Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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3. Kapitel.

Der Sonntag, der auf den Ausflug nach den Badener Bergen folgte, war windig und regnerisch. Er war für Fahrten in das Freie nicht geeignet. Er verwies die Menschen auf Haus und Wohnung, als wäre es schon Herbst.

An diesem Tage fanden an zwei entgegengesetzten Teilen der Stadt Besprechungen statt, die, wenn sie auch für Eberhardt keine neue Lage schufen, doch den augenblicklichen Zustand aufhellten. Es verschlug nichts, daß er von beiden Gesprächen nichts erfuhr.

Die eine Besprechung fand in der Morgenlandstraße statt, in einer sauberen, gepflegten Wohnküche. Am Tische saß der Werkmeister Albert Krämer. Er hatte seine große Brille aufgesetzt und las in der »Volkswacht«. Otto Krämer saß am Fenster und las in einer Broschüre, die einen grell gelben Umschlag hatte.

Zuweilen knitterte ein Blatt der Broschüre, raschelte eine Seite der Zeitung. Die Regentropfen zogen ihre Spuren über das Fenster, das zur Hälfte mit Buntpapier beklebt war.

Albert Krämer faltete seine Zeitung zusammen, legte umständlich die Brille in das Futteral und reckte sich. Ein Sommernachmittag, an dem er nicht auf seiner Parzelle arbeiten konnte, machte ihn mißmutig und lieferte ihn Gedanken aus, die er sich sonst sorgfältig fern hielt. Diese 66 Gedanken hatten immer die gleiche Straße und die gleiche Richtung: wie sorgt man für sein Alter und warum muß man für sein Alter sorgen? Noch heute trug er es seinen Eltern nach, daß sie ihm die Laufbahn eines Beamten verweigert hatten. Das war der Beruf, der seinem Wesen am nächsten lag. Aber die Eltern hatten darauf bestanden, daß er nicht mehr werde als sie selbst: Arbeiter. Und alles, was er als Arbeiter hatte erreichen können, war der Posten eines Werkmeisters auf der Norddeutschen Hütte. Dabei war das, was seine Eltern »Klassenbewußtsein« nannten, nur sehr gering in ihm entwickelt. Er hielt es mit der Strebsamkeit und mit den Mächtigen der Erde. Er wehrte sich verzweifelt gegen die Versuche seiner Kollegen, ihn zum Vorsitzenden des Betriebsrates zu wählen. Der Posten war ihm zu bedenklich und exponiert. Er legte keinen Wert darauf, sich die gute Meinung der Chefs zu verderben.

Er gähnte und fragte zu Otto hinüber: »Was liest du da?«

»Programm der Volkshochschule.«

»Ist das wieder was Sozialistisches?« fragte der Vater argwöhnisch.

»Weil das Wort ›Volk‹ darin vorkommt? Beruhige dich. Die Sache ist ganz unpolitisch. Es ist mir aber, offen gesagt, gleich, wo ich etwas lernen kann. Wenn es eine sozialistische Einrichtung wäre, ginge ich ebenso gerne hin.«

»Sag' das nicht«, warnte der Alte. »Es ist ja sehr schön, daß du viel lernst. Aber alle diese politischen Dinge machen so einseitig.«

Otto lächelte: »Wollen wir uns wieder darum streiten? 67 Du meinst ja etwas ganz anderes. Du willst sagen: gib dich nicht mit den Sozis ab. Das könnte dir in deiner Karriere schaden, denn die hohen Herren sehen solche Dinge nicht gerne.«

»Respekt vor Eltern kennt ihr nicht mehr«, brummte der Alte. »Aber gut; wenn ich das meine, dann ist es richtig gemeint. Was hast du denn von diesen Leuten? Was können sie dir helfen? Die Kaufleute lieben so etwas nicht, weil sie es nicht gebrauchen können. Du hast doch Ehrgeiz. Wenn du keinen hättest, wärst du Arbeiter geworden wie ich. Aber du bist Kaufmann geworden.«

»Das stimmt alles nicht, Vater. Ich bin kein Kaufmann, sondern kaufmännischer Angestellter. Und dann habe nicht ich die Wahl getroffen, sondern du.«

»Dafür solltest du Gott auf den Knien danken. Was hat denn unsereins? Man lebt von der Hand in den Mund. Wenn ich nicht wüßte, daß ich bei der Hütte in der Pensionskasse wäre, hätte das ganze Arbeiten keinen Sinn mehr. Aber du kannst mehr werden. Wenn du dir Mühe gibst, bist du eines Tages Kaufmann.«

»Wie denkst du dir das eigentlich, Vater? Soll ich einen Laden aufmachen und Reis und Grütze verkaufen?«

»Ich habe Kaufmann gesagt, und nicht Krämer.«

»Schön. Soll ich mir einen Großhandel mit Kontor und Überseebeziehungen zulegen? Wovon? Womit?«

»Es sind nicht alle groß angefangen. Viele, die heute Millionäre sind, sind einmal ganz klein gewesen. Man sagt, einer wäre Laufbursche gewesen. Und ein anderer hätte einen kleinen Kramladen gehabt.«

»Weiß ich alles, und es ist vielleicht sogar einmal wahr 68 gewesen. Aber heute ist so etwas eine Geschichte für Lesebücher. So etwas kommt nicht mehr vor.«

»So?« empörte sich der Alte. »Das gilt wohl nichts mehr, wenn einer tüchtig und strebsam ist und einen klaren Kopf und gute Gedanken hat?«

»Das gilt nichts mehr«, sagte Otto bestimmt. »Und wenn es etwas gilt, dann nur als Ware, die man an einen Großkaufmann gegen Gehalt verkaufen kann. Du siehst die Dinge noch wie vor fünfzig Jahren. Heute ist Bremen mit seiner Kaufmannschaft gesättigt. Daneben kann keiner mehr groß werden. Wer es wird, der hat eine alte Familie oder altes Geld hinter sich.«

»Es gibt noch einen Aufstieg . . .«

»Nein, sag' ich dir. Es kommt keiner mehr aus dem Grunde in die Höhe. Du hast es doch erlebt in den Jahren nach dem Kriege. Da sind einige hochgesprungen wie die Fische im Sommer. Aber sie sind alle wieder ins Wasser zurückgefallen. Sie sind wieder ganz klein geworden. Es ist möglich, daß sie einen Batzen Geld aus dem Zusammenbruch gerettet haben. Aber von der eigentlichen Bildfläche sind sie verschwunden.«

»Wenn man dich so hört . . .«

»Ich weiß schon: dann könnte man verzweifeln. Wir vielleicht; die anderen nicht. Die alten Firmen gehen in die Breite und erobern sich eine Position nach der anderen. Hier und da bleibt eine Lücke, die einer ausfüllen kann. Man läßt ihn am Leben, weil er ein wichtiges Zwischenglied ist. Aber mehr duldet man nicht.«

Der Alte grollte: »Weiß der Teufel, wo du dir alle diese Weisheiten zusammenholst. Bremen ist eine Stadt, die noch wächst . . .« 69

»Laß dir gesagt sein, Vater, sie wächst nicht. Nicht mehr. Sie kann Geld und Ware, vielleicht auch Kultur stapeln und diese und jene Industrie hinzu bekommen. Das ist alles. Der Teig ist fertig geknetet. Aber er geht nicht mehr auf. Es fehlt die Hefe dafür.«

»Was meinst du mit Hefe?«

»Die Juden meine ich.«

»Gott soll uns bewahren!« rief Albert Krämer entsetzt.

»Amen«, fügte der Sohn trocken hinzu. »Warum ist Hamburg größer geworden als Bremen? Nicht nur, weil es näher am Meere liegt.«

»Komm mir nicht damit. Ich bin oft genug in Hamburg gewesen, und ich habe auch Augen zum Sehen. Wenn du hier über die Straßen gehst und in Hamburg . . . das ist, weiß Gott, ein Unterschied.«

»Ich gebe dir zu: Hamburg hat ein anderes Gesicht bekommen. Es ist eine Weltstadt geworden. Bremen ist . . . nun: ist Bremen geblieben. Es würde weniger ruhig, weniger vornehm und weniger gleichmäßig sein. Aber es würde bestimmt größer und lebendiger sein.«

»Das sind alles Mätzchen«, wehrte der Alte ab. »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten. Ich dachte schon so in meinem Sinn, es wäre eigentlich recht klug von dir, daß du dich an den jungen Melchior heranmachst.«

Otto machte große Augen: »Heranmachst? Wie kommst du darauf? Ich habe seinen Umgang nicht gesucht. Es hat sich ganz von selbst entwickelt. Ich betrachte das als etwas rein Freundschaftliches; fast möchte ich sagen: Menschliches. Und darum möchte ich nicht darüber sprechen.« 70

»Das sind Zimperlichkeiten. Du weißt gar nicht, wie er dir eines Tages nützen kann.«

Otto stand langsam auf und stellte sich an das Fenster. »Er wird mir nicht nützen«, sagte er ernst. »Er ist ein junger Mensch, der noch innerlich ganz lebendig und voll schöner Eigenschaften ist. Laß fünf oder zehn Jahre ins Land gehen, dann wird er sein wie die anderen. Es ist möglich, daß er mich dann nicht mehr kennt. Und ich werde es ihm nicht mit einem einzigen Worte nachtragen.«

»Einen schönen Charakter hast du«, schimpfte Albert Krämer. »Wenn du schon jetzt weißt, was dir blüht, warum dann dieser ganze Kram, diese Lauferei und Briefschreiberei?«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« fragte Otto gelassen zurück. »Ich habe ihn gerne, weil er ein reiner, sauberer Mensch ist. Er ist ganz unverbraucht und unverdorben. Es stecken ungeheure Fähigkeiten in ihm, die noch brach liegen. Alles das geht mich menschlich an. Alles andere . . . geht mich nichts an. Und ich möchte nicht, daß wir darüber reden. Das ist meine Privatsache. Ausschließlich.« Er schlug erregt gegen die Stuhllehne: »Ganz ausschließlich!«

Der Alte schwieg verärgert; er wagte nicht, sich der Überlegenheit seines Sohnes zu widersetzen. Er brummte nur vor sich hin: »Das hat man davon, wenn man die Kinder mehr werden läßt, als man selber ist.«

Otto trat zu ihm hin und faßte seine Schultern: »Bin ich schlecht zu dir? Habe ich jemals etwas getan, was ich nicht vor dir verantworten könnte?«

Der Alte strich sich den Bart und war leicht gerührt: »Laß man gut sein. Davon hab' ich ja nichts gesagt.« 71

Sie schwiegen. Nach einer Weile sah Albert Krämer auf und sagte wie beiläufig: »Weißt du, wo Lisbeth ist?«

»Wahrscheinlich in ihrem dramatischen Verein.«

»So so. Ich dachte . . .« Er schwieg und lauerte. Aber Otto antwortete nicht. Da forschte er weiter: »Sie hat gestern abend so einen dicken Brief bekommen.« Wieder keine Antwort. Dann ein neuer Versuch: »Weißt du, von wem?«

»Wenn Lisbeth es nicht für notwendig gefunden hat, es dir zu sagen, dann . . .«

»Dann steckst du mit ihr durch!« schrie der Alte.

Otto erhob sich. »Die Sache wird mir zu ungemütlich. Ich gehe etwas spazieren.«

»Ja, wenn es brenzlich wird, dann kneifst du aus.«

»Brenzlich? Ich habe nur keine Lust, über Dinge zu reden, die mich nichts angehen. Natürlich weiß du so gut wie ich, daß Lisbeth mit Eberhardt Melchior zusammen ist. Das ist ihre Sache. Sie sind beide schnell Freunde geworden. Und ich freue mich darüber. Es ist für beide gut. Und man soll nicht daran herumschnüffeln.«

»Na ja«, seufzte Albert Krämer, »wer weiß, wofür es gut ist.«

Otto schüttelte den Kopf, warf seinen Regenmantel um und ging, ohne ein Wort zu sagen, fort. – – – – –

Zur gleichen Zeit fand in dem Hause an der Contrescarpe das zweite Gespräch statt.

Obgleich es Sommer war, brannten einige Holzscheite in dem Kamin des Teesaales. Ethel Melchior hatte ein langes Spitzentuch über die Schultern gelegt, saß schmal und versunken in einem großen Holzsessel und zitterte hin und wieder wie unter einem herbstlichen Frösteln. 72

Es schlug vier Uhr. Beta kam vom Wintergarten her mit dem Teewagen und schob ihn vor den Kamin. Drei Kännchen standen darauf; eines mit Tee für Ethel; eines mit Kaffee für Hermann Melchior, und eines mit Malzkaffee für Jungfer Metta. So hielt jeder an der kleinen Gewohnheit von früher her fest.

Jungfer Metta kam langsam und mühselig heran. Die feuchten Tage belästigten sie sehr und nahmen ihr selbst die Lust zu den wenigen Worten, die sie sonst sprach. Aber dafür waren ihre Augen um so aufmerksamer und beweglicher. Ihr entging nichts; weder der verhaltene Zug des Leidens in Ethels Gesicht noch die Müdigkeit und Überanstrengung, die aus ihres Neffen Zügen sprach.

Hermann Melchior kam aus seinem Kabinett und setzte sich Ethel gegenüber. »Hast du etwas geschlafen?« fragte er besorgt.

»Ich bin nicht müde. Mich machen nur diese Regentage mitten im Sommer so matt und unlustig.«

»Doktor Hoffman meint auch, du solltest verreisen. Wie wäre es mit Meran?«

»Ich möchte jetzt nicht«, wehrte sie ab. »Eberhardt wird jetzt keine Ferien bekommen, wo er gerade seinen Dienst angetreten hat. Und ohne ihn möchte ich nicht fort. Vielleicht gehe ich im Winter acht Tage mit ihm in den Harz.«

Melchior sah auf die Uhr: »Wo steckt der Junge denn?«

»Er hat sich für heute nachmittag entschuldigt. Er will einen Spaziergang machen.«

»Er fängt an, ein seltener Gast im Hause zu werden«, sagte Melchior unwillig. »Ich will ihm gerne jede 73 Freiheit lassen, aber ich wünsche keinesfalls, daß das Familienleben darunter leidet.«

»Er ist die ganze Woche im Geschäft«, nahm sie ihn in Schutz.

»Ich auch. Aber er hat die Abende frei und den Sonnabendnachmittag und den Sonntagvormittag. Da kann er sich genügend mit anderen Dingen beschäftigen. Meinetwegen auch mit anderen Menschen.«

Ethel fügte sich mit einem Seufzer: »Gewiß. Ich will es ihm sagen.«

Hermann Melchior fuhr sich über das Haar: »Ich habe jetzt leider wenig Zeit, mich um ihn zu kümmern. Ich werde wahrscheinlich übermorgen für zwei Wochen nach Berlin fahren müssen und von dort aus nach Amsterdam. Ich möchte dich bitten, in der Zwischenzeit etwas auf ihn zu achten.«

Sie hob den Kopf: »Hast du besondere Gründe dafür?«

»Eigentlich nicht. Ich habe nur das unbestimmte Gefühl, man müsse bei ihm aufmerksam sein. Ich kann dir nicht sagen, woran das liegt. Ich habe noch vorgestern mit Steding über ihn gesprochen. Er hat dasselbe Gefühl wie ich. Eberhardt ist eifrig und tüchtig. Er lernt alles spielend leicht, so daß Steding ihn von nächster Woche an schon mit Korrespondenz beschäftigen will. Aber weißt du, was Steding sagt? Er hätte den Eindruck, daß der Junge alle an der Nase herumführte. Er kann es selbst nicht begründen. Er nennt ihn undurchsichtig. Wenn er noch wenigstens faul oder aufsässig wäre oder dumme Streiche machte; irgend etwas, woran man ihn packen könnte. Aber man sieht wirklich nicht, was er eigentlich 74 tut und treibt und denkt. Es ist so, als ob es ein ganz fremder Mensch wäre . . .«

»Wundert dich das, Hermann?«

Er war maßlos erstaunt: »Du findest das natürlich?«

»Ja. Ich denke jetzt öfter darüber nach, weil mir immer so ist, als hätte ich ihn jetzt schon weggegeben . . .«

»Wir müssen alle einmal unsere Kinder weggeben«, warf er ein.

»Ja, aber es ist doch anders. Mir ist so, als hätten wir unser Kind immer gehabt . . . und doch nie besessen. Wann haben wir denn eigentlich Einblick in die Seele unseres Jungen bekommen? Als er klein war, war er für uns alle nicht mehr als eine schöne Puppe, an der man seine Freude hatte und seine kleine Eitelkeit. Und jetzt, wo er nicht mehr Kind ist, da soll er mit einem Male ein Prunkstück werden, auf das ihr stolz sein könnt . . .«

Hermann stand auf: »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Ethel. Das sind Dinge, über die wir uns nie einigen werden . . . und wo meine Pflicht zur Erziehung einsetzt . . . und meine eigene Verantwortung. Ich gehe sehr mit dem Gedanken um, ihn sofort ins Ausland zu schicken, wenn er sein Jahr als Volontär erledigt hat.«

Sie wurde blaß: »Er ist noch so jung und unerfahren!«

»Um so eher muß er lernen, auf sich selbst angewiesen zu sein. Wir haben alle dieselbe Schule durchgemacht. Es ist kein Grund, mit ihm eine Ausnahme zu machen. Wir sind in einem ganz anderen Sinne jung gewesen als die Burschen von heute. Ich hoffe, du wirst dich meinen Absichten nicht widersetzen.«

»Wann hätte ich das je getan?« sagte sie wehmütig. »Und was hätte es genützt, wenn ich es getan hätte? Ich 75 klage nicht darüber. Ich weiß genau, was ich an Verantwortungen übernommen habe, als ich eine Melchior wurde. Aber zuweilen ist es schwer . . .«

Er ging stumm hinaus, den Kopf leicht nach vorne gebeugt, beschwert mit Gedanken, die er in das Gefüge seiner Welt nicht restlos einordnen konnte.

Ethel starrte in die verlöschenden Scheite und litt unsagbar unter dem Gefühl der Ohnmacht, ihrem Kinde so fern zu sein und ihm nicht helfen zu können. Die Mühe ihres Lebens war gewesen: sich einzufügen, sich einzuordnen, den Gang und Rhythmus der anderen nicht zu stören. Der Lohn der Mühe war diese Müdigkeit, die fröstelnde Kälte innen und außen; der Anhauch der ewigen Fremdheit . . . die starre Einsamkeit einer Schneewüste.

Sie verflocht in aufkeimender Bitterkeit die Hände. Da hörte sie plötzlich, vom überlauten Tone schmerzhaft angepackt, Jungfer Mettas Stimme: »Das versteht man alles erst, wenn man alt geworden ist.«

Ethel nickte still vor sich hin. Wenn man alt geworden ist . . . wenn das Blut alle Wildheit verloren hat . . . wenn die unerbittliche Vernunft das große Schweigen gebietet . . .

Eberhardt Melchior erfuhr nichts von diesen beiden Gesprächen. Zur gleichen Zeit stand er mit klopfendem Herzen am Ende der Hollerallee und wartete auf Lisbeth Krämer.

Als sie kam, war es ihm, als leuchteten alle Sonnen vom heiteren Himmel her. Trotz des Mantels erschien sie schlank und schmal und geschmeidig; hatte in ihren Bewegungen eine aufreizende Behendigkeit und Kühnheit. 76 Unter dem niedrigen Hut her spreizte sich eine widerspenstige Locke. Sie lächelte mit halb offenem Munde.

Er konnte nicht viel sagen. Er hatte nur Augen für das lebendige Gesicht und nur Ohren für diese warme Stimme. Er hatte sich so viele Dinge ausgedacht, die er mit ihr bereden wollte. Nun versank alles in einer erregt glückseligen Stummheit. Er nickte nur mit dem Kopfe zu einer Wegrichtung hin und fragte: »Wollen wir zur Munte?«

Sie war einverstanden. Sie gingen quer durch den Bürgerpark, an den lichten Rasenflächen vorbei und den dichten Parkwegen und den Wasserzügen mit den stillen, weißen Schwänen. Der letzte Regen sprühte vom vollen Laub der Bäume und tropfte durch die ausladenden Äste der Fichten und Tannen. Die Wege waren still und dufteten stark nach der Frische des Bodens. Geräusch entfernter Musik kam daher.

Während sie über den Ablauf der Woche berichtete und in liebevollem Vertrauen Rechenschaft gab über das geringste, was sie getan oder gedacht hatte, sammelte er Mut zu dem, was er ihr zu sagen hatte. Er wollte ein Geschenk ankündigen und fürchtete doch, damit zu demütigen. Sie hatte endlich ein Gefühl für seine Bedrücktheit und fragte: »Ist Ihnen etwas Unangenehmes passiert?«

Er lachte. »Nein. Mir steht etwas Angenehmes bevor. Aber ich weiß nicht, wie ich es loswerden soll.«

»Das ist ganz einfach. Sie machen die Augen zu, geben sich innerlich einen Stoß und kommandieren: Hoppla los!«

»Gut. So will ich es machen. Aber warten wir besser damit, bis wir in der Munte sitzen.«

»Muß ich denn dabei sein?« fragte sie erwartungsvoll. 77

»Ohne Sie geht es nicht.«

»Dann wollen wir laufen, denn ich kann mich nicht lange mit der Vorfreude aufhalten.«

Und sie begann tatsächlich zu laufen. Er mußte mitlaufen, ob er wollte oder nicht. »Ungewöhnlicher Spaziergang«, pustete er.

»Macht nichts. Links rechts – links rechts. Morgen habe ich keine Zeit für Dummheiten. Links rechts – links rechts. Ich habe die ganze Woche gesessen. Ich muß die überschüssige Kraft loswerden. Können Sie noch? Ich schaffe es bis Kuhsiel, wenn es sein muß. Machen Sie ein Gedicht darauf. Ein schönes, in dem dies Tempo vorkommt und dieses Wetter und diese ganze Unvernunft . . . Mein Gott, daß man keine Bäume ausreißen kann!«

»Waldfrevel wird bestraft. Der Landherr. Buff.«

Ihr Gesicht glühte: »Ich kümmere mich um kein Strafmandat der Welt. Ich lege keinen Wert darauf, nicht vorbestraft zu sein. Ich will . . .«

Sie verstummte und begann langsam zu gehen. Er lachte ihr ins Gesicht. »Was wollen Sie?«

Sie krampfte die Finger in seinen Arm und sah ihn aus bedrohlich funkelnden Augen an. Er erschrak ein wenig vor diesem Blick und wich zurück.

Sie wandte den Kopf. »Was ich will? Nichts. Vor allem will ich Sie nicht erschrecken. War ich zu toll? War ich ungezogen? Sie müssen es mir ruhig sagen, denn . . . denn zuweilen breche ich aus wie ein junges Füllen.«

Er nahm ihren Arm. »Lassen Sie sich nicht einreden, das wäre eine böse Eigenschaft. Das ist nur böse, wenn es die Alten ansehen. Kommt alles noch zur rechten Zeit. Alles noch viel zu früh. Sehen Sie, bei uns ist das so: 78 ein Jahr lang spielt man den Volontär und treibt Dinge, die man eigentlich schon weiß, weil man sie zu oft zu Hause gehört hat . . . und weil sie einem förmlich im Blute liegen. Man hat das geerbt, wie ein Schäferhund das Suchen geerbt hat. Und dieses eine Jahr läßt man uns toben . . . das heißt, wenn es keine bösen Folgen hat. Dann wird einem ein Paß in die Hand gedrückt und man kann sich im Ausland umsehen. Drei Jahre sind das Normale. Und wenn man wiederkommt . . .«

»Ein Jahr?« fragte sie. »Und dann fort . . . ins Ausland?«

»Das ist so die Regel.«

Sie blieb stehen. »Ein Jahr? Das sind noch knapp acht Monate. Und etwas über dreißig Sonntage. Wenn man drei mal die Hände abzählt . . . dann ist also alles vorbei und erledigt?«

Ihn überlief ein Zittern. Aus einer unbeschwerten Gegenwart wurde er plötzlich in eine ungewisse Zeit und Zukunft hineingerissen. Sein Erleben war stark, aber es ging einen langsamen Schritt. Jede Erkenntnis reifte schwer und mühsam wie die Ernten nach den bösen Wintern in seiner Heimat. Darum fehlte ihm die Vorstellung für das, was später sein würde, und das Erlebnis in die Zukunft hinein.

»So habe ich die Dinge noch nicht gesehen«, bekannte er leise. »Aber jetzt tut es mir weh, wenn ich an das Kommende denke.«

Sie riß ihn mit sich fort. »Ach, warum wollen wir schon jetzt daran denken? Es gibt so viele Möglichkeiten, die Zeit zu verlängern. Und vielleicht ist es ganz gut, daß wir wissen: nur ein Jahr. Dann vertut man seine Zeit 79 nicht. Dann . . . dann kann man sich . . . besser verschwenden.«

Sie gingen still weiter. Es lag ihm immer auf der Zunge, zu fragen: woher haben Sie solche Gedanken? Woher wissen Sie alle diese Dinge? Aber er fragte nicht. Entfernt hatte er eine Ahnung, es müsse solches Wissen und Denken wohl in dem Wesen des Weibes begründet liegen, in der Beweglichkeit und Schrankenlosigkeit ihrer Seele. –

Die Wiesen zur Seite der Munte lagen im feuchten Nebel, der träge dahinwellte. Das weite, niedere Land stand und ruhte wie in traurigmüden Gedanken.

»Munte eins oder Munte zwei?« fragte er. »In Munte zwei ist Tanzmusik.«

»Wenn es Ihnen recht ist, Munte eins. Ich mag jetzt keine Musik.«

Sie gingen über die hohe Holzbrücke und fanden im Lokal eine kleine, abgesonderte Ecke. Sie schmiegten sich hinein. Während sie nachdenklich und verträumt durch die breiten Fenster auf das Wasser hinunter sahen, lachte Eberhardt mit einem Male still vor sich hin.

»Was gibt's zu lachen?«

»Ich überlege mir, was Bruder Otto sagen würde, wenn er das wüßte.«

»Er weiß es natürlich. Warum sollte ich ihm das verschweigen?«

Er wurde rot. »Gewiß, es ist nichts dabei. Warum sollte er nicht wissen, daß wir uns treffen. Aber . . .« er errötete noch tiefer: »Aber mehr darf er nicht wissen. Verstehen Sie? Es gibt doch Dinge . . . über die man nicht zu anderen spricht . . .« 80

Sie streichelte seine Hände: »Ich verstehe. Die Scham. Ich werde nie mit einem Menschen darüber sprechen. Nicht einmal mit Ihnen.« Und plötzlich beugte sie sich über den Tisch und küßte seine Hand.

Er war tief erschrocken. »Das tut man nicht!«

Sie lächelte still. »Das tut man . . . Nicht nur das.« Und wieder brannte ein fast drohender Blick zu ihm herüber. Aber diesmal wich er dem Blick nicht aus. Er empfing ihn wie eine unerhörte, ungekannte Versprechung. Es riß etwas in ihm auf. Zum ersten Male in seinem Leben verspürte er, daß Blut durch seine Adern rann.

Aber sie war schon wieder im Gleichgewicht. »Sind Sie ausgeruht?«

»Ja. Warum?«

»Muß ich noch lange auf die Vorfreude warten?«

Er zog mühsam ein ernstes Gesicht. »Also wie ging noch das Rezept? Man macht die Augen zu . . .«

»Nicht die Augen zumachen«, rief sie. »Ich will die Augen sehen, damit ich weiß, was da an den Tag kommt. Ich traue Ihnen nicht. Sie sind ein Spitzbube!«

»Nun gut. Auge in Auge. Kennen Sie Josepha Weiß?«

»Ach, und wie gut. Ich habe sie fast in allen ihren Rollen gesehen.«

»Um so besser. Sie gibt dramatischen Unterricht. Er soll sehr gut sein. Ich bin in diesen Tagen bei ihr gewesen.«

Lisbeth beugte sich über den Tisch: »Und?«

»Und habe mit ihr gesprochen, ob sie Ihnen auch Unterricht geben will.«

Sie zuckte freudig zusammen. Dann aber wehrte sie 81 resigniert ab. »Sie müssen nicht mit solchen Dingen kommen. Ich kann mir das nicht leisten. Und ich will auch nicht, daß es mir jemand leistet. Verstehen Sie? Es ist möglich, daß etwas aus mir wird. Möglich, sage ich. Aber dann will ich es niemandem danken müssen . . .«

Er baute innerlich mit allen Kräften an seiner Notlüge: »Warten Sie doch ab. Nicht immer gleich mit dem Temperament vorneweg. Also: Josepha Weiß ist bereit, Ihnen gratis Unterricht zu geben.«

Lisbeth war mißtrauisch. »Wie kommt sie dazu? Sie kennt weder mich noch meine Fähigkeiten.«

»Nein. Aber sie kennt unsere Familie. Sie tut es mir zu Gefallen, weil ich ihr gesagt habe . . .«

»Nun? Was?«

»Weil ich ihr gesagt habe, daß es sich um eine gute, liebe Freundin von mir handele, die sehr begabt sei . . . und die einen so ernsthaften Willen hätte . . .«

Lisbeth sah ihn aus großen, ernsten Augen an. »Es ist gelogen«, sagte sie langsam. »Er hat das gar nicht gesagt. Und sie tut es auch nicht umsonst. Aber er meint es so gut und hat nicht die Courage, mir reinen Wein einzuschenken. Der Wille ist gut . . . so gut. Aber wir wollen es lassen. Es ist kein guter Weg . . . für mich . . . und für dich.«

»Dreimal in der Woche«, stotterte er. »Abends, nach Geschäftsschluß. Was liegt daran, daß es ein paar Mark kostet? Warum willst du mir die Freude nicht gönnen? Ich tue es ja nicht nur für dich. Es geschieht auch für mich. Du mußt das nur recht verstehen«, fuhr er eifriger fort. »Auch für mich liegt viel darin. Ich bin vollkommen egoistisch bei der Sache. Ich denke, wenn du erst einmal 82 Fortschritte gemacht hast, dann wirst du eines Tages meine Gedichte sprechen. Damit ich einmal höre, wie so etwas klingt, wenn ein anderer Mensch es aus ganzer Seele sagt. Ob solche Dinge, solche Verse wirklich leben können. Ich selbst habe nicht die Kraft dazu, es verständlich zu machen. Meine eigene Stimme täuscht mich vielleicht. Sie gibt einen Ton her, von dem ich nicht weiß und nicht wissen kann, ob es der richtige ist.«

Sie sann vor sich hin: »Deine Gedichte sprechen? Das wäre vielleicht gut. Und nützte vielleicht doch nichts, weil ich zu sehr mit dem Herzen bei der Sache wäre . . . und bei allem nur dich sehen würde und nicht die Verse.«

»Du wirst auch die Verse sehen!« rief er begeistert.

Sie beugte sich ganz dicht zu ihm hin und sagte mit ahnungsvoller Sicherheit: »An dem Tage, an dem ich nur noch deine Verse sehe . . . bin ich für dich . . . sind wir für einander verloren und erledigt. Ach du, es ist alles so schnell gekommen, daß mir die Gedanken noch ganz wirr sind. Du mußt mir nicht nachtragen, was ich heute sage. Heute bin ich nicht verantwortlich dafür. Es ist das, was man nicht sagen kann . . . und worüber wir nicht sprechen wollen.«

»Lisbeth«, sagte er eindringlich, »du gehst doch einmal diesen Weg. Du bist zu stark, als daß du beiseite stehen würdest. Du bist viel stärker als ich. Also sträube dich nicht länger. Du wirst einmal eine Künstlerin. Warum soll gerade ich dir beim Anfang nicht helfen? Du sollst nicht kleinlich sein. Denke dir, daß hier zwei Menschen einer Idee dienen: der Kunst . . . deiner und meiner . . . oder auch nur deiner, denn was ich treibe, ist vielleicht gar nicht Kunst. Es sind Laute . . . menschliche Laute . . . 83 oder Laute eines Tieres, das vor Ratlosigkeit stöhnt. Aber alle, die etwas geworden sind, haben einmal so aus der Not gestöhnt. Der eine laut, der andere still vor sich hin. Es ist immer ein Leid, wo etwas Großes entstehen soll. Man darf ihm nicht ausweichen. Es ist Schicksal . . .«

Er preßte die Hand über seine Augen. Er war übervoll an Weh und ungeklärtem Leid. Er hätte sich in eine Ecke werfen mögen, um zu weinen.

Aber die Tränen, die ihm die Scham versagten, kamen aus Lisbeths Augen wie ein stiller, kristallener Strom. Sie entwuchs in diesem Augenblick aus dem großen Umbruch ihres Gefühls mit Riesenschritten aller Begrenzung ans Herkommen und Gewohnheit. Sie spürte einen Anhauch von Freiheit und riß alle Tore auf, um die neue Ebene zu gewinnen.

Ihre Stimme klang beinahe hart, als sie endlich sprach: »Wann soll die erste Stunde sein?«

Seine Augen leuchteten: »Morgen von acht bis neun.«

»Gut. Ich gehe hin.«

So taten sie beide den ersten Schritt auf einem neuen Wege.

Schon bei diesem ersten Schritte offenbarte sich die grundlegende Verschiedenheit in beider Wesen. Während Eberhardt den Tag in zerfahrener Furcht und Aufregung verlebte, war Lisbeth voller Ruhe und Sammlung und einer fast eisernen Spannung. Sie zeigte weder Schüchternheit noch Verlegenheit, als sie Josepha Weiß gegenüber stand. Sie hörte mit aufmerksam gesenkten Augen die ersten Erklärungen an. Dann mußte sie ein Stück aus dem Torquato Tasso lesen. Unbekanntes Gelände, von dem sie nie gehört hatte. Aber schon nach wenigen Zeilen 84 klammerte sich ihr Instinkt an den Sinn der Verse, an die Schwerkraft der Worte, an die Triebkraft der Gedanken. Sie erntete Lob, aber sie nahm es ohne Stolz hin. Sie wußte: das sind Anfänge, Tastversuche einer Kraft, deren sie sich über Nacht bewußt geworden war.

Eberhardt stand an der nächsten Straßenecke und wartete auf sie. Er dachte, sie erregt und freudig zu finden. Aber sie war still, fast trotzig in ihrer Schweigsamkeit. Sie hatte die Lippen aufeinander gepreßt und den Blick nach innen gekehrt.

»Es macht dir keine Freude?« fragte er bange.

»Freude?« sagte sie herbe. »Nein, es ist eine Qual. Glaub' nicht, daß ich aufhören würde. Es ist nur so, daß ich jetzt erst merke, wie wenig ich kann.«

»Ach, daß du dir darüber Gedanken machst! Du wirst lernen, und dann wird sich zeigen, was du kannst.«

»Ich werde lernen. Gewiß. Wenn ich keinen anderen Grund hätte, würde ich es schon tun, damit du zufrieden bist. Aber etwas anderes bedrückt mich, was ich dir sagen muß . . . damit es späterhin keine Mißverständnisse gibt.«

»Sag's nur. Ich werde es schon verstehen.«

Sie nahm seinen Arm und drückte sich an ihn. »Eberhardt, wollen wir den Plan nicht lieber aufgeben?«

»Nein«, sagte er schroff.

»Du mußt eines bedenken: ich kann keine halben Dinge tun. Ich weiß nicht, von wem ich das habe, daß ich nie mitten auf einem Wege stehenbleiben kann. Es geht mir oft bei Wanderungen so. Wenn ich schon blutige Füße habe und mich kaum noch rühren kann, dann muß ich die Straße zu Ende laufen, wenn ich weiß, daß es noch ein 85 Ende gibt. Eher bin ich nicht zufrieden. Das ist eine böse Eigenschaft.«

»Wie kannst du so etwas böse nennen?« fragte er glücklich. »Es ist eine wunderbare Eigenschaft. Ich wollte, ich hätte sie.«

»Die Eigenschaft mag gut sein, . . . wenn man sie sich leisten kann.«

Er sah sie erstaunt und fragend an. Sie schüttelte den Kopf: »Wie arglos und harmlos du bist. Ein richtiges kleines Kind. Sieh doch an, mein Junge: wenn ich einmal anfange, ernsthaft zu arbeiten, dann muß ich die Arbeit zu Ende bringen. Ich bleib' nicht stehen; ich sagte es dir ja. Lieber will ich auf jeden Anfang verzichten, als wissen, ich dürfte einmal einen kleinen Schritt in diese neue Welt hinein tun und müßte dann wieder zurück. Du sollst dir die Sache nicht leichter denken, als sie ist. Laß noch einen oder zwei Monate ins Land gehen . . . und laß mich solche Dinge so stark und wild erleben, wie ich sie heute erlebt habe . . . dann genügt es mir nicht mehr, zweimal in der Woche nach Geschäftsschluß eine Stunde zu nehmen. Dann werfe ich das ganze Büro hin . . . und wenn ich hungern müßte, und bleibe bei meiner Kunst.«

»Aber das ist ja doch der Weg, den du gehen sollst!« rief er begeistert. »Was für einen anderen Zweck sollte dieser Anfang denn sonst haben?«

»Ich sage dir ja: Du bist ein Kind. Ein liebes, gutes Kind. Und mir wird elend bei dem Gedanken, daß ich dir eines Tages sagen müßte . . .«

Sie schwieg vor Scham. Er drängte: »Was müßtest du sagen?« 86

»Vieles«, sagte sie hart. »Vor allem müßte ich dir sagen, ob du die Verantwortung kennst, die du übernimmst, wenn du mich da auf einen neuen Weg drängst . . . und mich dann stehen läßt.«

»Lisbeth, warum hast du immer Gedanken, die so schwer sind?«

»Weil ich ein Stück vom Leben kenne. Es ist hart und hat kein Mitleid. Man muß es schon gut berechnen, wenn man damit haushalten will.«

»Ich komme nicht mit. Es ist so, als ob wir gestern nichts miteinander besprochen hätten. Willst du die Stunden nicht weiter nehmen?«

Sie seufzte: »Ja, ich will. Alles andere wollen wir auf später verschieben. Wir müssen eben sehen, wie es geht. Und wir wollen uns die kleinen Stunden nicht verderben. Wann gibst du mir von deinen Gedichten? Ich will schon jetzt anfangen, sie zu lernen. Willst du?«

»Ich schreibe sie dir noch heute abend ab. Morgen gebe ich sie dir. Wir sehen uns doch morgen?«

»Morgen nicht. Ich habe Otto versprochen, mit ihm zu einem Vortrag zu gehen.«

»Kann ich nicht mitgehen?«

»Ich habe auch schon daran gedacht und Otto deswegen gefragt. Aber er sagt, es wäre nichts für dich.«

Eberhardt krauste die Stirne: »Ist vielleicht zu hoch und gebildet für mich, was? Ich bin nicht lange genug auf der Schule gewesen, um eine ausreichende Allgemeinbildung zu haben. So wird es wohl sein.«

»Lieber Junge, so ist es nicht. Der Redakteur Stauff hält einen Vortrag. Er ist ein Sozialist. Und Otto meint, 87 du solltest dich nicht mit solchen Dingen befassen. Sie paßten nicht zu dir . . . und dem Kreise, in dem du lebst.«

»Ich habe den Eindruck«, sagte Eberhardt verdrossen, »als ob mich dein Bruder zu einer Art untergeordneter Menschen zählte, die für gewisse Dinge nicht reif wären. Das ist ein Hochmut, den ich nicht an ihm verstehe.«

»Er meint es gut mit dir. Er will nicht, daß du in Dinge hineinkommst, die dich in Konflikte bringen könnten. Überleg' dir doch selber, Ebby. Du bist der Sohn eines reichen Kaufmanns. Wir sind arme Leute. Wir treiben da Dinge, wie sie sich für arme Leute gehören. Das sind Dinge, die eigentlich gegen euch . . . ich meine: gegen diejenigen gehen, die allen Reichtum in ihren Händen vereinigen . . . alle Möglichkeiten, außer der täglichen Arbeit auch noch freie Menschen zu sein . . .«

»Aufteilung des Besitzes«, lachte er.

»Otto würde lachen, wenn er das hörte. Das habe ich früher auch gedacht. Aber es ist etwas anderes. Es geht immer wieder auf den Menschen hinaus. Ich hab' es nur im Gefühl und kann es dir nicht erklären. Otto wird es können.«

»Aber er wird es nicht tun, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht. Frag' ihn selber. Ich will auch mit dir nicht darüber sprechen. Haben wir nichts anderes zu besorgen? Nun? Verstimmt? Du, wenn du jetzt kein heiteres Gesicht machst, reiß' ich dir den Hut vom Kopfe und werfe ihn unter die Elektrische. Dann stehst du morgen im Generalanzeiger unter Verkehrsunfälle.«

Er fügte sich. »Gegen solche Gewaltakte bin ich machtlos. Wenn das so weiter geht, kannst du bald mit mir machen, was du willst.« 88

»Die Absicht habe ich auch«, scherzte sie. »Glaubst du, ich hätte Lust, dich mit anderen Menschen zu teilen? Ich denke nicht daran. Solange ich dich festhalten kann, halte ich dich. Weißt du, Ebby, wie das ist, wenn man ein Glas in der Hand hat, und kann jeden Augenblick damit rechnen, es werde einem aus der Hand genommen? Das prickelt. Das macht viel mehr Lust zum Trinken, als wenn das Glas vor einem steht und bleibt da stehen.«

»Du scheinst Erfahrungen zu haben«, argwöhnte er.

»Ja. Wenn wir als Kinder Ausflüge machten, kauften wir uns immer zu dritt ein Glas Himbeersaft. Das ging dann rundum. Und davon weiß ich, wie das ist, wenn man das Glas wieder abgeben muß.«

Er hatte einen kühnen Gedanken. »Dann will ich dir ein Glas spendieren, das du nicht weiterzugeben brauchst. Wollen wir ins Savoy gehen?«

»Unmöglich. Das schickt sich nicht.«

»Wir können tun, was wir wollen. Auch in Kleinigkeiten. Damit muß man anfangen. Morgen ein sozialistischer Vortrag. Heute einen Flip. Übermorgen Rezitationen von Lisbeth Krämer. Immer etwas Neues. Bewegung, Bewegung!«

»Nun gut. Es soll mir recht sein. Aber es geht auf deine Gefahr.«

»Warum warnt ihr mich eigentlich immer? Du und Otto? Wollt ihr mir einreden, daß Ihr es gut mit mir meint?«

»Schweig, schweig«, bat sie. »Ich gehe mit dir durch dick und dünn. Genügt dir das?«

»Ja.«

Der Abend im Savoy verlief in ausgelassenster 89 Heiterkeit. Es war sehr spät, als sie heim gingen. Sie trennten sich mit unendlichen Versprechungen für den übernächsten Tag.

Aber als Otto Krämer mit seiner Schwester am nächsten Abend zu dem angekündigten Vortrag in das Kasino ging, stand vor der Türe Eberhardt Melchior. Er respektierte ihr Erstaunen nicht im geringsten. Er schloß sich ihnen ohne weiteres an und sagte: »Ihr habt wohl nichts dagegen, nicht wahr?«

»Der Vortrag ist öffentlich«, sagte Otto gelassen. »Hoffentlich sind Sie nicht enttäuscht.«

Der Saal war nicht überfüllt. So hatte Eberhardt ausreichend Gelegenheit, die einzelnen Gesichter auseinander zu halten und sie zu sondieren. Schon in der äußeren Form stellte er einen erheblichen Unterschied von dem Publikum fest, das er in der Kunsthalle oder in der Union zu sehen gewohnt war, oder gar in den Abenden der Halemschen Buchhandlung. Hier war alles um einen Ton schlichter, anspruchsloser, zuweilen auch simpler. Auch die Form dieser Menschen war unebener, höckeriger, schwerer. Auffallend war die erhebliche Anzahl junger Menschen. Aber an ihnen störte ihn sehr die betonte Sorglosigkeit, die beinahe absichtliche Vernachlässigung des äußeren Gehabens.

Er stieß vorsichtig Otto Krämer an und fragte: »Ist das eure Jugend?«

Otto Krämer nickte. »Es ist die offizielle. Sie glaubt, sie könne nicht ohne den Stempel dieser Formlosigkeit leben. Aber es ist nicht die inoffizielle. Die scheut sich, sich darzustellen.«

»Wo kann man sie sehen?« 90

»Nirgends. Sie ist untergründig. Sie hat zu viel Scham . . . und zu wenig Förderung.«

»Sie haben Fühlung damit?« fragte Melchior.

»Ja.«

»Sie werden mich mit solchen Menschen zusammenführen, ja?«

»Gerne.«

»Warum sind Sie mit einem Male so gefügig?« lachte Eberhardt. »Eigentlich müßten Sie mich doch warnen, wie es Ihre Art ist.«

»Ich habe einmal gewarnt. Das genügt. Wenn Sie trotzdem nicht abgeschreckt sind, habe ich keinen Grund, Ihnen die Bekanntschaft von Menschen zu verwehren, die Sie nie und nirgends wieder zu sehen bekommen werden. Wir sprechen noch darüber.«

Von dem Vortrag selbst hatte Eberhardt nicht viel Nutzen. Es handelte sich um Fragen der Organisation der arbeitenden Jugend, ein Gebiet, dem er kein Interesse abgewinnen konnte. Wohl aber interessierte ihn der Redner, der Redakteur Albert Stauss. Er war breit, ohne schwerfällig zu wirken; massig, ohne der Behendigkeit zu ermangeln; das Organ war hell, ohne je des Klanges zu entbehren. Seine Sprache war klar und gewählt, von Gesten stark und eindeutig unterstrichen, aber mit einem Akzent, der nicht aus Norddeutschland kam. Eberhardt staunte insgeheim, daß solches Niveau zu hören war, wo er – er wußte nicht, warum – Demagogie und wilde Propaganda erwartet hatte.

Die Diskussion stieß ihn dagegen ab. Sie wurde im wesentlichen von dieser Jugend bestritten, die Otto als die inoffizielle bezeichnet hatte. Sein Ordnungssinn und 91 sein Formgefühl sträubten sich heftig gegen dieses Gefüge unbeherrschter und planloser Worte, richtungsloser Gesten und einer all zu sichtbaren Verliebtheit in die eigene Anschauung. Er war etwas verstimmt, als er den Saal verließ. Er nahm sich vor, auf den Besuch derartiger Versammlungen zu verzichten.

Otto Krämer empfand diese Verstimmung wohl, und es regte sich in ihm der Ehrgeiz, einen Ersatz für diese Enttäuschung zu geben.

»Sagen Sie, Melchior, darf ich dabei sein, wenn Lisbeth Ihre Verse vorliest?«

Eberhardt schämte sich maßlos. »Eigentlich nein. Ich sage eigentlich, weil mich der Gedanke grenzenlos verlegen macht. Im übrigen bitte ich Sie sogar, dabei zu sein. Ich muß diese Hemmungen einmal loswerden.«

»Warum müssen Sie?«

»Das ist vorläufig noch mein Geheimnis. Aber Sie werden es bald erfahren.«

»Dürfen auch noch andere Menschen dabei zugegen sein?« fragte Otto.

»Mein Gott, mit welcher Energie Sie mir auf den Pelz rücken. Also ja. Aber bitte nicht mehr als zehn.«

»Zwei junge Menschen, wenn es Ihnen recht ist. Und wo findet die Vorlesung statt?«

»Das wird sich finden«, sagte Eberhardt geheimnisvoll. »Wir treffen uns am besten . . . sagen wir: Ecke Westerstraße und kleine Allee.«

Lisbeth nahm ihn beiseite: »Ebby, machst du Dummheiten?«

»Ja«, lachte er glückselig und verabschiedete sich. – 92

Als er nach Hause kam, sah er, daß im Teesaal noch Licht brannte. Also waren Gäste da. Er hatte ein peinliches Schuldgefühl, wagte aber nicht, sich der Hausordnung zu widersetzen und ohne weiteres auf sein Zimmer zu gehen. Er wappnete sich mit Mut und trat ein.

Onkel Philipp und Senator Mähren mit Frau waren »auf einen Sprung« hereingekommen. Schon bei der Begrüßung fiel ihm auf, daß alle, selbst der sonst so gemessene Herr Vater, ihn mit einer halb belustigten Miene ansahen und musterten. Sogar Mähren hatte ein stilles Grinsen in den leicht verärgerten Zügen, als er ihm empfahl, die Probe des neuen Rotweins nicht an sich vorübergehen zu lassen. »Du bist ja nun ein junger Mann, der sich schon mal einen Trunk leisten kann. Und dann auch ist Rotwein viel gesünder als alle Flips der Welt.«

Onkel Philipp lachte dröhnend. Aha, dachte Eberhardt, aus dieser Ecke weht der Wind. Er beschloß, diesen günstigen Wind auszunutzen. »Das sagst du ja nur aus Geschäftsinteresse«, antwortete er. »Die Schnapsfabrikanten wollen aber auch leben. Und im übrigen ist Rotwein etwas für die gesetzten Jahre. Sehr zum Wohle.«

Philipp war begeistert. »Gib's ihm! Gib's ihm, dem Heuchler!« rief er. »Wenn er ein anständiger Kerl wäre, nähme er dich mal unter den Arm und zeigte dir Bremen bei Nacht.«

»Laß ihn, Onkel Philipp. Er ist verheiratet. Und dann: vielen Dank für das Angebot. Ich find' schon alleine zurecht.«

Es gab ein unbändiges Gelächter, das noch anhielt, als er sich schon verabschiedet hatte und in sein Zimmer hinaufstieg. 93

Ethel schüttelte den Kopf: »Ihr müßt es ihm nicht zu deutlich zeigen.«

»Du magst recht haben«, sagte Hermann Melchior. »Aber du mußt doch verstehen, daß einem ordentlich ein Druck von der Seele genommen ist. Man weiß doch jetzt wenigstens, was er treibt. Er macht ganz handfeste, greifbare dumme Streiche. Er sitzt mit einem kleinen Mädel im Savoy. Das ist etwas Harmloses und Vergnügtes. Du hättest hören müssen, wie Steding das beschrieben hat. Der vollendete kleine Kavalier. Die Beine lässig übereinander geschlagen, Zigarette in der Spitze, ein wenig blasiert, und doch heimlich neugierig auf alle diese ungewohnten Dinge. Da wird die Likörkarte mit spitzen Fingern genommen und etwas bestellt, das einen exquisiten Namen hat, und dann wird leise gebangt, was es eigentlich ist. Und bei alledem vollkommen in das kleine Mädel verguckt, so daß er nicht einmal seinen eigenen Chef sieht, der zwei Tische weiter mit einem Geschäftsfreund sitzt.«

»Wenn es nicht ausartet«, sagte Fridel gedehnt.

»Olle Tunte«, knurrte Philipp. »Was heißt ausarten? Er wird das Mädel nicht heiraten. Und mit Verlaub in deiner Gegenwart zu sagen, liebe Ethel, solche Dinge müssen sein. Und wenn ihr ihm dafür kein Taschengeld gebt, dann geb' ich es ihm, und wenn der Senator auch um einen Teil der Erbschaft kommt.«

»Na«, lachte Hermann. »Was das Taschengeld angeht, so kann ich nur sagen, daß er mich noch gestern in höflichster Form ersucht hat, es ihm zu erhöhen. Ich habe ihm zwar eine Standpauke dabei gehalten, er solle vernünftig damit umgehen; so wie es sich für den Vater eines 94 solchen Windbeutels gehört. Aber ihr mögt sagen, was ihr wollt: mir fiel eine Last von der Seele. Er ist nicht mehr undurchsichtig. Er beginnt, seine Jugend so auszutoben, wie die anderen Jungens es auch tun. Er soll es. Es wird ihm nichts dabei passieren, denn er hat einen guten Kern. Jetzt kann ich wenigstens ruhig verreisen.«

»Du hast dir viel vorgenommen?« fragte Mähren.

»Allerlei. Ich will vor allem sehen, daß ich die Abschlüsse mit den Russen unter Dach und Fach bringe.«

»Gesindel!« knurrte Mähren.

»Ja«, höhnte Philipp. »Sie trinken keinen Rotwein.«

»Vater«, bat Fridel, »ärgere ihn doch nicht immer.«

»Tu ich auch nicht. Ich sehe nur nicht ein, warum sie heute Gesindel sein sollen. Vor dem Kriege waren sie es nicht. . . .«

»Laßt die Politik«, mahnte Hermann. »Das gibt nur Krach. Russisches Getreide ist russisches Getreide. Damit basta. Ich baue keine großen Mühlen, um sie nur halb zu beschäftigen. Es sieht nicht so aus, als ob wir dieses Jahr eine große Ernte im Lande haben würden. Ich will dann nicht auf dem Rest sitzen . . . Also wagen wir das Geschäft.«

»Hoffentlich legen sie dich nicht rein«, unkte Mähren.

»Mich reinlegen?« fragte Hermann stolz. »Das ist bis heute noch niemandem gelungen. Unsereins wagt, aber er spekuliert nicht. Außerdem habe ich das Risiko verteilt. Ich will damit nicht hinter dem Berg halten. Ich hab' mit der Borgmannschen Maschinenfabrik einen Vertrag gemacht. Die Russen bekommen für ihr Getreide kein Geld, sondern landwirtschaftliche Maschinen. Die liefert Borgmann, und ich finanziere ihn. Im übrigen wird 95 conta meta gemacht. Da werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«

Ethel Melchior hörte alle diese Pläne und Kalkulationen wie aus weiter Ferne. Sie kannte den ewig gleichmäßigen Verlauf solcher Gespräche. Sie konnte keinen Anteil mehr daran nehmen. Ihre Gedanken waren bei ihrem Kinde; und diese Gedanken waren voller Angst. Er spielt mit uns, dachte sie. Er lebt mit zwei Gesichtern. Das eine zeigt er, um sich die Freiheit zu stehlen, die er braucht. Das andere sehen wir nicht; und das ist sein wahres Gesicht.

Niemand merkte, daß sie sich entfernte. Sie stieg die Treppe hinauf und klopfte an Eberhardts Türe: »Schläfst du schon?«

Eberhardt öffnete. »Soll ich noch etwas, Mutter?«

Sie stand da und konnte nichts sagen. Sie wußte nicht, was man einem Kinde in solch einem Augenblick sagen könnte. Sie fand endlich aus ihrer Bedrängnis die armen Worte: »Wenn es dir einmal zu viel wird, Eberhardt, dann komm zu mir. Auch wenn es dir nicht leicht fällt. Ich bin immer da.«

»Ja, Mutter«, sagte Eberhardt erstaunt und verlegen. Dann ging er wieder an seinen kleinen Schreibtisch, schüttelte noch ein wenig den Kopf über dieses unverständliche Gespräch, vergaß es dann und schrieb weiter in seinem kleinen Buch mit dem roten Ledereinband. – 96

 


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