Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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5. Kapitel.

Die Nacht stand schwer und undurchdringlich vor den Fenstern. Der Herbstwind schrieb mit den Zweigen der alten Kastanie Runen an die feuchten Scheiben. Die Türe des Vorgartens schlug metallen ins Schloß.

Eberhardt richtete sich auf. Sein Kopf war mit einem eisernen Reifen eingeschnürt. Die Geräusche der Umwelt kamen durch eine dämpfende Membrane in seine Ohren. Sie milderte allen Klang zu einem formlosen Brausen. Aber im Inneren war er ganz ruhig. Es war gar nichts geschehen. Es sollte erst etwas geschehen. Er mußte sich dafür auf den Weg machen.

Bedachtsam holte er seinen Regenmantel aus dem Schrank und zog ihn an. Dann bemerkte er, daß er Halbschuhe trug. Er wechselte sie gegen schwere Wanderstiefel um. Seinen Hut drehte er lange unschlüssig in den Händen. Er warf ihn in die Ecke und suchte eine alte, blaue Mütze hervor, die er beim Segeln getragen hatte. Dann ging er die Treppe hinunter. Er betonte jeden Schritt, damit man ihm nicht nachsagen könne, er sei heimlich fortgegangen. Aber es war wie immer, wenn er in diesem Hause etwas zum Ausdruck bringen wollte: es wurde alles gedämpft und seines eigenen Lautes entkleidet. Die Teppiche sogen seine Schritte auf. Nicht einmal eine Stiege knarrte. Er wollte Trotz und Absicht in sein Fortgehen legen. Es klang aber nur wie das Gehen eines 138 Menschen, der im Dunkeln vorsichtig nach der rechten Stufe tastet. Sein Wille fand keinen Ausdruck und keinen Widerhall.

Die Haustüre war noch nicht verschlossen. War das Absicht? Nach dem Stundenplan des Hauses mußte sie längst geschlossen sein. Gut, dann sollte wenigstens sie mit einem hallenden Schlag den Stillen, Gedämpften, Geräuschfeindlichen verkünden: Eberhardt geht! Er schlägt die Türe hinter sich zu, weil er nichts mehr mit euch zu tun hat!

Er legte alle Kraft in den Schwung. Sorgfältig fing das Luftventil den Stoß auf, bewegte die Hebel um ein kleines schneller als sonst, aber es ließ sich nicht zum Versagen bringen. Als das Schloß endlich einschnappte, klang es wie ein verhaltenes, höhnisches Auflachen. Es traf ihn wie einen Stich. Er fuhr in hemmungslosem Jähzorn herum, ballte beide Fäuste und wollte sie gegen das braune, blanke Holz schmettern. Aber die Furcht vor Lärm und Störung, die Gewohnheit langer Jahre, hemmte mit magischem Gewicht selbst diesen lebendigen Ausbruch. Er ließ die Hände sinken und ging fort.

Vom Wall herüber fing sich das Licht der Laternen im Stadtgraben. Das Wasser warf es verzerrt zurück. Eberhardt wollte es nicht sehen und schlug den Mantelkragen hoch. Aber in den Augenwinkeln traf ihn doch das Glitzern und Blänkern, dieses Angrinsen und Verspotten, daß es ihm in allen Nerven zuckte. »Ihr macht es mir leicht«, dachte er. Aber endlich wich er doch vor diesen Angriff seitwärts aus in die Rembertistraße.

Am Ende der Straße standen die Lichter auf dem Bahnübergang. Eine Kette beleuchteter Vierecke zog 139 darüber hin und verschwand. Das wies ihm den Weg zum Bahnhof. Es war nicht seine Absicht gewesen, dorthin zu gehen. Er hatte, wenn er es in diesem Augenblick überdenken konnte, überhaupt keinen bestimmten Plan mitgenommen, als er das Haus verließ. Jetzt schien es ihm der einfachste und natürlichste Weg, zur Bahn zu gehen.

Die Bahnhofshalle war hoch und unfreundlich. Alle Menschen, die da herumstanden oder sich bewegten, schienen an einem Gefühl von Kälte und Unbehaglichkeit zu leiden. Selbst die Fliesen hatten einen feuchten, unfreundlichen Schimmer. Kein Grund, hier behaglich zu verweilen.

Eberhardt ging an einen Schalter. Aus dem halbgeöffneten Fenster schlug ihm Heizungswärme, dumpf, überhitzt, entgegen. Er haßte von je solche künstliche, beklemmende Wärme. Sie steigerte in diesem Augenblick seine Ungeduld zu einer stillen Wut. »Ein Dritter!« rief er ungehalten.

Das Gesicht hinter dem Schalterfenster legte sich in überlegene Falten: »Gerne. Wünschen Sie Ellen oder Oslebshausen?«

Trotz aller Not staute sich in Eberhardt ein stilles Gelächter. Der Mann am Schalter hatte Recht, ihm die Wahl zwischen Irrenhaus und Strafanstalt zu lassen. Merkwürdige Flucht, wenn man nicht einmal ein Ziel dafür weiß. Und seltsame Flucht dazu, wenn einem alle Entscheidungen durch diesen und jenen Zufall abgenommen werden, denn jetzt fiel sein Blick auf ein Plakat, auf dem ein Schiff mit überhöhtem Bug eine riesenhafte Furche durch blaues Wasser trieb.

»Ein Dritter Bremerhaven«, sagte er und lächelte dabei 140 entschuldigend. Dann hockte er sich, um den Abgang des Zuges abzuwarten, auf eine Bank im Wartesaal. Die Minuten krochen an ihm vorüber. Er hatte den Argwohn, daß alle Menschen ihn beobachteten, heimlich nach ihm hinzeigten, seine Absicht durchschauten und ihm Hindernisse in den Weg legen wollten. Es ging ein Mann im Pelzmantel vorbei, der ihn so argwöhnisch ansah. Eberhardt zog die blaue Mütze tiefer in die Stirne. Sein Gesicht brannte. Zum ersten Male im Leben spürte er, daß sein Herz zügellose Schläge tat. Kinderangst wuchs mit drohenden Fratzen in ihm auf. Brocken von Gebeten kamen daher geweht: Lieber Gott . . . nicht festhalten jetzt . . . ich muß fort . . . ich bin ein schlechter Mensch. Aber die anderen . . . wer versteht mich? Keiner. Ich bin keine Maschine . . . Lieber Gott, ich muß weg von hier . . .

Er fieberte sich in eine sanfte Müdigkeit hinüber. Der Kopf sank ihm zur Seite und lehnte gegen das Holz. Da kam hinten aus dem Raume, aus einem undeutlichen Kranz von Bogenlichtern, Lisbeth mit einem Blumenstrauß daher. Als sie ihn sah, erschrak sie und suchte den Strauß zu verbergen. Aber er ließ sich nicht täuschen. Er winkte ihr befehlend mit der Hand. Sie zog ein verächtliches Gesicht und sagte: »Feigling. Ausreißer!« Dann wandte sie sich ab. In der Türe zum Wartesaal stand Schröder. Zu ihm ging sie . . .

Eine Klingel schlug dicht vor seinen Ohren an. Im Halbdämmern dachte er: Schon der Milchmann? Da muß man aufstehen! Wenn nur Wischhusen nichts gemerkt hat!

Dann unterschied er ein Rufen, mühte sich, einen Sinn 141 darin zu finden und verstand endlich, verwehend, wie aus Nebeln her: Personenzug Bremerhaven–Wesermünde . . .

Er sprang mit einem Ruck auf und lief durch die Sperre. Er war noch völlig vom Schlaf benommen. Er kam auch während der Fahrt nicht zu klarer Besinnung. Alles war undeutlich: die Lichter der Stationen, Namen, die ausgerufen wurden, das Rollen der Räder, der Mann, der ihm schräg gegenüber saß und schlief. Dann die Vorstellung, daß Lisbeth den Blumenstrauß verbergen wollte. Mit welchem Recht schimpfte sie ihn einen Feigling? Gegen den Ausreißer wehrte er sich nicht. Oder doch? Ein Ausreißer war schließlich ein Feigling. Nicht zu leugnen. Aber sie kannte die Gründe nicht!

Er kam mit diesen Gedanken nicht zu Ende. Es verschwamm alles zu einer unendlichen Traurigkeit, zu einem zehrenden Mitleid mit sich selbst. Er war kein Ausreißer. Er war ein Vertriebener, ein Ausgestoßener. Und alle seine Schuld war nur sein junges, brennendes Herz. Sein Herz, das sich weigerte, schon alt zu sein, das nicht hinunter wollte in das Tal der Nebel . . . in das Staubecken der Nützlichkeit . . .

Endlich weckte ihn die feuchte Kälte, die immer erneut aus der geöffneten Türe des Abteils eindrang. Er setzte sich aufrecht und steif hin und holte die Augenbrauen über der Stirne zusammen, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte, wenn sie nachdenken wollte. Er stellte fest, daß er sehr wenig Geld in der Tasche habe und im übrigen nicht einmal mit der nötigsten Wäsche ausgerüstet sei. Daß er nicht die Wäsche wechseln konnte, quälte ihn mehr als die Erwägung, wo er morgen essen und wovon er es bezahlen sollte. Er konnte schließlich seine 142 Armbanduhr verkaufen. Er konnte irgendwo auf den Namen seines Vaters Geld leihen. So tief gesunken, und dann noch ein wenig mehr sinken, verschlug nichts. Zu Unterschlagung und Diebstahl paßte ausgezeichnet der Betrug. Es war überhaupt alles sehr einfach, wenn man einmal den ersten Schritt getan hatte.

Da saßen sie nun zu Hause und barsten vor Zorn und Gram über den ungeratenen Sohn. Die Ehrbarkeit von Jahrhunderten knisterte wie steifes Leinen. Die verdorrten Herzen öffneten einen schmalen Spalt, um einen Tropfen Bitternis und Scham einzulassen. Dann schlossen sie sich wieder hermetisch. Nur zuweilen würde die Wunde zucken, wenn andere Menschen, die »Leute«, den Vorfall erfahren würden. Aus dem Idol des guten Rufes sickerte ein schmerzlicher Tropfen Blut.

Wühlend brach sich seine Phantasie Bahn. Vielleicht würde er eines Tages zurückkehren. Nur blieb zu erwägen, ob als ein reicher Mann, der ihnen das Gewicht eines vollen Bankkontos vor die Füße werfen konnte, oder . . . oder – besser, inniger, haßvoller zu denken – abgerissen und verlumpt und verwahrlost, ein Apachentuch um den Hals geschlungen, eine Wolkenschiebermütze auf dem Struppkopf, und dann harmlos und freundlich sagen: »Guten Tag, wie geht's? Wie steht's? Kennt ihr mich nicht mehr? Ich bin doch euer Sohn Eberhardt. Stört euch das Äußere? Aber nicht doch! Ihr seht doch auf Qualität, nicht auf die Aufmachung. Den guten Kern hab' ich doch von euch geerbt . . . Ich hab's euch ja schon damals auf dem Familientag gesagt. Ihr habt's nur nicht verstanden. Da wolltet ihr mir ein Stück aus dem Herzen herausschneiden! Daher kommt alles . . . alles!« 143

Aber zuletzt flossen doch seine Tränen aus übermüdeten, überreizten Augen. Sie entsickerten einem Quell der Erlösung, einem wehen Abschied vom Gestern, und wuschen die ersten Runen und Spuren in seine junge Seele.

Es mochte gegen vier Uhr morgens sein, als er auf dem Bahnhof stand. Grau in triefendem Nebel schwammen Straßen und Häuser. Sentimentale Strophe kam ihm in den Sinn: »Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter.« Dann laß dir die Zeit nicht lang werden, Lisbeth. Ich geh' jetzt ein wenig über den großen Teich. Er kicherte: Adjö, Luise, wisch ab dein Gesicht . . .

Aber alles das verscheuchte sein Unbehagen nicht. Es blieb die Kälte, der Nebel, die Verlassenheit, die Furcht und die entsetzliche Ratlosigkeit. Wie sonderbar, daß man immer einen Menschen brauchte, an den man sich schmiegen konnte, um nicht an dem Gifthauch der Einsamkeit zu ersticken!

Er führte aus, was ihm längst als Rettung vorgeschwebt und was er sich doch in Kindertrotz nicht zugegeben hatte; er suchte die Wohnung des Kapitäns Emmo Büsing auf.

Wenig störte ihn, daß die Haustüre verschlossen war. Er schlug mit dem Hacken dagegen, laut, taktmäßig. Es erleichterte, daß er die Stille ringsum mit solchen Geräuschen durchbrechen konnte. Der Lärm bestätigte ihm, daß er da sei und etwas wollte. Gleichgültig war ihm die Richtung seines Willens. Ihm genügte der blinde Glaube, es werde irgend etwas geschehen, das die stehende Luft in seinem Inneren in Bewegung brachte.

Oben ging ein Fenster auf. Emmo Büsings weißer Kopf erschien im Rahmen. Breit und gelassen legte er beide Arme auf die Fensterbank und sah hinunter. 144

»Guten Abend«, rief Eberhardt hinauf.

»N'Abend«, antwortete der Kapitän.

»Du schimpfst nicht, Vater Büsing?«

»Nein.«

»Ich muß dich dringend sprechen, Vater Büsing. Bitte, mach' auf.«

Büsings Stimme war unerschütterte Gelassenheit: »Um sechs Uhr mach' ich meine Haustüre auf. Eher nicht. Dann kannst du Kaffee trinken.«

Eberhardt überschrie sich vor Zorn: »Ich kann nicht bis sechs Uhr warten. Um sechs Uhr hab' ich mir längst eine Kugel durch den Kopf geschossen!«

»Um sechs Uhr bekommst du Kaffee«, antwortete Büsing und schloß das Fenster.

Eberhardt sah sich ratlos um. War das hier abgekartete Sache oder wirkte sich hier nur die stumpfsinnige Gelassenheit eines norddeutschen Kapitäns aus? Wohin er sich wandte: überall war diese grauenhafte Ruhe und Gemächlichkeit, ein Meer von ruhendem Tang, während in ihm Ströme junger Lava sich wilde Bahnen reißen wollten. Ach, daß man nur zwei blasse Fäuste hatte, diese stumpfen Massen zu bewegen! »Mach' auf«, schrie er aus voller Kehle. »Mach' auf, Mensch, oder ich schlag dir die Türen ein!« Und schon geschah es, daß er mit den geballten Fäusten in die kleine Scheibe oberhalb der Haustüre fuhr. Sie klirrte auseinander, Blut lief ihm von der Schmalseite der rechten Hand. Er stand und lauschte und fühlte sich überschnell ernüchtert. Nun würde oben sich wieder das Fenster öffnen. Die träge, schleppende Stimme würde sich zu einem matten Vorwurf aufraffen, vielleicht 145 zu einem derben Schimpfwort. Ach, er wußte im voraus alles, was sich begeben würde!

Aber es begab sich nichts. Es blieb ruhig im Hause. Er blieb sich selbst überlassen, seiner Beschämung, daß man so dem Jähzorn und der Maßlosigkeit verfallen konnte. Er sah Mutter Ethels schmale Augenbrauen sich aufwärts schieben: »Wie kann ein Mensch so maßlos sein!« Ach, verflucht! Warum nicht maßlos? Aus dem Toben und aus dem Maßlosen ist doch einmal die Welt entstanden! Warum soll man Gottes Maß verkleinern?

Er fand die Antwort. Kein Mensch gab sie ihm und keine Stimme eines Menschen. Aber sie kam ihm aus der Reglosigkeit der Nacht, aus der Schwere der hängenden Nebel, aus dem Dunst der grauen Wände, aus dem lautlosen Wolkenheer des Himmels, aus den Steinen unter seinen Füßen und dem schwachen Glänzen der verwitterten Dachziegel. Und hätte er alle Bangnis seiner Seele mit vollen Lungen hinausgeschrien: tote Wände hätten den Klang aufgesogen und ihn ohne Mitleid um die Barmherzigkeit eines Echos betrogen.

Er lehnte sich gegen die Haustüre, von Nacht und Mattigkeit und von der Vergeblichkeit seines Aufruhrs überzwungen. Er verlor das Gefühl für Zeit. Er dämmerte vor sich hin.

Nach einer Weile – sie war nicht zu messen – waren drinnen im Hause Schritte zu hören. Sie knirschten über Glasscherben. Die Türe wurde geöffnet. »Komm«, sagte Büsing ruhig.

Eberhardt schleppte sich in das kleine Vorderzimmer, warf Mantel und Mütze auf einen Stuhl und drückte sich in eine Ecke des steifledernen Sofas. Büsing hantierte in 146 einem Eckschrank. »Schnaps?« fragte er lakonisch. Eberhardt schüttelte den Kopf. Der Kapitän füllte andächtig sein Glas. »Nur nicht hinsehen«, dachte Eberhardt und wandte sein Gesicht angewidert zur Seite.

Er hörte das Klirren von Geschirr. Gesche trug den Kaffee herein. Sie grüßte wie immer, gab kein Zeichen des Staunens von sich und schien diesen Besuch zwischen Nacht und Morgen als gewöhnlichen Vorfall anzusehen. Wieder zuckte die Verbitterung in ihm: »Ihr scheint euch keine Gedanken darüber zu machen, warum ich so in Nacht und Nebel angerückt komme?«

Der Kapitän nahm umständlich Platz: »Du wirst sicher einen Grund dafür haben. Sonst wärst du ja nicht gekommen. Und mit der Neugier ist es bei uns alten Leuten nicht so weit her. Jetzt trink erst. Gesche hat eine Bohne mehr genommen, weil du zu Besuch bist.«

Eberhardt versuchte, zu einem gelinden Galgenhumor zu kommen. Und wenn er später diese Situation überdachte, gestand er sich, daß er niemals im Leben mit so viel Anteilnahme und Genuß Kaffee getrunken habe wie an diesem Morgen. »Vor jedem Selbstmord«, spöttelte er, »soll man erst eine Tasse Kaffee trinken.«

»Gieß dir einen Korn in den Kaffee«, riet der Kapitän. »Es wird kalt draußen.«

Das Gebräu brannte wie Gift, aber es wärmte und regte an. Sie frühstückten lange und ausgiebig. Eberhardt dachte: »Jetzt wird er seine unvermeidliche Pfeife anstecken, sich in den Lehnstuhl setzen und mir die Beichte abnehmen.«

Statt dessen ging der Kapitän nach draußen auf den schmalen Flur und kam mit einem Bündel Ölzeug zurück. 147 Eines reichte er stillschweigend über den Tisch hinweg. Eberhardt zog es an. Er fragte nichts, auch nicht, als sie durch den dämmernden Morgen zur Mündung der Geeste hinuntergingen. Er hatte das erregende, befreiende Gefühl: jetzt geschieht irgend etwas. Es kommt etwas Neues.

Im Lotsenhaus war noch Licht. Emmo Büsing ging hinein und brachte eine große Kanne Benzin heraus. Eberhardt half ihm, sie an die Pier zu tragen. Dort unten schwoite die »Gesche« an ihren Tauen, das schwere, altmodische und zuverlässige Kajütboot. Wortlos wurde der Tank aufgefüllt. Die Fender wurden hereingenommen. Im Leerlauf surrte der Motor. Sprühend arbeitete die Pumpe. Ein Mann stand oben auf der Pier und sah ihnen zu. »Kommt schweres Wetter auf«, sagte er. Büsing nickte: »Wohl.« »Kann leicht nasse Füße geben.« »Kann vorkommen«, sagte der Kapitän und warf die Taue los. Leise drückte er den Hebel vor, legte sacht das Steuer nach backbord und ließ von der Pier abtreiben.

Sie fuhren stromab. Zur rechten lagen die geduckten Fischdampfer, schlafend, mit ihrem Topplicht blinzelnd. Ein herber Geruch zog von den Fischereianlagen her. Dann tauchte das Gerippe mit dem Zeitball auf, der eiserne Wächter. Weiterhin der Leuchtturm. Seine Feuer waren schon erloschen, sein Nachtdienst aufgesagt. Lange Piermauern; die schwarzen Tore der Schleusen; steigende Deiche, die das grüne Land Wursten gegen Strom und Flut abschlossen. Er sah das alles, unbeteiligt und ein wenig gelangweilt.

Breiter lagerte sich das Wasser; ausdehnten sich die Ufer, sprangen im Nordwesten steilwinklig zurück, verrieten mit erlöschenden Schattenrissen irgendwo das 148 begrenzende Land. Über den Langlütjensand her wehte es steif und fröstelig. Die Wellen hoben sich grau und mißmutig.

Eberhardt saß achtern auf der schmalen Bank und prüfte aus verkniffenen Augen diese heimatliche Welt. Wie unmöglich war es, sie zu lieben. Wie unmöglich, hier Sonne und Freude zu empfinden. Es mochte angehen, daß an einem heiteren Sommertage die Deiche mit grünen Kuppen sich in den blauen Himmel verträumten; daß über spiegelblanker See zitternde Reflexe die Ebene von Meer und Himmel auflösten. Aber man konnte an den Fingern einer Hand die Sonnentage im Jahre zählen. Sonst flossen hier Gottes Schleusen ohne Unterlaß, und der Nebel seines Zornes, der kalte Atem seiner Unlust über dieses eintönige Land trieben über Deiche und Watten und Inseln.

Der Motor surrte gleichmäßig. Nur wenn stärkere Wellen das Boot unter dem Heck hochtrieben, lief die Schraube durch die nackte Luft und rasselte mit grelleren Tönen.

Endlich raffte Eberhardt sich auf: »Ich wollte dir etwas erzählen, Vater Büsing.«

Der Kapitän nickte. »Tu's nur, mein Junge.«

»Du mußt wissen, daß ich von zu Hause ausgerückt bin.«

Büsing nickte. Aber er drehte sich nicht um. Er schien völlig damit beschäftigt, zu steuern und den aufkommenden Schiffen auszuweichen.

Eberhardt stand aus und ging an den Ruderstand heran. Sein Gesicht hatte Falten, als sei er sehr alt. »Ich will dir mal was sagen, Vater Büsing. Ich habe mir nicht eingebildet, ich würde für alles, was da geschehen ist, nun 149 Rettung bei dir finden. Etwas mehr habe ich ja erwartet als deine ewige Seemannsruhe. Aber es macht nichts. Letzten Endes ist es mir auch egal, ob du mich verstehst. Ganz egal, hörst du? Jeder ist sich selbst der Nächste. Und darum ist mir schon damit gedient, daß ich darüber sprechen kann, daß ich Worte dafür finde . . . und daß es einer hört. Es muß nicht gerade der Kapitän Emmo Büsing sein. Verstehst du?«

Der Kapitän lächelte leise. »Weißt du, mein Junge: wir kneifen alle einmal aus. So fangen wir alle an. Es kommt für uns alle einmal so, daß uns der ganze Kram zu Hause nicht mehr paßt. Das ist alles zu eng und zu pütscherig. Das muß alles riesengroß sein wie die Nordsee und alle Wasser, die dahinter liegen. Und dann treiben wir uns ein paar Jahre in der Welt herum, und wenn wir vor Heimweh nicht gestorben sind, dann kommen wir eines Tages brav wieder nach Hause und lümmeln uns bei Muttern auf der Küchenbank herum. So geht das.«

Eberhardts Stimme überströmte von Hohn und Spott: »Ja, wenn man einmal im Leben Labskaus gegessen hat, dann schmeckt einem kein Hummer mehr. Ich weiß nicht, wann du jung gewesen bist. Es wird wohl mal anno Toback gewesen sein. Aber die Zeit bleibt nicht stehen und wir Jungen sind anders als ihr mit euren grauen Bärten. Und wenn ich, ich von zu Hause ausrücke, lieber Vater Büsing, dann hat es seine Art. Dann steckt etwas dahinter, was . . . Ja, verdammt, was mit eurem gesunden Gehirn nicht zu verstehen ist. Ich bin nicht Hinz oder Kunz! Ich bin ein Mensch, der noch zu jung ist, um hier oben zu ersticken! Wenn ich einmal gehe, dann sieht mich das Land hier nicht wieder. Verstehst du das?« 150

»Das verstehe ich . . . und das glaube ich nicht. Was ist denn passiert?«

Eberhardt wurde mißtrauisch. »Sag mal, hat man dir was erzählt?«

»Kein Wort«, versicherte der Kapitän.

»Du, ich glaub' dir nicht«, drängte der andere. »Ihr hängt alle wie die Kletten zusammen. Was der eine weiß, weiß auch der andere. Und du weißt was! Warum schleppst du mich hier auf das Wasser raus? Was soll diese ganze Fahrt? Du, ich trau' dir nicht!«

Er packte den Kapitän bei den Schultern und rüttelte ihn aus der urplötzlich aufspringenden Angst. Da ließ Büsing ruhig das Steuer los und ging an das Heck des Bootes. »Wenn du mir beim Steuern keine Ruhe läßt, dann kannst du mir ja auch diese Arbeit abnehmen.«

Damit setzte er sich auf die Bank. Das Boot trieb ohne Führung daher, schlingerte in den höher gehenden Wellen, trieb in die Wellentäler hinein und nahm hier und da einen Schlag Wasser über.

Eberhardt hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Eine entsetzliche Hilflosigkeit überkam ihn. Er wollte alles noch in einen Scherz umkehren und zwang sich zum Lachen: »Brumm nicht, Vater Büsing. Nimm das Steuer wieder.«

Büsing schüttelte den Kopf. »Steuer selber. Du willst dich ja doch selbständig machen. Dann kannst du hier ein wenig üben.«

Eberhardt sah, daß es Ernst wurde. Entschlossen stellte er sich an das Rad und fing das Steuer wieder ein. »Wohin soll's gehen?« 151

»Nordwest. Richtung Hoheweg.«

»Richtung Hoheweg oder bis Hoheweg?«

»Bis Hoheweg und darüber hinaus.«

»Du bist verrückt! Dein Kahn langt gerade zum Absaufen!«

»Einen Schlag mehr Backbord«, kommandierte Büsing ruhig. Eberhardt gehorchte, aber seine Erregung wuchs. »Was sollen diese waghalsigen Experimente? Dafür bin ich nicht zu dir gekommen!«

Büsings Stimme klang rauher: »Jeder hilft so, wie er kann. Ich kann keine gelehrten Abhandlungen mit dir reden. Ich habe nicht so gute Schule besucht wie du. Also bleib' beim Rad. Noch einen Schlag Backbord.«

Eberhardt begann, den Sinn dieser Fahrt zu verstehen. Er atmete tiefer und stemmte sich etwas mehr gegen den Wind, der jetzt steif aus dem Norden her aufsprang. Über dem Watt von Alte Mellum grieselte das Wasser mit erregten Kämmen. Vom Nordwesten her blänkerte es mit zackig-weißen Hauben. Schwerer Dunst lag in der Kimmung. Dabei war es kalt und durchdringend feucht. Windfahnen schlugen aus den Schornsteinen der einkommenden Schiffe. Sie lagen hoch, im Grau der Luft unwahrscheinlich hoch über dem niederen Kajütboot. Es tanzte auf und ab, sprühend am Kiel von andrängenden Wassern begossen. Aber es machte seinen Weg unbeirrt und gleichmäßig. Man bekam ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit, wie dieses Heben und Senken sich zu einem Rhythmus fügte, der schwer und voll von innerem Klang wurde. Fast hätte es Eberhardt Freude gemacht, so am Ruder zu stehen und dem tanzenden Schifflein den Weg zu weisen. Das Spielerische in ihm wurde wach und der 152 Ehrgeiz, sich hier zu behaupten. Verse fielen ihm plötzlich ein . . . Verse und Stimmen . . . Kerzenlicht . . .

»Schlaf nicht!« rief Büsing hinter ihm. Und jäh war alles ausgelöscht.

Der Leuchtturm Hoheweg kam in Sicht. Es war nichts mehr vom Strom zu erkennen. Es war nur noch der Name des Stromes hier gegeben. In Wirklichkeit trieben sie schon auf einer meergleichen Fläche. Kein Schutz von Deichen und Ufern mehr. Wasser ringsum, grüne, schäumende, ärgerliche, sprühende Wasser. Zischend gingen die Wellenkämme über das Vordeck, trieben den Freibord entlang und sammelten sich zu Eberhardts Füßen in blanken Lachen. Hin und wieder griff Büsing zu der breiten Holzschaufel und schöpfte das Wasser wieder über Bord.

Hoheweg blieb hinter ihnen. Stärker, verbissener, sturer kam ihnen der Wind aus Norden entgegen. Höher wurde der Atem der Wellen. In weiten gleichmäßigen Reihen kamen sie daher, rollend über den flachen Grund, in den Kronen vom Wind gefaßt und zerstäubt, eine unendliche, ewig wiederkehrende, sinnlose und unsinnige Kraft. Es gehörten schon Fäuste dazu, das Rad zu halten und es nicht unter dem wachsenden Druck des Ruders ausbrechen zu lassen. Es gehörte schon Mut dazu, in diese breiten, stiermäßigen Buckel der Wellen zu blicken und auf den Augenblick zu warten, in dem sie die Nußschale anpackten und hochtrieben. Dann hinunter in das Wellental; von allen Seiten umgischt von der grünen Flut; hinein mit dem Vordersteven in die anrückenden Mauern; mühsam wieder daraus hervor, triefend, während seitwärts schäumige Wasser abrieselten. 153

Und dann kam der Augenblick, in welchem die Stimme des Windes hörbar wurde. Bislang verbarg sie sich unter den Geräuschen des Motors, war kleiner und schwächer als das Rauschen der Wellen und das Aufprallen der Wasser. Jetzt aber, auf Meeresflächen frei und ungebunden, rief sie mit erwachenden Kräften, tönte wie aus hundert Muscheln, röhrte wie der Schmerz eines Tieres aus freier Wildnis, schrie und heulte fessellos und aus einem einzigen Atem in den Aufruhr der Elemente hinein. Wasserfetzen wurden hochgetrieben. Sie schlugen wie nasse Laken schmerzhaft in das Gesicht, peitschten, röteten die Haut und sogen das letzte Blut und das letzte Gefühl aus den erstarrten Händen.

Es war schwer, gegen diesen Druck des Windes zu atmen. Eberhardt neigte den Kopf zur Seite. Unwillkürlich folgten die Hände dieser Bewegung und ließen das Steuerrad um ein weniges nach Steuerbord ausschlagen. Aber Kapitän Büsing saß auf seiner Bank hinten am Heck wie ein Lehrmeister und verfolgte jede Bewegung des Bootes. Aus hundert Anzeichen, die nur er wahrnahm, lag ihm die gerade Richtung im Blute, kannte er die Straße, als wäre er auf dem festen Lande. »Weiter Nord«, rief er dem Jungen zu.

Gehorsam legte Eberhardt weiter backbord. Doch schon nach wenigen Minuten trieb er wieder ab. Es war nicht Ungeschick oder Unkenntnis der einfachen nautischen Dinge, es war vielmehr wie die äußere Betätigung eines schicksalhaften Dranges: der Wunsch, auszuweichen, dem ewigen Auf und Ab, dem unablässigen Steigen und Fallen auszuweichen und in den Tiefen, den ruhigeren Wellentälern endlich zu Rast und Ruhe zu kommen. Nicht die 154 Hand und nicht das Auge und nicht der Mut verfielen der Müdigkeit, sondern die Spannung der Seele ließ nach. Sie hatte keine Richtung mehr. Sie war verschlagen und verjagt von den Elementen, eingeschüchtert und mildem Schlafbedürfnis ausgeliefert aus der Erkenntnis der entsetzlichen Zwecklosigkeit, hier zu kämpfen und sich behaupten zu wollen. Was nützte aller Widerstand, was aller gute Wille, was alles Aufbäumen, wenn die unbedenkliche Kraft der Natur aufstand und sich in breiter Bahn dem kleinen Menschenwillen entgegen warf. Eberhardt fühlte: und hätte er die Kraft aus hundert glühenden Seelen zu vergeben, sie wären ein Nichts und ein spielerischer Hauch gegen die kalte Kraft dieses Meeres . . .

Er ließ das Rad fahren und taumelte gegen die Bordwand. Blitzschnelle Gedanken gingen durch sein Gehirn: jetzt sich fallen lassen. Eine kleine Neigung seitwärts – und es wäre geschehen. Die nächste Welle würde ihn forttreiben, die zweite ihn nach unten drücken, die dritte ihn festhalten . . . und endlich würde eine daher kommen, die ihn friedlich wie einen Schlafenden über die leuchtenden Kronen der Wellen gleiten lassen würde; und dann die letzte, die allerletzte, die ihn wieder hergab und ihn an das Ufer spülte als einen Befreiten und Befriedeten, ohne Last, ohne Schmerzen und ohne Schuld . . .

Unter dem Druck der Wellen und des Windes wich das Boot aus und rollte seitwärts in die Tiefe. Breit kam ein Schlag Wasser über Deck, traf Eberhardt und warf ihn gegen die Bordwand jenseits, daß es hohl in seinem Kopfe dröhnte. Aus letztem Trieb zur Selbsterhaltung richtete er sich wieder auf, taumelte und hielt sich am Steuerrad fest. 155

»Weiter Nord!!« schrie der Kapitän aus allen Lungen. Wieder gehorchte Eberhardt diesem Kommando. Das Boot stand wieder gegen Wind und Wellen. Es kämpfte schwer, aber es arbeitete sich vorwärts.

Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und hörte eine Stimme dicht an seinen Ohren: »Merkst du nun, wie man es machen muß? Man darf nie in die Wellentäler gehen; nie in einer Linie mit den Wellen sein. Wenn das einer tut, dann rollen sie sich über ihm zusammen. Da hilft dann kein Pumpen. Sie drückt dich nach unten und macht dich tot. Man muß immer quer in die Wellen hinein; sie immer senkrecht durchschneiden. Sie können so hoch sein wie ein Packhaus. Das tut nichts. Dann nimmt sie dich hoch und läßt dich wieder herunter. Aber sie trägt dich. Sie macht dich nicht tot. Merk dir: nie in die Wellentäler hineingehen. Da stirbt man.«

Eberhardt hörte noch, wie hinter ihm taktmäßig eine Pumpe arbeitete. Es war ein unklares Geräusch, das den Weg zu seinem Bewußtsein durch viele, viele Schleier fand. Er stand da an seinem Steuerrad wie ein Automat, fühlte, wie er das Boot zwang, die Wellen zu durchschneiden, daß sachte Nebel sich um ihn legten . . . und fand später keine Erinnerung mehr an den Augenblick, in welchem ihn das Bewußtsein verließ . . .

Eberhardt öffnete die Augen mit einem schmalen Spalt. Ein heller, stählern blauer Himmel war über ihm. Er wurde in einer Wiege sanft und gleichmäßig geschaukelt. Wären Bäume ihm zur Seite gewesen, er hätte an die Hängematte in Zwischenahn gedacht. Aber der Geruch ringsum, der herber war als der des kleinen Binnenwassers, stimmte nicht zu dem Traumgebilde. Darum 156 schloß er die Augen wieder und wünschte sich in den Schlaf zurück.

Der Schlaf kam nicht. Es wurden vielmehr alle Geräusche der Umgebung klarer und wahrnehmbarer. Schritte über Holzbohlen waren ganz nahe bei ihm. Er hob den Kopf. Die Piermauer ragte neben ihm auf. Das Boot lag vertäut an einem Pfosten. Kapitän Büsing bückte sich über den Motor und reinigte ihn. Strahlend und herb lag die Sonne rings auf den leise bewegten Wassern. Die Uhr am Lotsenhause zeigte die vierte Stunde des Nachmittags.

Eberhardt war keineswegs erstaunt. Es waren so viele Dinge im Leben möglich; warum nicht auch dieses, daß ein junger Mensch von schlafloser Nacht und Erregung und Sturm und Überanstrengung zu Boden geschlagen wird? Empfand er Scham? Er lächelte. Kein Grund, sich zu schämen. Kein Grund, überhaupt etwas in diesem Augenblick zu empfinden. Er war wieder an der Mole des Lotsenhauses, wie am Morgen dieses Tages. Das war alles. Scheinbar war alles so, daß es strebte, zu seinem Ausgang zurückzukommen. Also war alle Erregung verschwendet.

Er stand langsam und umständlich auf und reckte seine Glieder. Büsing drehte sich um, als ob nichts geschehen sei und packte die Putzlappen in eine Kiste. »Taktvoller Knabe« höhnte Eberhardt in sich hinein, und er ertrug es nicht, daß dieser einfache Mensch so schonsam mit ihm verfuhr. »Ich hab' wohl ein bißchen abgebaut?« fragte er.

»Du hättest mehr Schnaps trinken sollen«, meinte Büsing sachverständig. Aber in seinen Augen wohnte die Sorge und eine stille Teilnahme, die sich nur nicht aus 157 der schweren Decke der Gewohnheit befreien konnte. Wenn er vermocht hätte, sie zu heben, er würde diesen blassen jungen Menschen wie ein Kind auf die Arme genommen und nach Hause getragen haben. So sagte er nur: »Wir wollen Kaffee trinken gehen.«

Gesche Büsing stand in der Türe, die Arme breit und energisch in die Hüften gestützt. Sie nickte den beiden entgegen und ging in den Hausflur zurück, noch ehe sie das Haus betreten hatten.

Am Eingang der Straße wartete ein großes, geschlossenes Auto. Er kannte es, und weigerte sich doch, es zu kennen.

Er hielt den Kapitän am Ärmel zurück: »Sag' mal, ist Vater drinnen?«

»Ich glaube wohl.«

»Hast du ihm Bescheid gegeben?«

»Ich habe telephoniert. Wir liegen ja schon lange an dem Pier. Aber du sollst nicht denken, die Sache wär' abgekartet. Du weißt, ich spiel' nicht falsch.«

»So, so«, brummte Eberhardt. »Sag' mal noch eines, nur so der Ordnung halber: wann hast du Kehrt gemacht?«

»Na, kurz vor Rotesand.«

»Die Sache wurde dir wohl zu brenzlich? Dachtest wohl, ich ginge dabei in die Binsen?«

Büsing schüttelte den Kopf: »Es war nur, weil wir sonst mit dem Brennstoff nicht gereicht hätten. Im übrigen solltest du lieber daran denken, was du deinem Vater sagen willst.«

»Gar nichts!« schrie Eberhardt und spie wütend aus.

Sie gingen in die kleine Vorderstube. Im Sofa saß Hermann Melchior, etwas steif und feierlich, die Hände 158 im Schoß übereinander gefaltet. »Sieh an«, dachte Eberhardt, »er sitzt auf der gleichen Stelle, auf der sein Sohn, der Lump, heute Morgen gesessen hat.«

Er zog die Mütze und sagte mit kalter Stimme: »Guten Tag.«

»Guten Tag, Eberhardt.«

Aha, da war diese kalte, klanglose Stimme, diese sachliche Fanfare, die Krieg und Feindschaft ansagte. »Guten Tag, Eberhardt«, das war die Eis gewordene Höflichkeit und Beherrschung, die erstarrte Form, die in jedem Augenblick nach allen Seiten ausbrechen konnte. Nur wußte man nie zuvor, welche Richtung sie wählen würde. Darum zog Eberhardt es vor, selber die Richtung zu bestimmen.

»Ich möchte dir sagen, Vater, daß ich nicht wieder nach Hause zurückkomme.«

Hermann Melchior neigte ein wenig den Kopf: »Das habe ich auch keineswegs erwartet.«

Das klang verdächtig, das klang unheimlich wie das Nebelhorn der Schiffe, die durch unsichtige Nacht fahren und von denen man nicht weiß, wo sie im nächsten Augenblick auftauchen. Man kann nur, mit dem Gehör tastend, die Richtung erraten. Plötzlich stehen sie dann mit drohendem Bug in den Flanken.

»Ich gedenke vielmehr«, fuhr Eberhardt fort, »ins Ausland zu gehen.«

Wieder diese sanfte, fast höfliche Neigung des Kopfes. Die graue Strähne an den Schläfen bekam davon einen Schimmer Licht aus dem kleinen Fenster her: »Es entspricht durchaus meinen Erwartungen, daß du ins Ausland gehst. Im übrigen entspricht es aber auch meinen Absichten.« 159

Eberhardt verzog den Mund: »Absichten? Willst du damit sagen . . .?«

Der Vater nickte nur. Dann griff er zur Kanne und schenkte sich ein. Er tat es mit einer so betonten Bewegung, mit einem so vollendeten Ausdruck von Gleichgültigkeit und Despotie, daß Eberhardt wie geschlagen aufsprang und mit dieser Bewegung seinen Stuhl umwarf. »Ich lass' nicht mehr über mich verfügen. Ich bin dein Sklave nicht! Lange genug habt ihr mich geduckt und gedemütigt . . .«

Da standen mit einem Male die beiden grauen, harten Augen über ihm, packten ihn noch einmal an mit all der gewohnten und geheiligten Gewalt, bohrten sich noch einmal mit ihrer Unbezwinglichkeit und Kraft in seinen lodernden, ungereiften Willen hinein und hielten ihn nieder. Dazu die Stimme, jetzt etwas gedämpft und vom Übermaß der Erregung aufgerauht. »Noch bist du unmündig. Noch hast du zu parieren. Mein Wille gilt noch. Nicht deiner. Und wenn ich dich in die Ecke schlagen soll, wenn ich zum ersten Male in meinem Leben Hand an dich legen soll: es geschieht, was ich dir sage. Was ich dir befehle!«

Eberhardt wich in die äußerste Ecke des Zimmers zurück. Noch hatte er nicht die Waffe gefunden, dieser Gewalt zu begegnen. Mochte ihm der alte Büsing predigen, man müsse die Wellen durchschneiden, um ihren Widerstand zu brechen – hier zwang es ihn doch in die Wellentäler der Unterordnung und des Gehorsams. –

Hermann Melchior ging mit großen Schritten durch den Raum: »Ich weiß sehr gut, daß du mir diese Stunde nicht vergessen wirst. Es ist mir nicht gleich, denn du bist 160 mein Sohn. Aber wenn es nicht anders sein kann, dann kann ich auch nichts daran ändern. Ich bin für dich verantwortlich, als Vater, als Mensch. Deiner Mutter willen . . . der Familie willen . . . und wegen unseres guten Rufes. Ich tue, was ich tun muß. Als Sklave fühlt sich nur, wer als Sklave empfinden kann. Ich fühle mich als freier Mann . . . und als einer, der im Rechte ist. Also geschieht, was ich für recht halte.«

Eberhardt war wie betäubt. Er sah in die Ecke des Zimmers und erwog einen Gedanken so lange, bis er auf der wiederholten Frage endlich sich zu Worten verdichtete: »Warum gehorche ich dir eigentlich?«

Dieses Mal fuhr Hermann Melchior nicht mehr auf. Diese Frage, die so schlicht und doch so unerhört war, stieß ihn selber in Abgründe des Fragens und des unsicheren Tastens. Ja, warum gehorcht einer? Aus welchem Grunde und aus welcher Notwendigkeit? Ist das ein Grund, daß es seit undenkbaren Zeiten immer so gewesen war? Und mit welchem Recht vergaß er selbst, Hermann Melchior, die Zeit, da er sich gegen seinen Vater aufgelehnt hatte . . . um sich dann zu beugen und einen Weg zu gehen, der ein Weg der anderen war, ein Weg, an dessen Seiten die Meilensteine aus Vererbung, Gewohnheit und Tradition standen.

Er wollte antworten, es sei heiliges Erbgut, Bestand aus den Jahrhunderten her, Verpflichtung aus der Kette der Geschlechter. Aber alle diese Worte lagen ihm schal auf der Zunge. Sie hatten nur den Wert eines Wortes und taugten nicht dazu, um zu überzeugen. So brach er den Zweifel mit der Gewichtigkeit der Tatsachen inmitten durch und antwortete: »Es genügt, daß du gehorchst. Es 161 ist jedermanns eigene Sache, dafür einen Sinn zu finden. Du hast ja auch bisher einen Sinn für das gefunden, was du getan hast. Hilf dir weiter.«

Der Junge warf den Kopf in den Nacken. Der Trotz steifte ihn. Ihn durchströmte der Hohn über diese Antwort, die keine war, über diese Macht, die sich nicht zu einer Begründung verstand . . . und daneben war die Schadenfreude, daß dieser da, der Mann mit der Dompteurpeitsche, ihn in die Freiheit hinausschickte, während er noch glaubte, ihn in einen Käfig zurückzutreiben.

»Also wenn ich dich recht verstehe, willst du mich ins Ausland verschicken?«

»Das ist meine Absicht.«

»Und du verrätst mir auch, wohin?«

»Gerne. Zunächst wirst du nach Guayana gehen, oder präziser gesagt: nach Surinam. Du trittst bei de Graff als Volontär ein, und zwar für die Dauer von drei Jahren. Hast du verstanden? Drei Jahre!«

»Vater Büsing«, rief Eberhardt, »gib mir einen Atlas. Schnell.«

»Willst wohl kontrollieren?« höhnte der Vater.

Aber Eberhardt hörte ihn nicht. Er blätterte in den bunten Karten und beugte sich, während sich seine Wangen leicht röteten, über den Tisch.

»Kannst du Karten lesen, Emmo?« fragte er.

»Wasserkarten liegen mir besser«, sagte der Kapitän. Aber auch er fuhr erregt mit den Fingern über die Blätter. Das da waren seine Straßen und Wege. Jede Färbung, die hier eingezeichnet war, vermittelte ihm die greifbare Vorstellung von Fahrt und Weite, von Strömung und 162 Untiefe. Die Oberfläche des Erdballes sprach da zu ihm. »Hier, Paramaribo, das ist der Hafen. Da landest du. Ist gerade kein idealer Hafen, aber die ganze Küste da oben ist so blank.«

»Das ist mir egal, Emmo. Irgendwo wird doch eine Gelegenheit sein, auszusteigen. Und daran liegt mir. Sieh dir das an: der Küstenstrich hier am Rande, der scheint niedrig zu sein. Die kleinen Schraffierungen müssen wohl Sümpfe bedeuten. Etwas Wald scheint dazwischen.«

»Wachsen Mangroven«, warf der Vater ein.

Es kümmerte sich niemand um ihn. Eberhardt zeigte weiter: »Hier setzt aber weiter oben dicker Wald ein. Das kann nur Urwald sein. Und dahinter die ebenen Flächen. Sieh das doch, Vater Büsing. Ganz weite Flächen, als ob es Grasland wäre.

»Savannen sind das«, rief Hermann Melchior dazwischen. Auch in ihm war jetzt eine Ahnung von Reisefieber, verschüttete Erinnerung an Fahrten aus längst abgetaner Jugend. Es waren jetzt drei Köpfe, die sich erregt über die Karten beugten.

»Und dann setzt das Bergland ein. Hier, das ist die Wilhelminakette, über 1000 Meter hoch. Alles hier Wald, Gebirgswald, bis zu den Tumuc-Humac-Bergen. Da, das sind alles Kakaoplantagen. Da wird Kaffee gebaut. Man hat auch mit Kautschuk angefangen. Etwas Waschgold . . .«

Eberhardt wandte sich um. »Ja, man kann jedes Land in seine Ausfuhrartikel und in seinen Warenumsatz zerlegen. Einfachste Möglichkeit, die Welt zu begreifen. Aber so will ich nicht sehen. Du kannst mir deinen Willen aufzwingen, aber nicht deine Augen. Ein Bergwald ist ein 163 Bergwald, und es ist mir gleich, ob man Kakao oder Kaffee darauf zieht. Du kannst mich hundertmal zu deinen Kautschukbäumen schicken, ich lande doch da, wo ich will . . . beim Land, bei der Sonne, bei der Freiheit!«

Hermann Melchior lachte behaglich: »Wie du dir das denkst! Willst du den indischen und javanischen Plantagenarbeitern das Heil der Menschheit und der Freiheit beibringen? Oder den holländischen Farmern und Kaufleuten? Die einen sind zu dumm, die anderen zu schlau. Wenn dir der Javane etwas von seinem Boro Budur erzählt, bist du erschlagen. Und wenn der holländische Kaufmann dir erzählt, wie er Geschäfte macht und wie er kolonisiert, dann bist du erschossen. Und wenn du da dumme Streiche machst, dann wirst du eines schönen Tages ausgewiesen. Verstehst du? Freiheit ist eine wunderschöne Sache, wenn sie sich in Zucht und Ordnung hält. Du wirst schon noch dahinter kommen, mein Lieber.«

»Gewiß werde ich dahinter kommen, lieber Vater. Die Welt ist ja nicht gerade sehr klein. Und wenn man mich an einem Orte herauswirft, dann wird sich schon ein anderer finden. Ich werde ja auch mal eines Tages die blanke Münze haben, mit der ihr alle zahlt. Und es kann sein, daß ich einen anderen Gebrauch davon mache als ihr. Wegschicken kannst du mich, aber nicht umkrempeln.«

»Jetzt hör' auf mit diesen Redensarten«, sagte Melchior. »Es wird langweilig. Es gibt bei uns nur zwei Möglichkeiten: wenn einer aus unserer Art und Rasse ausbricht, dann geht er entweder vor die Hunde, und dann ist er für uns erledigt und abgetan, oder er behauptet sich. Dann aber kommt er unfehlbar zu uns zurück, zu uns und unserer Art. Wir sind ein starkes Geschlecht, wenn ich das sagen 164 darf. Wenn wir oben bleiben, dann bleiben wir es so, wie unsere Alten es getan haben.«

Damit erhob er sich und zog seinen Mantel an. Eberhardt tat ein gleiches. Er lächelte höhnisch zu Emmo Büsing hinüber: »Ich hab' dir ja gesagt, wenn man einmal im Leben Labskaus gegessen hat, dann schmeckt einem kein Hummer mehr. Also, leb' wohl, Vater Büsing. Ich gehe jetzt in die Verbannung. Der ungeratene Sohn wird verschickt, damit erst mal Gras über die Geschichte wächst. Wenn die »Leute« nicht mehr an die Sache denken, dann darf er wiederkommen und seinen angestammten Platz wieder einnehmen. Wird ein vergnügtes Wiedersehen werden, Vater Büsing. Hoffentlich wird es dann nicht nötig sein, daß ich dir erst die Haustürscheibe einschlage, ehe du mich hereinläßt und mir Kaffee gibst. Mach's gut, Vater Büsing.«

Sie drückten sich die Hände. »Gute Fahrt«, sagte der Kapitän. »Und wie du es auch anstellen willst, für alle Fälle vergiß nicht: immer quer durch die Wellen. Die Wellentäler sind gefährlich. Und wenn du mal abtreibst: weiter Nord, muß du dann denken. Und dann gib dir innerlich einen Schlag Backbord.«

Hermann Melchior stand an der Türe und wartete geduldig. Sein Gesicht verriet keine Teilnahme. Als draußen der Wagen vorfuhr, winkte er mit der Hand: »Schluß jetzt. Auf Wiedersehen, Büsing.«

Damit ging er hinaus. Eberhardt warf noch einen Blick auf den offenen Atlas, dann ging er nach.

Auf der Fahrt zum Lloydpier dachte er angestrengt darüber nach, wie es wohl mit seiner Ausrüstung sein würde. Er wollte deswegen fragen, als der Vater sich zu 165 ihm wandte und wie nebenher sagte: »Deine Koffer sind schon an Bord. Es ist alles darin, was ich für nötig hielt. Mutter wartet in der Lloydhalle. Du wirst sehr kurzen Abschied von ihr nehmen. Sie darf unter keinen Umständen aufgeregt werden. Sie verträgt es jetzt nicht. Also richte dich danach.

Als der Wagen hielt, stand Mutter Ethel schon in der Türe und sah mit ängstlichen Augen nach ihrem Kinde. Wie blaß sie aussieht, dachte Eberhardt. Er lächelte ihr freundlich zu. Sie strich ihm über das Haar. »Na, du Ausreißer? Wirst du jetzt vernünftig werden?«

Er nickte stumm. Sie zupfte an seiner Krawatte. »Es lag doch sowieso in deinem Ausbildungsplan, daß du eine Zeitlang ins Ausland gehen solltest. Nimm's so hin, wie es ist.«

Er nickte und streichelte ihre Hand. Plötzlich sah er, wie die Augen der Mutter in verhaltener Angst aufbrannten. Sie nahm seinen Kopf, beugte sich dicht zu seinem Ohr und flüsterte: »Versprichst du mir, daß du zurückkommst?«

Er nickte wieder. Aber das genügte ihr nicht. »Sag' ja.«

Er schwieg. »Sag' ja«, drängte sie, während es feuchter in ihren hellen Augen schimmerte. »Ich hab' ja nur einen Jungen.«

Es lag ihm die Frage auf der Zunge: »Hast du überhaupt einen Jungen?« Aber er fühlte, wie des Vaters Hand, leise Mahnung und Warnung, sich auf seine Schulter legte. Da biß er die Zähne zusammen und sagte: »Ja.«

Ethel nickte ihm zu und drückte seine Hand. Das war der Abschied. 166

An dem Pier lag die Sierra Ventana, zur Abfahrt bereit. Die letzten Passagiere gingen über die Laufbrücke. Hermann Melchior hielt seinen Sohn einen Augenblick zurück: »Hier ist ein Paß, da ein Kreditbrief, hier etwas bares Geld, damit du dir auf der Überfahrt helfen kannst.«

Eberhardt nahm die Sachen an sich. »Danke«, sagte er und wollte sich zum Dampfer umwenden. Aber da stand zwischen ihm und dem Vater mit einem Male ein Schweigen von erschütternder Gewalt. Sie fühlten sich beide davon so angepackt, daß sie, einander nur halb zugekehrt, stehen blieben und vor dem Gefühl, das sich in der nächsten Sekunde offenbaren mußte, grauenhafte Angst empfanden. Eberhardt würgte an einem Wort, das ihm in der Kehle klebte, an dem Worte: Vater. Undenkbar, wie schwer es sich aussprechen ließ. Und Hermann Melchior würgte an einem Berg verhaltener und verschütteter Liebe, an einem brennenden Weh des Abschieds und an dem Ruf, den die Gletscher unerlöster Tränen nicht freigeben wollten: Junge!

Dröhnend schlug das Heulen einer Sirene in ihr Schweigen. Da drehte Hermann Melchior seinen Jungen an den Schultern herum, sah ihm tief und brennend in die Augen und sagte: »Nicht wahr, du verstehst . . .?«

Eberhard nickte: »Ich verstehe schon . . .«

Dann ging er über die Brücke und betrat das Schiff.

Vom Sonnendeck klirrte die Blechmusik der Schiffskapelle ihre alte und gewohnte Abschiedsweise. An den Fenstern der Promenadendecks stauten sich die Passagiere, um ihr Lebewohl zu winken. Eberhardt ging still und ein wenig verächtlich an ihnen vorüber. Ihn ärgerte diese 167 Unsitte rührseligen Abschieds. Man geht oder man bleibt. Ein drittes gibt es nicht.

Und doch drängte er sich im gleichen Augenblick, von einem Doppelschlag des Herzens ängstlich getrieben, an eines der Fenster und sah zu dem Pier hinüber. Es standen viele Menschen da. Sein Vater war nicht darunter. Da wandte er sich auch entschlossen ab und ließ sich seine Kabine anweisen.

Das leise Erzittern des Schiffsrumpfes, vom gewaltigen Gang der Maschinen her, kam ihm leise zu Bewußtsein. Er horchte innig darauf. Das war seine Abschiedsweise; nicht das blecherne Klirren da oben von den Verdecks her. Hier zitterte die ungeheure Kraft, die sich einen Weg für ihre ungeheuren Möglichkeiten suchte. Wohl war es eine gebändigte und gezügelte Kraft. Sie war nicht frei. Sie stand im Dienste und mußte sich einordnen. Aber für alle Kräfte würde einmal der Tag kommen, da sie Herren ihrer selbst waren, Meister ihres eigenen Entschlusses, so wie er, Eberhardt Melchior, mit eigenem und freiem Entschluß seinen Weg . . .

Da bekamen seine Augen mit einem Male eine starre und erschreckte Weite. Diese letzten Stunden waren zu schnell und gewaltsam gewesen. Es hatten sich da Dinge ereignet, deren Herr er nicht geblieben war, die ihn überwältigt und vergewaltigt hatten. Denn aller Weisheit und Erkenntnis letzter Schluß war doch, daß er nicht einen eigenen Weg ging, sondern daß man ihn verschickte, daß man ihn abschob, wie einen Verbrecher deportierte . . . und wenn er auch zehnmal in den Augen der anderen, Beschränkten und Verdorrten ein Verbrecher war, vor sich und seinem Gewissen konnte er noch vieles an solchen 168 Dingen und Taten tragen. Das war kein Grund, die Freiheit der Entschließung, das eigene Ich, das ganze Selbstbewußtsein aufzugeben . . .

Er stand auf und drückte seine Stirne an das schwere Glas des Bullauges, bis er den Pier und damit den letzten Streifen heimatlichen Landes sehen konnte. Dann ballte er seine Fäuste und schrie, während die Tränen hemmungslos über sein Gesicht liefen, die Summe seines Gefühls und seiner Erregtheit: Haß, Haß, abgründigen Haß in das versinkende Land hinein . . .

 

Ende des ersten Teils.

 


 


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