten. Das ist es, was ich will. Und es ist möglich, daß ich mich darin eines Tages von euch unterscheiden werde. Ich sage das so offen, weil Gelegenheiten wie heute dazu bestimmt sind. Ihr seht, ich respektiere die Form. Aber ich will nicht, daß ihr wieder sagen müßt: er lebt mit zwei Gesichtern.«

Sie tranken mit ihm, weil er sein Glas hob und ihnen zutrank. Aber sie waren befangen und erschreckt, und Hermann Melchior hatte zitternde Hände.

»Ist es dir recht«, fragte er leise, »daß wir schon heute darüber sprechen, was du angedeutet hast? Oder ist es dir lieber, daß wir es unter uns bereden?« 245

»Es wird noch wie früher sein, daß wir keine Geheimnisse voreinander haben sollen, nicht wahr? Dann kann ich darüber schon heute sprechen. Du sagtest kürzlich etwas von der beabsichtigten Erweiterung deines Geschäftes. Mir sind solche Gedanken nicht neu. Ich werde sie durchführen.«

»Du trittst ein?« fragte Philipp erfreut.

»Nein«, sagte Eberhardt kühl. »Ich mache es alleine.«

Nun war es gesagt. Das Unvorstellbare, daß ein Kind der Melchior seinem Vater die Gefolgschaft verweigerte, war Wirklichkeit geworden. Alle sahen zu Hermann Melchior und warteten auf das Machtwort. Es kam nicht. Er saß da, blaß, verschlossen, unnahbar, die Augen leicht verengt. Er legte seine Serviette aus den Tisch und stand auf: »Ich würde mir etwas vergeben, wenn ich den Versuch machen wollte, dich zu beeinflussen. Das geschieht nicht aus Verachtung, sondern aus meiner Unfähigkeit, einen solchen . . . Treubruch zu begreifen.«

In Hinausgehen wandte er sich noch einmal um: »Eine Frage noch – nicht aus Neugierde, sondern aus aufrichtiger Besorgnis. Woher willst du die Mittel nehmen, dich selbständig zu machen?«

Eberhardt zog einen Brief aus der Tasche und sagte: »In Mutters Brief befindet sich folgende Stelle: ›Solltest du aber doch entschlossen sein, deinen eigenen Weg zu gehen, so bestimme ich, daß du von meinem Erbteil, so weit es dir zusteht, die Hälfte sofort ausgezahlt erhältst. Die andere Hälfte soll dir ausgezahlt werden, so bald du den Nachweis erbringen kannst, daß dein Unternehmen gedeiht.‹«

Hermann Melchior nickte: »Der Wille deiner Mutter 246 wird selbstverständlich respektiert werden. Wir können es morgen erledigen.«

Dann ging er. Die anderen folgten ihm, erregt, aufgelöst. Eberhardt saß endlich ganz alleine noch am Tische, verloren und versunken. Er nahm ein Glas auf, hielt es gegen das Licht, daß es rot und brennend durchschimmerte, und sagte leise: »Man muß sehen, Mutter, wie man es schafft . . .«

Am nächsten Tage ging er zu einem Häusermakler und fragte nach Kontoren.

»Groß oder klein?«

»Jedenfalls auf Zuwachs berechnet.«

»Lage?«

»Gleichgültig. Die Leute werden schon zu mir finden.«

Der Makler führte ihn in die Langenstraße. »Hier ist ein großes Hauptbureau; hier ein Schreibmaschinenzimmer, noch ein Zimmer für Muster und Proben, da hinten noch eines, vielleicht als Konferenzzimmer, und nach vorne ein großes als Privatkontor. Mit schönem Erker. Da können Sie gleich sehen, ob Kunden kommen«, lachte er.

Eberhardt durchschritt die Räume, ordnete schon im Geiste alles und schloß sofort ab. »Ich ziehe binnen acht Tagen ein.«

»Tempo, Tempo«, grinste der Makler. »Wohl im Ausland gewesen?«

»Ein wenig.«

»Haben Sie schon Personal?«

»Man wird genug bekommen.«

»Darf ich da das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Ich hab' einen Jungen, gerade volljährig 247 geworden. Der möchte sich verändern. Hat den Ehrgeiz, Prokurist zu werden.«

»Was kann er?«

»Jeder Bauer lobt seinen Kohl«, sagte der Makler. »Er kann viel, aber er braucht eine harte Hand über sich.«

»Die kann er bei mir haben«, lachte Eberhardt. »Ich bin morgen vormittag um elf Uhr hier. Dann kann er sich vorstellen.«

Fritz Hamerling stellte sich pünktlich vor. Es gab eine Aussprache, die eine Stunde dauerte. Dann war er angestellt. Zu Hause wischte er sich den Schweiß von der Stirne. »Aus ist es mit dem guten Leben«, stöhnte er. »Du hättest dabei sein sollen. Die kalten Gräsen sind mir über den Rücken gelaufen. Er ist vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Aber diese Fragen! Was verstehen Sie von kaufmännischer Buchführung? Was ist ein Wechsel? Welche Getreidearten kennen Sie? Was wissen Sie von Kakao? Was über Transportbedingungen? Versicherungen und weiß der Teufel was. Lesen Sie dieses Buch und jenes. Orientieren Sie sich hier und da. Mit welchem Code haben Sie gearbeitet? Zoll, Einfuhr, Ausfuhr, Steuer, Schlußschein, Arbitrage, Konossement, Deklaration, Statistik . . . die Hölle ist los. Ich werde schmoren.«

Und Hamerling schmorte. Er lief zum Drucker, zur Zeitung, zum Telegraphenamt, zur Stellenvermittlung, zur Polizei und zur Krankenkasse; er kaufte Bureaumaterial, schimpfte mit dem Elektriker, warf den Maler heraus, beschwor händeringend den Dekorateur, schwitzte, verzweifelte und hatte doch nur einen Ehrgeiz, nach 248 Verlauf der ihm gesetzten Frist von einer Woche ein vollkommen fertiges Bureau abzuliefern.

Am letzten Abend der Frist kam Eberhardt und inspizierte. Schnüffel du nur, dachte Hamerling; es ist alles in Lot. Eberhardt war sehr zufrieden. »Nur eines werden Sie sich abgewöhnen müssen«, sagte er freundlich.

»Und was?« fragte Hamerling verdutzt.

»In den Tag hinein zu leben.«

»Wieso denn?«

»Es sind keine Kalender vorhanden.«

Hamerling stieß einen Fluch aus, der aus tiefster Seele kam: »Verdammt noch mal, im Urwald haben Sie sicher keinen Kalender gehabt!« – »Darum eben!« lachte Eberhardt. »Aber sonst ist alles sehr schön geworden. Vielen Dank. Wir können also morgen anfangen zu arbeiten. Dabei ist zu beachten: ich habe nichts als Geld. Ich habe keinen Kunden, keine Beziehungen, sonst nichts. Der Bremer geht schwer an neue Firmen heran. Darum weiß ich nur einen Anfang: Partien von Leuten zu suchen, die abstoßen müssen. Billig kaufen, billig verkaufen. Das ist kein feudaler Anfang, aber es ist einer. Gehen Sie morgen früh los und schnüffeln Sie.«

»Was soll gekauft werden?«

»Alles an ausländischen Produkten, was der menschlichen Ernährung dient. Getreide, Reis, Kopra, Kakao, Kaffee, Sojabohnen, Tapioka, Gewürze; was Sie sich denken können.«

»Ein bißchen viel für den Anfang«, meinte Hamerling.

»Tut nichts. Später, wenn wir es uns erst leisten können, wird alles in besondere Ressorts eingeteilt. Ich 249 habe meine ganz bestimmten Ideen und werde danach arbeiten.«

Das Geschäft nahm seinen Anfang, und Eberhardt konnte nicht bestreiten, daß allein der Name, den er trug, ihm viele Wege ebnete, die ihm sonst hermetisch verschlossen gewesen wären. Er gewann einige Kunden, die ihm zwar keinen großen Absatz verschafften, mit denen er aber kalkulieren konnte. Inzwischen arbeitete nur ein geringer Teil seines Geldes im Betriebe. Einen großen Teil verwendete er dazu, auf dem linken Weserufer, oberhalb von Lankenau, einen breiten Streifen Wiesenland zu kaufen.

»Wollen wir auch Viehzucht treiben?« fragte Hamerling trocken.

»Wir wollen auf dem Posten sein. Weiter nichts.«

Hermann Melchior verfolgte diese Anfänge seines Sohnes mit einem etwas spöttischen Interesse. »Er hat es sich offenbar leichter vorgestellt«, sagte er zu Philipp. »Vorläufig krebst er noch.«

Aber er wurde doch aufmerksamer, als er erfuhr, daß aus Surinam, von der Plantage de Graff, die erste Sendung Kakaobohnen angekommen war. Vierzehn Tage lang war Eberhardt Melchior auf Reisen, die sich bis in die Schweiz ausdehnten. Nach seiner Rückkehr konnte er de Graff kabeln, daß eine zweite Sendung Bohnen abgehen könne.

Während diese Sendung unterwegs war, wurden auf dem linken Weserufer die Fundamente zu einem großen Warenschuppen gelegt. Der Bau wuchs in schnellem Tempo. Hamerling ging mit verkniffenen Augen darin umher und hatte seine Bedenken: »Ein Fernrohr wäre 250 gut, damit man die Säcke wieder finden kann, wenn sie eingelagert werden.«

»Spotten Sie nur«, lachte Eberhardt. »Eines Tages werden Sie sich die Haare raufen und nach Platz schreien.«

»Wenn ich dann nicht so alt bin, daß es da nichts mehr zu raufen gibt.«

Hinter seiner kessen Art steckte aber nichts als eine aufrichtige Anteilnahme an diesen neuen Unternehmungen. Er war immer darauf aus, von anderen zu erfahren, wie man über die neue Firma dachte und wo es ein Geschäft zu machen gab. Alles überbrachte er seinem Chef. Aus allem wurde Nutzen gezogen, so weit es möglich war. Und diese Möglichkeit ergab sich oft genug.

Der erste Griff, der aus der kaum beachteten Existenz dieser Firma heraus geführt wurde, ergab sich aus einer Unterredung, die Hamerling bei einer nächtlichen Streife mit einem früheren Schulkameraden hatte. Am nächsten Morgen berichtete er darüber: »Die Reisstärkefabrik von Holtenkamp wackelt.«

Weiter sagte er nichts. Beide saßen da und überlegten angestrengt. Sie wußten, was für ein Weg hier gegeben war. »Wir liefern«, entschied Eberhardt.

Hamerling nickte. Er hatte es nicht anders erwartet. Er ging selbst, um den ersten Kontrakt abzuschließen. Er begegnete Mißtrauen. »Wir haben unsere alten Lieferanten«, wurde ihm gesagt. Er ließ sich nicht abweisen. »Wir wollen ins Geschäft kommen«, sagte er. »Wir liefern prompt und geben Ihnen Ziel. Das tun die anderen nicht, weil sie es nicht nötig haben.«

»Wie lange?«

»Gegen Akzept auf drei Monate.« 251

Das erste Geschäft kam zustande. Aber schon nach zwei Wochen kam Holtenkamp persönlich zu Eberhardt Melchior und erklärte: »Wir werden nicht in der Lage sein, Ihr Akzept aufzunehmen. Wir haben gehofft, es mit Ihrem Kredit schaffen zu können. Es geht aber nicht. Wir sind fertig.«

Es gab eine eingehende und peinliche Konferenz, die bis in die Abendstunden dauerte. Das Ergebnis wurde am nächsten Tage in notarieller Form bestätigt. Melchior regulierte alle Schulden der Firma, dafür wurde ihm die Fabrik samt Geschäft und Betrieb zu Eigentum übertragen. Holtenkamp blieb als technischer Leiter im Betriebe. Die kaufmännische Abteilung siedelte in die Langenstraße über. Sie figurierte dort unter der Bezeichnung: Abteilung R.

Hamerling wollte triumphieren, aber Eberhardt dämpfte: »Es ist nur für den Notfall, damit wir wissen, wo wir unseren Reis unterbringen können. Im übrigen muß die Produktion an Stärke binnen drei Monaten verdoppelt werden. Zu dem Zwecke wird der Preis gesenkt. Uns kann der Verdienst am Reis genügen.«

»Warum sollen wir nicht auch an der Stärke verdienen?«

»Das kommt, wenn unser Fabrikat erst besser eingeführt ist.«

So wurde es gehalten, und der große Warenschuppen sah nicht mehr so leer und einsam aus. Die ersten elektrischen Hebekräne wurden montiert. Ein Leichter wurde erstanden, der aus den einkommenden Schiffen übernahm und dann an das eigene Bollwerk fuhr. 252

»Der Beginn unserer Flotte«, spöttelte Hamerling. Aber Melchior antwortete ganz ernsthaft: »Jawohl«. Da wußte Hamerling, daß es wirklich nur der Anfang eines größeren Weges sei.

Die Monate liefen dahin und waren bis an den Rand mit fanatischer Arbeit ausgefüllt. Sie galt einstweilen nicht mehr der Verbreiterung, sondern der Festigung. Sie galt dem Ziel, das Mutter Ethel selber gesteckt hatte: dem Nachweis, daß das Unternehmen gedeihen könne.

Die erste Jahresbilanz mußte aufgestellt werden. Bis in die Nächte hinein wurden Bücher und Konten gewälzt und das Lager aufgenommen. Alles, was ein Jahr gewerkt und geschafft hatte, stand nun vor der Prüfung der nüchternen, unbestechlichen Zahl. Der Bücherrevisor erwog, verwarf, setzte Reserven ein, wog noch einmal ab und rechnete, machte Abstriche und Abschreibungen, sicherte alles mit doppeltem Anker und zog endlich den großen Strich unter das Soll und Haben, unter die Gewinn- und Verlustrechnung.

Eberhardt erschien ruhig wie immer. Aber seine Gedanken arbeiteten wild. Er, er allein wußte, um was es hier ging. Es handelte sich nicht um Verdienen und um das Reichwerden. Es ging um eine Form der Existenz. Um den Ring, der um sein Dasein gezogen werden sollte. Merkwürdig, daß schon vor Jahren, als er noch im Kampf mit seinen menschlichen Möglichkeiten lag, dieser Begriff aufgetaucht war. Aber wie anders jetzt. Dieser Ring war nicht mehr um eine Gruppe von Menschen gezogen und sollte nicht mehr das Widerstrebende von vielen einordnen. Er sollte ihn und seinen Willen und seine eigenen Möglichkeiten umreißen. Er sollte ihm beweisen, was er 253 galt. Er hatte sich einmal darnach gesehnt, daß ein Erlebnis kommen und in das stehende Gewässer seines Daseins einen Stein werfen möchte, damit es in Bewegung geriet und Kreise zog. Jetzt war es so weit . . .

Aber dieses Warten überstieg seine Kräfte. »Wann sind Sie fertig?« fragte er den Bücherrevisor.

Der sah über die Brille: »Vielleicht um neun Uhr.«

Eberhardt nahm seinen Hut. »Ich komme dann wieder.« Und zu Hamerling gewendet: »Ich mache eine Besorgung.«

»Ich auch. Das kann ja kein Mensch aushalten!« rief er plötzlich. »Bis neun will diese Brillenschlange an seinen Ziffern herumkauen. Bis dahin bin ich dreimal verrückt und wieder gesund.«

Sie gingen zusammen. Sie schlugen ein Tempo ein, als gälte es, mit aller Beschleunigung an einen bestimmten Ort zu kommen. Und ehe sie sich versahen, standen sie vor dem Warenschuppen. Der Krahn ragte mit seinem Maste wie ein hilfloser Arm in die Dunkelheit. An dem Bollwerk rieb sich sachte der Leichter in der aufkommenden Flut. Aus der Hütte des Nachtwächters kam Licht. Ein Hund schlug an. Undeutliche Geräusche kamen daher und verhallten stumpf und ohne Echo. Sie stiegen in den Schuppen und gingen planlos an den Ballen und Säcken vorbei. Eine Sackkarre stand im Wege. Eberhardt schob sie sorgfältig beiseite. Dann machte er sich an der Dezimalwage zu schaffen und versuchte, ob sie genau eingespielt war. »Sie stimmt«, sagte er befriedigt. Hamerling bestätigte es: »Sie ist neu geaicht.« »Daher, daher . . .«, meinte Eberhardt. »Das ist ja sehr schön . . .«

Sie gingen wieder fort; nach der Stadt zu; fiebernd, 254 gerüttelt. Zuweilen stöhnte einer von ihnen. Aber sie sprachen nur von der Dezimalwage.

Als sie das Kontor betraten, war der Bücherrevisor gerade mit seiner Prüfung fertig. Umständlich und pedantisch erläuterte er alle Zahlen und gab hier und da Rechtfertigungen für eine Buchung. »Im Ergebnis«, sagte er, »kann ich Ihnen nur gratulieren. Unter Berücksichtigung aller Abschreibungen und Reserven ist ihr Vermögen in diesem einen Jahre um fünfzig vom Hundert gewachsen. Ein ganz passabler Anfang.«

Eberhardt schwieg, die Lippen zusammengepreßt. Aber Hamerling sagte kaltblütig: »Na ja, das kommt uns auch zu. Für die Schufterei . . .«

»Immerhin«, meinte der Revisor.

»Ach was, immerhin. Es kommt uns zu. Basta.«

Die Nacht verging für Eberhardt Melchior ohne Schlaf. Er stand endlich auf, weil er dieses rastlose Wälzen nicht mehr ertrug. Während er sich ankleidete, sah er in den Spiegel und verfiel der blitzartigen Vorstellung, das Gesicht seines Vaters sehe ihn aus diesem Spiegel an. Er ging näher hinzu und betrachtete sich aufmerksam und . . . erschrocken. Das war er? So sahen seine Züge aus, wenn er sie nicht unter das Gleichmaß des Alltags zwang? Das schien nicht Hermann Melchiors Gesicht, das war sein Gesicht. Zwar noch ohne die Schärfe der Runen und Runzeln, noch ohne die geglättete Härte und die polierte Starrheit. Aber im Raum und Gefüge war alles schon angedeutet und vorhanden. Es brauchte nur noch Zeit zu vergehen, Zeit . . .

Es tat weh, das zu wissen. Wenn schon ein Jahr sich so tief einätzte, wie erst die Folge von Jahren? Trennte 255 er sich von den Seinigen, nur um ihnen mit Riesenschritten ähnlicher und gleicher zu werden?

In seiner Bedrängnis sehnte er sich nach irgendeinem Wesen, das ihm Trost geben könnte, nach einer Hand, die streichelte und ein wenig vergessen ließ. Ohne sich weiter zu bedenken, ganz seinem Instinkt und Suchen ausgeliefert, nahm er einen Briefbogen und schrieb an Grit Kuvell. Schon nach den ersten Zeile hatte er das Gefühl, es löse sich die Starrheit der Angst und Bedrängnis. Er schrieb Seite auf Seite, hemmungslos und ohne Vorbehalt. Er berichtete und klagte, er ließ Erinnerungen aufstehen, er stellte Fragen, er machte Wege wieder lebendig, die sie einmal zusammen gegangen waren. Er fand wieder Heiterkeiten und die Hoffnung, es werde nicht immer so bleiben müssen wie in diesen verkrampften Monaten des Anfangs. Er schrieb, bis es vor dem Fenster morgendlich graute. Dann sah er still lächelnd diesen Haufen von Briefbogen an . . . und vernichtete sie. Aber da alles aus seinem Herzen gesagt war, blieb es in seinem Herzen und wuchs dort weiter.

Am nächsten Morgen begab er sich mit einer beglaubigten Abschrift der Bilanz zu seinem Vater und legte sie ihm vor. Hermann Melchior prüfte sie flüchtig und gab sie zurück. »Es scheint ein beachtenswerter Erfolg zu sein. Ich bin der letzte, der das nicht anerkennen würde. Du wirst also vermutlich jetzt die zweite Hälfte deines Erbteils fordern.«

»Ja.«

»Ich habe das Geld bereitgehalten, weil ich damit rechnete. Der Markt ist flau, was?« 256

»Es geht. Ich habe über Absatz nicht zu klagen. Er ist nicht groß, aber er läßt sich an.«

»Für euch«, sagte Hermann Melchior vorsichtig, »wird es sich auf die Länge doch wohl bemerkbar machen, daß wir keine Kolonien mehr haben.«

»Ich bin nicht davon überzeugt«, erwog Eberhardt, »daß man früher einen idealen Gebrauch davon gemacht hat. Immerhin gibt es noch ein anderes Rezept: wenn man keine Kolonien hat, kauft man sich welche.«

Der Vater unterdrückte ein Lächeln: »Willst du dafür dein gutes Geld anlegen?«

Der Sohn ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Ich will es jedenfalls in Bereitschaft haben. Es genügt mir nicht, nur den Umsatz zu vergrößern. Es gibt noch andere Möglichkeiten.«

Alles das war in einer verhaltenen, durch Umgangsformen gebändigten Spannung gesagt und geantwortet. Beide hatten das Gefühl, daß es jetzt genug sei, und so trennten sie sich mit einem leisen Mißbehagen.

Hamerling wußte um diesen Besuch. Er kam aufgeregt in das Privatkontor: »Alles glatt gegangen?«

»Das Geld ist da.«

»Was machen wir damit?«

»Vorläufig nichts. Wir müssen es in Reserve halten. Sonst was Neues?«

»Kabel von de Graff. Er kann jetzt nicht liefern, weil er Streik hat.«

Eberhardt schlug mit der Hand auf den Tisch: »Das habe ich ihm schon vor Jahren gesagt. Jetzt ist es so weit. Wenn da unten ein Streik auch nur vier Wochen dauert, ist die Ernte hin und der Pflanzer kaputt.« 257

»Und man kauft ihn auf«, sagte Hamerling ruhig.

Eberhardt starrte ihn an. »Mensch, woher haben Sie das? Wer hat Ihnen solche Dinge gesagt?«

»Mein bißchen Gehirn. Sie haben mir doch erzählt, wie es da unten hergeht. Und da habe ich mir gleich gedacht: das geht auf die Dauer nicht gut. Vor allem fehlt den Leuten die deutsche Ordnung und Organisation.«

»Na«, meinte Eberhardt, »im Kolonisieren sind uns die Holländer immerhin um einige Jahre voraus. Allerdings ist das ihr einziger Vorsprung. Im übrigen können sie ihre Leute ebensowenig behandeln, wie wir unsere haben behandeln können. Hätte man sie uns nicht weggenommen, ständen wir heute wahrscheinlich da, wo sie jetzt stehen, nämlich bei der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus der Farbigen.«

Hamerling wollte sich ausschütten vor Lachen. »Sozialismus der Farbigen? Gibt's so was denn? Sie sind wohl ein bißchen links?«

»Ich habe gar nichts mit Politik zu tun. Ich rechne nur mit ihr, wie weit sie mir nützlich oder schädlich sein kann.«

»Na, wissen Sie, das geht doch eigentlich mehr den Produzenten an als den Händler. So viel wird das Volk immer verdienen, daß es sich unsere Waren kaufen kann.«

»Aber eines Tages«, sagte Eberhardt bedeutsam, »werden wir auch Produzenten sein.«

»Aus der Ecke pfeift der Wind«, dachte Hamerling und schwieg.

Wenige Tage nach dem Kabel kam ein ausführlicher Brief von de Graff, der an Eberhardt persönlich gerichtet war. Er las ihn mit äußerster Aufmerksamkeit. 258

»Lieber Freund Melchior, wenn ein Mensch wie ich Zeit findet, zu einem längeren Briefe auszuholen, dann muß schon etwas geschehen sein, was ihm Zeit dazu läßt. Früher gab es da nur zwei Möglichkeiten. Entweder man war krank oder man hatte sich in das Privatleben zurückgezogen. Heute gibt es eine dritte Möglichkeit, von der wir wohl einmal gesprochen haben, aber die ich nie ernsthaft genommen habe. In meinen Pflanzungen wird gestreikt!

Eigentlich kann man nicht sagen: Streik. Man könnte besser sagen: Boykott. Angefangen hat es mit dem Warenschuppen. Die Eingeborenen und Arbeiter haben immer weniger gekauft. Der Absatz war einfach lächerlich klein. Er war zum Schluß nur noch so aufrechtzuerhalten, daß ich einen Teil, wenn auch nur einen geringen Teil des Lohnes durch Produkte aus meinem Verkaufsschuppen abgalt. Ich vermute heute, daß das der Anfang vom Ende gewesen ist. Neue Kunden kamen überhaupt nicht. Die Arbeiter, die Ware nehmen mußten, mäkelten unaufhörlich an der Ware herum. Nichts paßte ihnen. Auch mit Gewalt war nichts zu machen. Sie erklärten: wir kaufen, aber nur das, was wir brauchen können.

Es war, als ob sie sich verschworen hätten. Schlahmann kam zuerst auf den Gedanken, ihnen das Handwerk zu legen. Er ließ von allen denkbaren Waren Muster kommen und sagte: So, nun seht euch das an. Was euch gefällt, das bestellen wir. Und es gefiel ihnen manches, und gerade das Beste und Teuerste. Wir schafften es an, um Ruhe zu haben. Aber es gab keine Ruhe. Jetzt waren sie mit den Preisen nicht einverstanden. Aber was soll man machen? Gute Waren sind eben teuer. Ich zog vom 259 Lohn ab, was ich bei geringem Nutzen an der Ware abziehen mußte, und gab ihnen den Rest.

Und dann ging alles seinen Gang weiter. Eigentlich ging es ganz ordentlich zu. Es wurden mir einige Arbeitsverträge gekündigt. Sehr viel machte es im Anfang nicht aus. Aber dann wurden es doch immer mehr, die kündigten. Wir hatten Mühe, die Arbeiten zu bewältigen, die zum laufenden Betriebe gehören. Die, die uns noch von früher her Geld schuldeten, konnten ja nicht so einfach davonlaufen. Für sie und den Rest, der noch nicht gekündigt hatte, habe ich ein neues Akkordsystem eingeführt, um den Ausfall an Arbeit auszugleichen. Aber es hat nichts genützt. Sie schafften nicht mehr als sonst. Es war eine Resistenz, gegen die nicht aufzukommen war. Und mit einem Male war es so weit, daß selbst die, die mir noch abzahlen mußten, eines Tages Geld hatten, um mich zu bezahlen. Bares Geld! Ich habe die Herkunft dieses Geldes nicht ermitteln können. Es war eben da, und mit dem gleichen Augenblick wurden mir unzählige Verträge gekündigt.

Auch von einer Organisation war nichts zu entdecken. Ich habe mich an die Regierung gewandt und Arbeiter und militärischen Schutz verlangt. Ich bekam beides. Aber bald hatte die Miliz nichts mehr zu schützen, weil die neuen Arbeiter über Nacht verschwanden. Es blieb eine Rotte von Europäern da. Sie wissen, daß man mit ihnen nicht arbeiten kann. Sie können die Arbeit nicht leisten.

So ist alles seinen Weg gegangen. Was ich in einem Menschenalter aufgebaut habe, ist so gut wie vernichtet. Was aus der Ernte dieses Jahres wird, mag der Himmel wissen. Ich halte sie für erledigt. Was auf Lager liegt, 260 ist als Reserve nötig. Ich schreibe Ihnen das, weil ich von Ihnen wohl am ersten Verständnis erwarten und Sie bitten kann, mich von unserem Kontrakt zu befreien. Ich bin nicht in der Lage, mich einzudecken, wenn Sie Lieferung verlangen würden. Ich habe jeden Pfennig in die Vergrößerung und Verbesserung meines Betriebes gesteckt. Ich besitze kein bares Geld. Ich werde in diesen Tagen nach Rotterdam reisen, um dort Kreditverhandlungen aufzunehmen. Noch steht mir aber der schwerere Teil bevor: mit den Arbeitern ein neues Abkommen zu treffen. Ich weiß noch nicht, ob es gelingen wird.

Meine Antje läßt sie grüßen. Auch von Familie Kuvell füge ich einen Gruß bei. Er hat das bessere Teil gewählt, weil er Reserven hat; dafür aber Land, das noch nicht in Kultur ist.

Ich hoffe, wir werden eines Tages unsere Geschäfte wieder aufnehmen können. In diesem Sinne

Ihr getreuer Pieter de Graff.«

Eberhardt legte den Brief beiseite, nahm einen großen Bogen und rechnete. Er verbrachte einen ganzen Nachmittag damit. Gegen Abend rief er nach Hamerling.

»Bitte, lesen Sie diesen Brief, bis: ob es gelingen wird. Das andere geht Sie nichts an.«

Hamerling las. Sein Gesicht war, wir immer, in ständiger Bewegung. Bald kniff er die Augen ein, oder zog die Augenbrauen hoch, oder grinste oder senkte verächtlich die Mundwinkel. Die reine Landkarte, dachte Eberhardt. Aber er ließ sich nichts von diesen Äußerungen des Gesichts entgehen. Er las darin, und las bald seine eigenen Gedanken. 261

Hamerling legte den Brief beiseite, sah vor sich hin und entdeckte auf dem Schreibtisch den großen Bogen mit Zahlen. Er nahm ihn mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit auf und überprüfte ihn. Er wies auf eine Zahl: »Was ist das?«

»Staatsabgaben.«

»So, so.« Dann nahm er selber einen Bogen, schrieb etwas darauf und legte ihn vor Eberhardt hin. Er las: »de Graff, Paramaribo. Stornierung unmöglich wegen eigener Verpflichtungen. Nachfrist zur Abladung eine Woche. Emel.«

Eberhardt schüttelte den Kopf und korrigierte: »Stornierung ohne Rücksprache unmöglich. Drahtet Ankunft Rotterdam.«

»Klingt vornehmer«, sagte Hamerling. »Bleibt aber im Grunde dasselbe.«

»Hoffen wir.«

»Er wird finanziert?«

»Unter allen Umständen.«

»Wird er annehmen?«

»Er muß. Ich storniere nicht. Die Kontrakte sind groß. Im Ernstfalle rufe ich ab. Ist Geschäft.«

»Im übrigen wie bei Holtenkamp?«

»Genau so.«

»Abteilung K wird eingerichtet?«

»Wird eingerichtet.«

Sie hockten die ganze Nacht zusammen, sprachen leise, duckten sich unter der Last ihrer Gedanken wie Verschwörer, rechneten, kalkulierten, wägten ab. Endlich kamen Hamerlings letzte Bedenken: »Wenn de Graff an der Arbeiterfrage gescheitert ist . . .?« 262

»Seine Schuld. Ich kenne die Gestehungskosten genau. Sie sehen es ja. Man kann mehr Lohn zahlen, bessere Arbeitsbedingungen zulassen. Es wird noch genug verdient. Vor allem weg mit dem Verkaufsschuppen. Und dann: Produktion und Konsum in einer Hand. Das erlaubt doppelte Preissenkung. In sechs Wochen haben wir die ersten eigenen Pflanzungen.«

Sie standen auf und gingen übermüdet durch die Straßen. Die letzten weinseligen Gäste kamen aus dem Ratskeller. Sie wichen aus, überquerten den Marktplatz und gingen zur Weser. Sie standen über das Brückengeländer gelehnt und sahen in das dunkle Wasser. Es schäumte gegen die Pfeiler. Toplichter spiegelten sich hier und da. Über der Kaiserbrücke standen die grellen Bogenlampen. Dazwischen verlief die Schlachte, und dort rechts lag ein großes Kontorhaus. Zu solcher Stunde hatte er einmal . . .

Er wandte sich mit einem Ruck um. »Kommen Sie, Hamerling. Vielleicht ist noch ein Lokal offen.«

»Nanu? Leichtsinnige Gedanken?«

Eberhardt packte seine Schultern: »Kennen Sie das, wenn man einmal im Leben etwas getan hat, an das man nie mehr denken kann, ohne vor Scham und Entsetzen halb irrsinnig zu werden?«

»Kenne ich«, sagte Hamerling. »Oder besser: habe ich gekannt. Seit einem Jahre kenne ich es nicht mehr.«

»Gerade seit einem Jahre? Soll das heißen, seit Sie bei mir sind?«

»Soll es heißen.«

»Also scheinbar Lehrgeld. Und wie heißt die Lehre?«

Hamerling stellte sich breit hin und sagte: »Nichts, was 263 geschieht, ist zwecklos. Eines Tages stellt sich heraus, wofür es gut war. Jede Tat, wie sie auch aussehen mag, hat ihren Sinn und ihre Bestimmung. Sie steht in der Reserve. Wenn man einmal das Gewinn- und Verlustkonto aufmacht, tritt sie in die Erscheinung.«

»Sagen Sie mal, Hamerling, möchten Sie bei mir Prokurist werden?«

»Nein. Noch nicht. Es hat keinen Zweck, daß man nach außen zu früh demonstriert und die Karten aufdeckt. Wenn wir einmal groß sind, werde ich von Ihnen verlangen, daß Sie mir Prokura erteilen.« 264

 


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