Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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Erster Teil / Jugend

1. Kapitel.

Eine Wand aus blauschwarzen Wolken zog über die Stadt. Als sie mitten über der Weser stand, schickte sie ein volles Maß von eiskaltem Wasser prasselnd über die Dächer und Straßen. Der Wind fuhr darein aus Nordost und sorgte dafür, daß dieser Guß in wohl ausgerichteten, schrägen Strahlen hernieder kam. Die sauberen Straßen waren vom Übermaß der Regen blank gewaschen.

Dann schob der Wind den blauschwarzen Vorhang weiter. Aus den letzten zerfaserten Rändern her blinzte unvermutet die junge Sonne mit einem kalten Licht, das in die Augen stach und sich im Widerschein der blanken Nässe vertausendfachte. Die dunkle Stadt wurde mit einem Male hell. In das Frösteln aus Wind und Regen und schräger Sonne, in die unwirsche, feuchte Luft und das drohende Gewölk stellte sie das junge Grün aus vielen Bäumen, sprießendes Buschwerk der Wälle und, aus endlosen Reihen kleiner Vorgärten, frühes und eigenwilliges Blühen von Krokus, Forsythien und Stiefmütterchen. Es wehrte sich jedes freie Stückchen Land und Erde gegen einen Winter, der nicht enden wollte. – – –

Eberhardt Melchior hockte in dem alten Plüschsessel, der noch ein Erbstück von Urgroßvater Jakob war, und sah mit milder Verschlafenheit in den Wechsel von blauem Dunkel und stechender Sonne. Er nahm an diesen Vorgängen nur geringen Anteil. Zu dem Sauerbrunnen, den man ihm 8 vorsorglich auf sein Zimmer gestellt hatte, wünschte er sich mit aller Inbrunst ein Glas Kognak, um die letzten Folgen der Abiturientenkneipe zu vertreiben. Er konnte es nicht verantworten, in diesem Halbschlaf vor die liebevollen, aber aufmerksamen Augen der Familie zu treten.

Er schlich endlich die Treppe hinunter bis in das Souterrain. Er wagte sich nicht in die Küche hinein, aber er verständigte, ehe er die Gartentüre aufschloß, mit einem schnellen Blick Gesche Büsing, die heute, wie alljährlich, zur Aushilfe gekommen war.

Gesche Büsing ließ sich Zeit. Je älter Eberhardt wurde, desto mehr Gewicht legte sie darauf, zu betonen, daß sie ihn als jämmerliches Wurm von wenigen Tagen nicht nur auf den Armen getragen, sondern daß sie ihn sogar – mit Respekt zu sagen – im wahren Sinne des Wortes ernährt habe. »Ernährt oder genährt?« fragte Eberhardt jedesmal ernsthaft, worauf Gesche Büsing jedesmal schamhaft und unwillig errötete.

Sie trat zu ihm in die Gartentüre und hielt etwas unter der Schürze versteckt. »Er kann das Naschen nicht lassen«, sagte sie unwirsch und drückte ihm eine kleine Himbeertorte in die Hand. Eberhardt sah enttäuscht und traurig darauf nieder. »Gesche, sag' mal, kannst du mir vielleicht aus der Verlegenheit helfen?«

Sie machte mit Daumen und Zeigefinger zählende Bewegungen: »Schon alles Taschengeld verast?«

»Gesche«, sagte er ernst und würdevoll, »ich bin ein bremischer Kaufmannssohn, und der behält immer fünf Pfennig als Reserve. Heute brauche ich . . . einen Kognak«.

»Das bekömmt nicht. Das macht hitziges Blut.« 9

»So? Aber dein Mann säuft doch auch Kognak!« schrie er entrüstet.

»Mein Mann säuft nicht. Er nimmt sich mal einen. Und denn ist er Kaptän und heißt Emmo Büsing. Und dich hab' ich schon als jämmerliches Wurm . . .«

»Ja«, schimpfte er. »Ich weiß wohl: und dann habe ich dich – mit Respekt zu sagen – ernährt. Aber sonst hast du nichts für mich übrig, du . . . du Hippotamus!«

Er stampfte weg. Sie sah ihm nach und fragte erschreckt: »Wen bin ich?«

Eberhardt stieg wieder nach oben. Im Eßzimmer hörte er hantieren. Er sah hinein und entdeckte Haberkost, den Lohndiener. Er ging zu ihm hin, schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich: »Herr Haberkost, darf ich Sie um einen Kognak bitten? Ja oder nein. Wenn du nicht willst, dann sag's gleich, und wenn du mir vorhalten willst, du hättest mich als jämmerliches Wurm auf den Armen getragen, wie der Plesiosaurus da unten, die Gesche Büsing, dann soll dich der liebe Gott . . .«

Haberkost wich entsetzt zurück. »Mein Gott, du büscha noch nicht wieder ganz nüchtern. Denn nimm man keinen Kognak. Der macht . . .«

»Der macht hitziges Blut. Weiß ich schon von dem Mastodont da unten.«

Haberkost plinkerte: »Aber wenn man einen Pilsener drauf gießt, denn löscht der alles«.

Sie sahen sich um wie die Diebe. Dann schlichen sie vereint zu dem Beckrögschen Syphon und erlabten sich an Pilsener.

»So«, drängte Haberkost. »Nu takel dich an. Und denn mach' dir beim Anziehen heftige Bewegung . . .« 10

»Warum denn?«

»Ja, denn nachher kömmt die Kohlensäure vom Pilsener hoch, und wenn du dann deinen Vers aufsagen mußt, und mitten drin fängst du an und . . . und . . .«

»Und rülpst«, ergänzte der Junge sachlich.

»Swien«, sagte Haberkost und wandte sich verletzt ab.

Eberhard stieg in den feierlichen Smoking, das Geschenk der Mutter Ethel für das bestandene Examen. Toni, die angeheiratete Kusine, hatte ihm Pumps dazu geschenkt. Von Fridel hatte er den grauen Seidenbinder bekommen, und von Mähren (dem Rotweinfritzen, der sich das schließlich leisten konnte) die beiden matten Perlen im Oberhemd.

Während er den Kragen umlegte, erschien Gesche Büsing (wie immer, ohne anzuklopfen) mit hochrotem Gesicht und trug auf einem Tablett ein Glas Kognak.

Eberhardt kniff die Lippen zusammen. »Nein, danke, Gesche. Kognak macht hitziges Blut.«

Sie sah ihn starr an: »Du bist 'ne undankbare Kreatur.« Damit ging sie.

Eberhardt feixte. Nach einer Weile rief er: »Gesche! Gesche!«

Sie gab keine Antwort. Er lief zur Türe und sah sie noch auf der Treppe: »Gesche, gib mir den Kognak nur her.«

Ernst und feierlich antwortete sie: »Ich habe ihn ausgetronken. Er ist eine Gottesgabe.«

Eberhardt kreischte vor Vergnügen, so daß unten Mutter Ethel die Türe ihres Schlafzimmers öffnete und mit hochgezogenen Brauen fragte: »Oh, was ist?«

Mit einer Entschuldigung zog er sich zurück. Der Schreck 11 saß ihm in den Gliedern. Er wurde zur rechten Zeit daran gemahnt, daß dieses Haus keinen Lärm, nicht einmal ein lautes Lachen vertrug. Nur das Lächeln war hier beheimatet, das unverbindliche, höfliche, zu nichts verpflichtende Lächeln; und vielleicht ein- oder zweimal im Jahre (so wie heute) das stolze, zufriedene, herzliche und zustimmende Lächeln.

Er ging auf Strümpfen durch das Zimmer, bis er ganz fertig war. Dann zog er die Pumps an und stieg langsam die Treppe hinunter. Er klopfte an die Türe zum kleinen Kabinett, in dem sich sein Vater aufzuhalten pflegte. Es bestand sonst wenig Anlaß, dieses Zimmer zu betreten. Als Kind war er darin geduldet und durfte zwischen dem schweren Gestühl und dem niederen Schreibtisch spielen. In den ersten Schuljahren wurde er dazu erzogen, den Vater so wenig wie möglich hier zu stören, und späterhin betrat er dieses Zimmer nur noch, wenn man ihn hineinrief oder wenn es gar nicht zu vermeiden war. Heute ging er hinein, weil der Vater gewünscht hatte, ihn noch vor der Ankunft der Gäste zu sehen.

Hermann Melchior saß zurückgelehnt da und sah durch das Fenster in die Gartenbäume. Er hielt einen kostbaren kleinen Stab aus Beni-Bronze in der Hand und spielte achtlos damit. Sonst war alles an ihm Ernst und Ruhe und Sammlung, vom hochgeschlossenen schwarzen Anzug bis zu dem lichten Streifen Grau an den Schläfen.

»Guten Tag, Vater.«

»Guten Tag, mein Junge.« Er wandte sich halb um, prüfte aus hellgrauen Augen den Anzug seines Sohnes und sagte dann zufrieden: »Tadellos«. Dann schwieg er.

»Soll ich sonst noch etwas, Vater?« 12

»Sonst nichts, mein Junge.«

Eberhardt ging wieder hinaus. Er schloß die Türe geräuschlos; aber auf dem Korridor riß er sich vor Wut den Binder schief: »So, damit nicht alles so tadellos ist! Man meint wunders, was los ist, und dann wird man inspiziert, ob das Etui gut sitzt.«

Bei diesem Zorn lief ein wenig Enttäuschung mit unter, denn wenn er auch immer widerstrebend in das kleine Kabinett ging, so war doch jeweils damit ein Anspruch auf irgendeinen ernsten und feierlichen Vorgang gegeben: ein Lob oder eine Ermahnung oder die Ankündigung einer Reise oder die Überreichung eines Geschenkes. Aber daß er sich just an diesem Tage als Kleiderstock hinstellen mußte, empörte ihn.

Unten im Entree stand Haberkost und zog sich die neuen, weißen Glacéhandschuhe an. Er tat es zur rechten Zeit, um Onkel Philipp einlassen zu können. Gott sei Dank, dachte Eberhardt. Jetzt gibt's Krach.

Und schon setzte Onkel Philipps dröhnender Baß ein, und schon fiel, wie seit zwanzig und mehr Jahren, wie das Ergebnis guter, alter, bewährter Regie, das Stichwort: »Tag Haberkost. Der Mann, der immer weiß, was der Haber kost'.«

Haberkost lachte hell und zurückhaltend, Onkel Philipp dröhnte eine kurze, behagliche Salve.

»Aha, der Onkel Philipp«, sagte Eberhardt von der Treppe herunter.

»Jawohl, Herr Junior. Gewöhn' du dir man auch so eine Lache an, dann brauchst du keine Visitenkarte, und die Leute wissen gleich, mit wem sie es zu tun haben. Und 13 im weiteren herzlichen Glückwunsch. Bist noch so eben mit durchgegangen, was?«

»Besser als nichts«, gab Eberhardt zurück.

»So meine ich's ja nicht, mein Bester. Mir ist die Sache damals überhaupt daneben gelungen, und ich bin doch zweimal Senator gewesen und bin mit meinen sechzig Jahren immer noch ganz lustig.«

In der Türe zum »Teesaal« erschien Ethel Melchior. Sie trug ein Kleid aus schwerer, gelber Rohseide, das hoch bis an den Hals hinaus geschlossen war. Ihr schmales, gleichmäßiges Gesicht stand mit matter Tönung eine Nuance tiefer über der Farbe des Stoffes.

»Das ist Schwager Philipp«, sagte sie mit ihrem stark englischen Akzent. »Er lacht so gesund. Man braucht ihn nicht zu fragen, wie es ihm geht.«

»Frag' immerhin, gnädigste Schwägerin. Schlimmsten Falles kann man sich mal behaglich über die Last des Lebens ausstöhnen. Aber ehe ich es darüber vergesse: gratulor zum Erfolg deines filius

Sie sah schräg zu Eberhardt hinüber: »Danke, Philipp. Zuweilen wäre es sehr schön, wenn er noch nicht so weit wäre.«

»Aber zuweilen wäre es schön, wenn du mich erst los wärest, ja?«

»Oh, du weißt . . .«, sagte sie mit einem warmen Blick.

Onkel Philipp grunzte: »Familienidylle, Vers eins. Da kommen die anderen Strophen: ein Teil meiner wohlgeratenen Kinder«.

Haberkost riß den Windfang auf. Es erschien Bernd Melchior, und mit ihm zusammen, Arm in Arm, seine Toni, die zu Recht die »junge Frau« hieß, weil sie nächst 14 Eberhardt die jüngste im Familienkreise war und den Namen der Melchior erst seit einigen Monaten trug.

Vor jeder offiziellen Begrüßung wandte sich Onkel Philipp an Haberkost: »Sehen Sie sich die genau an, Haberkost. Das ist meine neue Tochter. Was sagen Sie dazu?«

Haberkost zog die Augen ein und sagte ernst: »Gut sieht die aus. Die paßt zu uns«.

»Na«, meinte Philipp erleichtert, »dann werden wir sie wohl auch noch in Ehren groß kriegen«.

Toni strahlte vor Begeisterung und warf Eberhardt einen schnellen Blick des Einverständnisses zu. Aber Bernd wehrte mit leichter Gereiztheit ab: »Aber bester Vater . . .«

»Laß man«, knurrte Philipp. »Mit der Würde und Feierlichkeit von Ort und Stunde weiß ich Bescheid. Sie fängt schon an.« Dabei wies er mit dem behaglichen Zeigefinger zur Treppe, auf deren Stufen Hermann Melchior erschien.

Sie gingen in den »Teesaal« hinein, der mit seinen schweren, eingelegten Jakaranda-Möbeln der geeignete Ort war, die Teilnehmer eines Festes äußerlich und innerlich zu sammeln. Selbst Onkel Philipp verzichtete hier auf seine geräuschvolle Jovialität und stand mit seinem Bruder Hermann und seinem Sohn Bernd in einem gedämpften, belanglosen Gespräch beisammen. Seine Tochter Fridel und ihren Mann, den Senator Mähren, begrüßte er mit ironischer Zuvorkommenheit. Insgeheim ärgerte er sich die Galle krank, wenn er an sein ehemals so quickes, sprühendes Mädel dachte, das nach zehn Jahren glücklicher und wohlhabender Ehe rundum das gleiche Korsett zu tragen schien, das der ehrsame Herr Schwiegersohn vom ersten Tage des 15 Brautstandes an getragen hatte. Aber er ließ die beiden nach ihrer Art selig werden und respektierte ihre abgerundete Selbständigkeit.

Zu den Frauen gesellte sich Becka Justin, die bald nach dem Tode ihres Mannes von Holland wieder in das heimatliche Bremen zurück gezogen war. Sie war klein, still, freundlich und von einer abgründigen Güte. Man merkte kaum, daß sie da war. Gelegentlich schaute sie verstohlen und mit heimlich gespannten Nerven nach der Türe, ob nicht endlich »Jungfer« Metta Heinken erschiene und ihren Posaunenstoß der Begrüßung ertönen lassen wollte. Sie erschrak jedesmal von neuem darüber und wünschte auch heute, der Augenblick wäre erst vorbei und sie könnte ihren Nerven wieder Entspannung gönnen.

Alsbald erschien Jungfer Metta, trotz ihrer zweiundachtzig Jahre ohne Stock, aber mit der schwarzen Seidenhaube, die sie sich bei keiner festlichen Gelegenheit versagte. Da sie sehr schwerhörig war, glaubte sie bei dem Wenigen, was sie sprach, die Stimme besonders heben zu müssen. So scholl, wie von Becka Justin längst erwartet, das »Tag« mit erstaunlicher Kraft und Frische durch den Saal. Onkel Philipp konnte es nicht unterlassen, einen besorgten Blick zum Kronleuchter hinaufzuwerfen, ob die Kristallbehänge nicht in Schwingungen geraten waren.

Nun fehlte noch das Oberhaupt der Familie, der ehemalige Bürgermeister Simon Melchior. Alle kannten seine fanatische Pünktlichkeit, und als es jetzt ein Uhr von der französischen Pendüle schlug, horchten sie vereint, ob nicht draußen der Wagen vorfahren würde.

Hermann Melchior nickte Jungfer Metta zu. »Er kommt«, sagte er leise. In den langen Jahren, da seine 16 Tante bei ihm im Hause lebte, hatte sie sich daran gewöhnen müssen, ihm die Worte von den Lippen abzulesen. Es wäre sonst keine Verständigung zwischen ihnen möglich gewesen.

Draußen über den Asphalt schlugen die Hufe der beiden breitrückigen Füchse. Der Wagen – das Geschenk Hermann Melchiors zum achtzigsten Geburtstag seines Vaters – federte auf schmalen Gummireifen. Er war mattblau lackiert und trug an den Schlägen das alte Familienwappen, aber so bescheiden klein, daß es schon vom Fußsteig her nicht zu erkennen war, wenn der Wagen inmitten der Straße fuhr.

Hermann Melchior ging selber an den Windfang und empfing dort seinen Vater, während Haberkost bescheiden im Hintergrunde stand. In der Türe zum Teesaal hieß Mutter Ethel ihren Schwiegervater willkommen. Dann vollzog sich die weitere Begrüßung in gewohnter und herkömmlicher Ordnung: Jungfer Metta, Becka Justin, Onkel Philipp, Senator Mähren, dessen Frau, Bernd Melchior, Toni und zuletzt Eberhardt.

Man unterhielt sich eine Weile. Als die Pendüle ein Viertel nach eins zeigte, erhob sich Hermann: »Vater, können wir essen?«

Simon Melchior strich seinen schwarzen Gehrock glatt und sah sich im Kreise um. Er ragte trotz seiner Jahre schwer und massig über alle anderen hinweg. Gegen ihn erschien selbst Hermann klein, weil er schmäler war als sein Vater.

»Wir sind elf«, sagte Simon leise. »Noch im vorigen Jahre waren wir zu zwölf. So wollen wir denn, ehe wir uns zu Tische setzen, der einen gedenken, die nicht mehr 17 unter uns ist: der guten Guste, unseres lieben Philipp Frau. Sie ist uns allen eine treue Tochter und Freundin gewesen. Wir wollen sie nicht vergessen.«

»Amen«, sagte Philipp und seine Unterlippe zitterte vor verhaltener Erregung.

Mutter Ethel nahm ein silbernes Glöckchen vom Spieltisch und klingelte. Auf dieses Zeichen öffnete Haberkost die breite Türe zum Eßzimmer. Dann wies er die Plätze an. An der Spitze der lang gestreckten Tafel saß Simon. Sein Gedeck war mit frischen Veilchen umlegt, die er sehr liebte. Rechts von ihm saßen Mutter Ethel, dann Onkel Philipp, Becka Justin und Senator Mähren. Links von ihm Jungfer Metta, dann Hermann Melchior, Fridel und Bernd Melchior. In die untere Schmalseite des Tisches teilten sich einträchtig Toni und Eberhardt.

Die Stimmung war ernst und feierlich. Sie blieb es, als Hermann Melchior das Tischgebet sprach. Er war heute um einen Schein bleicher als sonst, und er wich Ethels Blicken aus, als sie ihm sanft zunicken wollte. Was konnte ihm eine Frau von der Verantwortung abnehmen, die er auf sich lud, wenn er jetzt seinen Sohn, sein einziges Kind, in das Leben hinausstellte? Wer konnte ihn der Sorge entheben, mit der es abzuwarten galt, ob dieses Reis an einem nicht mehr jungen Stamme aufkommen oder verkümmern würde? Er fühlte sein Herz sehr schwer und bedrängt. Aber er sagte nichts.

Simon sah es wohl und litt selber darunter. Aber er konnte nichts davon zeigen. Er gehörte zu jenen Naturen, die ein aufbrausendes und leidenschaftliches Temperament unter der Amtslast eines ganzen Lebens methodisch gebeugt haben, und die aus ihrem Alltag und aus dem 18 Feiertag ihrer Seele das Verschlossene, Abwägende, Zurückhaltende nicht mehr verscheuchen können. So war ihm nie vergönnt, alles zu sagen; geschweige denn, alles zu erleben. –

Als er nach der Suppe leicht an sein Glas klopfte, zitterte die alte Hand ein wenig, aber zugleich reckte sich seine Gestalt zu einer unnahbaren Glätte und Korrektheit auf. Jede Ansprache, die er hielt, führte ihn in den Bezirk zurück, dem er sein Dasein und alle Kräfte seines Lebens geopfert hatte. Allein die Stimme, die sich heute nur bis zur Hälfte ihrer Kraft erhob, verriet, daß dieses Mal das Herz dem Worte näher schlug als der Verstand.

»Meine lieben Freunde und Kinder. Es jährt sich unser Familientag. Ihr nennt ihn Kindertag, um damit auszudrücken, daß der Sinn dieses Tages aus der Vergangenheit her in die Zukunft weise. Solche Tage haben die Aufgabe, in allem Erwerb und in allen Sorgen nicht vergessen zu lassen, für was wir arbeiten und sorgen. Im täglichen Kampf vergißt man leicht, wofür man kämpft. Es ist gut, einen Tag im Jahre zu haben, an dem man sich erinnert.

Wie wir hier zusammen sitzen, stellen wir die Antwort auf diese Frage selber dar. Wir selbst sind das Ziel unserer Mühen, wir, die Familie Melchior. Indem ich Familie sage, meine ich mehr als die Menschen, die Liebe und Abstammung zusammen gebracht haben. Ich meine zugleich die Familie als die Keimzelle eines jeden Gemeinwesens, als eine höhere Form der menschlichen Gemeinschaft.

Die Familie Melchior trägt mit sich das stolze Bewußtsein und die Verpflichtung, über jeden eingeborenen 19 Egoismus hinaus in allen ihren Taten zugleich der Gemeinschaft zu dienen; vor allem aber unserer engeren Heimat, unserer lieben Vaterstadt. Indem wir an ihrem Wohlergehen bauen, schaffen wir zugleich am ganzen, am größeren Werk. Laßt uns das nicht vergessen.

Neben allem anderen haben wir heute noch zwei besondere freudige Anlässe. Unser lieber Enkel Bernd führt uns heute zum ersten Male die Frau zu, die er sich für seinen Lebensweg gewählt hat. Wir wollen sie in Freundschaft aufnehmen. Sie wird von heute an eine der Unsrigen sein.

Sodann bringen wir unserem lieben Enkel Eberhardt unsere Glückwünsche. Er hat einen Teil seiner Ausbildung abgeschlossen. Seine Kindheit ist beendet. Es beginnt für ihn der Ernst des Lebens. Wir hoffen, daß er ein guter Melchior werden wird.

Und noch ein Wort zu meinen lieben Kindern Hermann und Ethel: habt Vertrauen zu der Entwicklung eures Kindes. Die Melchiors haben einen guten Kern. Sie behaupten sich im Leben. So wird auch euer Sohn euch nicht enttäuschen.«

Er hob sein Glas und trank es still aus. Die anderen taten ein gleiches. Unmittelbar darauf setzte Onkel Philipps Gespräch laut und klangvoll ein und brach den feierlichen Bann.

Eberhardt rang unter dem Tisch die Hände: »Teuerste Toni, herzlichen Dank für die Pumps. Und solltest du wirklich einmal eine richtiggehende Melchior werden, so gebe ich sie dir zurück. Denn dann will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.« 20

»Sei still«, flüsterte sie ihm zu und schluckte an ihrem Rotwein.

»Ich denke nicht daran. Wie kommt diese ehrwürdige Magnifizenz dazu, meine Eltern damit zu trösten, daß aus mir noch einmal etwas werden könnte? Weißt du, was er neulich zu Becka Justin gesagt hat? ›Er macht ganz hübsche Gedichte, aber im Rechnen ist er schwach.‹ Das spricht Bände. Bände in altem, knitterigem Schweinsleder. Ich ziehe Wildleder vor.«

Toni drängte ängstlich ihre Serviette vor den Mund und hauchte: »Wenn du nicht willst, daß ich mich schlecht benehme, dann sei still. Ich platze gleich.«

Statt aller Antwort zog er unter dem Tische einen der Pumps aus und legte ihn ihr auf den Schoß. Da explodierte ihr Gelächter. Bernd erschrak, Mähren zuckte zusammen, Mutter Ethel hob die Augenbrauen und fragte: »Oh, Ihr seid schon lustig?« Aber Onkel Philipp durchbrach das eisige Schweigen und sagte breit und betont: »Dann seid nur lustig, Kinder. Der Ernst des Lebens kommt noch. Prosit.«

So zwang er, früher, als das Programm des Tages es eigentlich vorsah, eine gewisse Lockerung der Stimmung herauf. Während des Fischganges tranken alle nacheinander Toni zu, aus deren Gesicht die Röte über das verfrühte Lachen noch nicht gewichen war. Beim Kapaun galt der Umtrunk dem »jungen Kaufmann« Eberhardt. Er trank tapfer mit.

Bei allem Spötteln, das er von Zeit zu Zeit der übermütigen Kusine mitteilte, war ihm im Grunde seines Herzens doch etwas beklommen zumute. Es ließ sich gut sagen: Ernst des Lebens, der junge Kaufmann, Familie 21 und Vaterstadt. Er hatte alle diese Dinge schon zu oft in mancherlei Form und Folge gehört, als daß sie heute noch großen Eindruck auf ihn gemacht hätten. Aber wenn diese Dinge, wie an festlichen Tagen gleich heute, angerückt kamen mit der Last und Schwere der Autorität, wenn er sah, wie einfach und ernst sie alle diese Dinge nahmen und trugen, wenn er hörte, was sie sprachen und um was sich ihre Bedenken bewegten, wenn er bedachte, wie sie in solchen Augenblicken bis zum Ausdruck des Gesichts nichts voneinander unterschied, so gleichmäßig waren sie geworden: dann wehte ihn, er wußte nicht woher, eine sonderbare Scheu und Ängstlichkeit an. Seine jugendliche Unrast, der Übermut seiner neunzehn Jahre, das Springfröhliche seines Wesens geriet da unversehens in Sackgassen und Fallstricke. Er war ein Wildbach, der von den Bergen kam. Bei einer Biegung erblickte er unten im Tale die großen, klar gefügten Bauwerke der Nützlichkeit. Sie würden ihn auffangen und seine Kraft in Arbeit umsetzen. . . . . .

Toni stieß ihn sachte an: »Sauerkohl gegessen?«

Er grinste: »Vom Essig der Erkenntnis genascht.« Dann vertiefte er sich in den guten Rotwein, in »das Mährensche Blut«, wie er zu sagen pflegte.

Die Gespräche an der Tafel schwangen alsbald in hohen und breiten Wellen dahin. Von Zeit zu Zeit verharrte eine Welle am gleichen Orte, während die anderen schwiegen. Dann konnte man hören, was dieser oder jener zum besten gab, ehe das große Wellengeräusch weiter zog.

Onkel Philipp beugte sich etwas vor: ». . . Das war sonst ein herzensguter Mensch. Eines Tages sollte er die Wahl des neuen Bürgermeisters leiten, weil er der älteste 22 Ratsherr war. Als sie mitten drin waren, konnte er sich aber beim besten Willen nicht auf den Namen seines Kandidaten mehr besinnen. Da fiel ihm zum Glück ein, daß ihm seine Haushälterin für alle Fälle den Namen aufgeschrieben hatte. Er grunzte: »Jungfer Saghorns het em mi jo noch mit Bleewitt upschreven, up Papier.« Sprach's und zog einen Zettel aus der Tasche. Er las ihn und rief erfreut: »Heinken heet he, Heinken, – just as ik.«

Es gab eine Skala von Gelächtern, aufgetürmt über Onkel Philipps gründigem Baß. Ganz zuletzt lachte Becka Justin, daß ihr die Tränen über die behaglichen Wangen rollten.

Dann Großvater Simons gleichmäßiger Silbenfall: »Der Einheitsstaat hat gewiß seine Vorzüge. Aber die individuelle Ausbildung einzelner seiner Bestandteile verhütet eine lähmende Uniformität und fördert Wettbewerb und Austausch der Meinungen und Interessen. Darum finden die preußischen Pläne nicht meine Zustimmung. Bremen muß ein selbständiger Staat bleiben.«

Unvermutet Jungfer Mettas Posaune: »Kannten wir nicht. Tunte Alma las uns vor aus Nikolais Reisen und aus dem schönen Buche von Stilling: Florentin von Fahlenkamp. Das war alles im Lesekasten.«

Eberhardt knuffte Toni: »Frag' Metta mal, ob es damals schon die fromme Helene gegeben hat.«

»Was amüsiert ihr euch denn da?« blinzte Bernd.

»Wir treiben praktische Familienkunde«, lachte Eberhardt. »Auf das Wohl deiner Frau, teurer Vetter.«

Dann platzte Becka Justin mit der letzten Neuigkeit heraus: »Der Jüngste von Menkens will Dichter werden. Denkt mal. Er ist schon nach Berlin gefahren.« 23 Mähren verzog etwas den Mund: »Dichten können wir alle; aber wir haben es nicht nötig, davon zu leben.«

Das war ein Signal. Hermann Melchior beugte sich vor: »Hast du uns für heute ein Gedicht mitgebracht?«

»Nein. Dieses Mal ist die Reihe an meinem lieben Schwager Bernd. Seine poetischen Flügel sind im jungen Eheglück noch mehr als sonst gespreizt.«

Bernd bekam einen roten Kopf. Aber er ließ sich nicht lange drängen. Er stand auf, zog ein schmales Büttenpapier aus der Tasche und las sein Gedicht vor. Es waren schlichte, sauber und klangvoll gearbeitete Verse, die mit einem aufrichtigen und klaren Gefühl ein Loblied auf die Familie, auf ihre Eintracht und ihren Zusammenhalt sangen. Dazwischen waren die kleinen und großen Begebenheiten aus dem verflossenen Jahre eingeflochten. Es war eine Leistung, mit der er sich sehen lassen konnte.

Er wurde allseits beglückwünscht. Großvater Simon nahm das Blatt an sich, um es bei den Familienpapieren aufzubewahren.

»Von wegen Eintracht und Familie«, schimpfte Eberhardt leise. »Sieh dir Becka und Metta an. Sie können sich sonst nicht riechen. Heute sind sie ein Schmalz und eine Seele.«

»Es sollte dir imponieren«, erwiderte Toni.

»Tut es leider auch«, stöhnte Eberhardt und schenkte sich neuen Rotwein ein. Sein Lachen korrespondierte vielfach mit dem des lebensfrohen Onkels.

Da fühlte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Haberkost reichte ihm eine Platte und sagte dringlich: »Vorsichtig trinken. Du mußt nachher noch eine Rede halten.« 24

Eberhardt erschrak und griff sich an den Kopf. »Ich kann nicht«, wisperte er. »Ich seh schon nicht mehr klar.«

»Komm mit nach nebenan. Ich geb dir Natron.«

Aber mit Eberhardts Feststimmung war es für den Rest der Mahlzeit vorbei. Er schielte nach der neuen Taschenuhr. Mein Gott, erst vier Uhr. Und vor fünf Uhr würde die Tafel bestimmt nicht aufgehoben.

Er hörte aus geweiteter Entfernung die klare Stimme seines Vaters: »Ich meine, man sollte Kinder doch zu Ansprüchen erziehen. Es stärkt den Erwerbssinn und hindert sie daran, später ihre Lebensansprüche allzusehr zu vermindern. Das ist ein guter Schutz gegen das Absinken in niedere soziale Stufen.«

Eberhardt kroch ganz klein in sich zusammen. Er verstand alles, was die Menschen hier sagten; und er verstand es doch nicht. Begreifen konnte er es, aber nicht einsehen. Bislang war es zwischen ihm und den anderen zu keinen Zusammenstößen gekommen, weil er vollkommen sich selbst überlassen war. Er durfte – immer natürlich im Rahmen des Zulässigen – tun und treiben, was er wollte. Kein Sport war ihm versagt und keine Lektüre. Der Versuch, ihn durch Bücher zu beeinflussen, beschränkte sich auf seinen Geburtstag und auf Weihnachtsgeschenke. Was er sonst las, interessierte wohl gelegentlich Mutter Ethel. Er besprach dann dieses oder jenes Buch mit ihr; gab es aber bald wieder auf, weil seine sprunghafte Jugend und ihr gleichmäßiges Empfinden selten zu einer Übereinstimmung kamen. Kein Theater, kein Konzert und kein Vortrag war ihm verschlossen. Gelegentlich deutete man ihm an, daß seine Eltern weniger Freiheit und weniger Möglichkeiten, sich zu bilden, gehabt hätten. Aber er 25 machte sich darüber keine Gedanken. Er stellte vielmehr behaglich und mit einer gewissen Schadenfreude fest, daß jene auf Konto Bildung und Ausbildung buchten, was für ihn schon längst begonnen hatte, persönliches Erlebnis zu werden.

So war er neunzehn Jahre alt geworden und hatte sein Wissen und seine Erfahrungen mehr als der Durchschnitt seiner Kameraden und Freunde angereichert. Das gab ihm einen leisen Anflug von Überheblichkeit; vor allem aber einen heiteren Abstand zu der Familie und ihren Sorgen und Interessen.

Diese heitere Entfernung schien heute zum ersten Male angetastet zu sein. Er war nicht mehr das Schulkind, das sich nach Belieben betätigen durfte. Heute redete man ihn an, trank ihm zu, sprach zu ihm vom Ernst des Lebens, deutete die Richtung an, in der er sich nach der Hoffnung der Anderen entwickeln würde. Gerade hier hakte sein Mißtrauen ein. Wenn einer von diesen Menschen sagte: ich hoffe, daß dies und jenes geschieht; dann war es nur die höfliche Verkleidung eines Gebotes: du wirst es tun! Und er erkannte ahnungsvoll die Macht dieses Befehls als eine grauenhafte Tatsächlichkeit.

Seine Verwirrung wuchs mit jeder Minute. Er wünschte jetzt, die Mahlzeit hätte sich noch über Stunden hingezogen und die allgemeine Müdigkeit würde auf seine Ansprache verzichten lassen. Denn bei dieser Ansprache, die ihm zugedacht war, gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder sich zu den Anderen bekennen, und damit ein Versprechen geben, dessen Einlösung man eines Tages gebieterisch von ihm fordern würde; oder in offenen 26 Widerstand treten, und damit eine Macht herausfordern, der zu trotzen er noch nicht stark genug war.

Aber das Rituale dieses Tages vollzog sich mit der herkömmlichen Pünktlichkeit und Gleichmäßigkeit. Schlag fünf Uhr öffnete Haberkost den Teesaal. In der Türe erschien Gesche Büsing in ihrer großen weißen Schürze, hielt die Hände über den Leib gefaltet und fragte: »Hat's geschmeckt?«

Sie ließ stolz eine Fülle von Lob über sich ergehen. Dann reichte ihr Großvater Simon ein Glas Wein, einen Tribut, der ihr seit zwanzig Jahren zukam und der als Lohn für ihre sorgende Treue in den Brauch des Familientages aufgenommen war. Sie trank auf aller Wohl und sprach dann die klassischen Worte: »Nu gibt's auch Kaffee.«

Eberhardt war inzwischen zu einem Entschluß gekommen. Er trank schnell eine Tasse Kaffee und ging dann auf den Flur hinaus, um sich zu sammeln. Er wollte weder ein Versprechen abgeben noch eine Feindschaft ansagen. Er sah ein, daß er für beides noch nicht reif genug war. Seine Widerstände saßen im Gefühl und er konnte sie nicht benennen. Darum konnten sie ihm keine Waffe sein. Es war also besser, den unverbindlichen Mittelweg zu wählen: nur das Unverfängliche zu sagen und mehr mit dem Wort als mit dem verpflichtenden Gedanken zu arbeiten. Vielleicht sogar – köstlicher Einfall, der ihm alle seine Heiterkeit wieder gab – vielleicht sogar genügte es, eine Rede auf die Damen zu halten. Es waren ja fast alles Prachtexemplare. Es ließ sich da so vieles von Liebe und Treue sagen; ganz ernsthaft und ohne jeden heimlichen Gedanken an Ausflucht und Ausweichen. Mit dem 27 Schillerschen Motiv wollte er beginnen: ›Ehret die Frauen, sie flechten und weben . . .‹

Während er sich Notizen aufschrieb, sah sich Großvater Simon im Kreise um: »Der Junge?«

Hermann lächelte mit väterlicher Nachsicht: »Ist draußen. Er memoriert.«

»Lampenfieber«, lachte Bernd. Aber Becka Justin verwies ihm das: »Der arme Junge«, seufzte sie. Da senkte Mutter Ethel den Kopf und hatte eine Träne in den hellen Wimpern.

Eberhardt hatte rasendes Herzklopfen, als er in das Zimmer trat. Wie die Türe hinter ihm zufiel, wurde es lautlos still. Es war, als habe er eine Gruft betreten. Zehn Menschen saßen da im Raume, reglos. Zwanzig Augen gingen zu ihm hin, unbeweglich. Er versuchte, dieses und jenes Gesicht anzupacken und sich daran zu halten. Aber er glitt von einem zum anderen ab. Es waren alle die gleichen Gesichter. Zehn Menschen, zehn verschieden gekleidete Figuren, die alle das gleiche Gesicht trugen. Wo ist Onkel Philipp? dachte er. Da . . . nein, das war Großvaters Gehrock. Wo ist Toni? Aber sie trägt ja das Kleid von Becka Justin! Und in letzter Angst suchte er seine Mutter. Aber er sah nur Gesichter . . .

Da entwuchs ihm aus der Fülle der Gesichter mit einem Male ein unheimliches Gesicht, eine Vision, die die Dauer eines Herzschlages und doch die Ausdehnung der ewigen Verdammnis hatte: er stand da in einem schäbigen, abgerissenen Anzug; eine alte blaue Mütze schräg auf den Kopf gestülpt; die Hände ungepflegt und die Finger nach innen gebogen, als hätten sie sich an fremdem Gut vergriffen. Er stand da, verstockt und hochmütig, und fühlte 28 doch den Schlag seines Herzens mit letzter Berechtigung als wahr und untrüglich. Aber alle die anderen sprangen entsetzt auf. Die zehn Gesichter rückten zu ihm heran. Zwanzig Hände spreizten sich ihm entgegen, mit hundert wohl ausgezählten, langen blassen Fingern; ein Wald von Fingern, knöchern wie Speere, drohend wie Pfeile. Es rauschte und dröhnte um ihn. Die zehn Gesichter verschmolzen zu einem einzigen Angesicht von phantastischer Größe. In seiner Mitte öffnete sich ein Mund, schmal und streng, wie aus Stahlreifen geformt. Und eine Frage blitzte daraus hervor wie eine geschliffene Klinge: »Was hast du verbrochen?«

Er konnte nicht antworten. Er fühlte das Blut bis in den feinsten Umlauf stocken. Da höhnte es ihn mit bitterer Schärfe an: »Das liegt im Herzen. Man muß ein Stück davon wegschneiden.« Und schon wühlte eine lange, blanke Schere mit beißendem Schmerz nach der Spitze seines zuckenden Herzens. Es brannte und schnitt und fraß, daß blaurote Schleier der Ohnmacht vor seinen Augen tanzten. Das Geräusch eines Motors kreiselte durch seinen Kopf. Durch das Dröhnen kam zu ihm die freundliche, ruhige, klare Stimme seines Vaters: »Nun, mein Junge? Was wolltest du uns sagen?«

Eberhardt erwachte, und ein hilflos-glückliches Lächeln war in seinem Gesicht. Er stand noch an der Türe, die er soeben hinter sich geschlossen hatte, und vor ihm waren alle die gewohnten und bekannten Gesichter; jedes deutlich vom anderen zu unterscheiden. Eine Welle von Stolz und Wohlwollen schlug ihm entgegen. Aber aus dem Schrecken seiner Vision richtete er einen Wall von Ängstlichkeit und Mißtrauen dagegen auf, und als müsse er für die Vorgänge einer späten Zeit schon jetzt die Herzen und Hirne 29 gewinnen, schon jetzt zugunsten dessen plädieren, der einmal vor ihnen schuldig werden würde, begann er mit zitternder Stimme zu sprechen:

»Lieber Großvater, liebe Eltern, und Ihr übrigen lieben Verwandten alle . . . Ihr habt mich heute in Euren Kreis aufgenommen. Ich saß auch früher schon zusammen mit Euch an einem Tische. Aber da war ich noch ein Kind. Jetzt soll ich einer sein, der so wie Ihr in das Leben hineingeht . . . der den Ernst des Lebens kennen lernen soll . . . der ein junger Kaufmann ist, noch ehe er das geringste von allen diesen Dingen weiß. Denn meine lieben Eltern haben mir bis jetzt die Freiheit gelassen, unbesorgt zu leben und mich zu bilden.

Aber es soll von heute ab anders werden. Ich soll nicht mehr das Kind sein . . . und ich kann es auch wohl nicht mehr. Morgen werde ich meine Stellung antreten, und dann werde ich auf dem Wege sein, den Ihr geht.

Ihr verlangt von mir, daß ich heute zu Euch spreche. Aber wovon könnte ich sprechen als davon, wie ich mir diesen Weg denke? Ich bin noch jung. Das dürft Ihr nicht vergessen. Und vielleicht stehen in meinen Gedanken die Dinge nicht so gerade wie bei Euch, weil Ihr älter und erfahrener seid.

Ich kenne das Leben nur aus den Büchern, die ich gelesen habe; und aus den Dingen, die ich beobachten konnte; und endlich aus dem, was mir mein Gefühl sagt, mein Instinkt. Und da sehe ich, daß das Leben ein Schiff ist, das bis an den Rand mit Arbeit und Mühe und Sorge beladen ist. Wenn ein Sturm kommt, muß man sich wohl wehren, um nicht vom Wasser nach unten gedrückt zu werden. Immer, wenn ich ein solches tief beladenes Schiff 30 sehe, habe ich ein Gefühl der Angst, es möchte untergehen . . . und . . . ein Gefühl des Mitleids mit dem Menschen, der auf diesem Schiff das Steuer führt. Was weiß er von der Schönheit der See, auf der er fährt? Was weiß er vom Spiel des Windes und der Wellen? Er kennt nicht die Schönheit der Sonnenuntergänge und nicht das Leuchten des Sonnenaufgangs. Er weiß nicht, wie es ist, auf dem Sonnendeck zu liegen und in das hohe Blau hinein zu träumen. Er weiß nicht, wie schön die Gedanken sind, die aus der Ruhe und der Friedlichkeit kommen.

Er sieht nur, daß sein Schiff bis über das Deck hinaus mit Warenballen beladen ist. Er rechnet, während er nach dem Kompaß sieht, ob er nicht einen falschen Kurs fährt. Er grüßt die Schiffe nicht, die an ihm vorüber fahren. Er achtet nur darauf, daß er nicht mit ihnen zusammenstößt und daß er früher als sie am Ziele ist. Er darf auch des Nachts nicht schlafen. Er muß nach den fremden Lichtern und nach den Leuchttürmen Ausschau halten. Und so gehen die Jahreszeiten und die Jahre dahin. Sein Gesicht wird hart von Wind und Wetter und Sorgen. Seine Hände werden hart von Arbeit. Er schützt sich nach außen hin durch Ölzeug; durch einen Panzer, auf daß man ihn nicht so leicht verwunden kann. Und vielleicht einmal im Jahre läuft er einen Hafen an; läßt die Taue schlaff hängen und geht an Land, um mit den Menschen zusammen zu sein, die er liebt. Aber am nächsten Tage nimmt er wieder das Steuer in die Hand und fährt weiter . . . den gleichen Weg mit der gleichen Ladung und den gleichen Sorgen.

Es ist möglich – ich weiß es nicht, weil ich noch zu jung bin – daß das so sein muß. Aber ich denke mir: es 31 müßte nicht so sein. Ich denke mir, man dürfe sein Schiff nicht tiefer beladen als gerade nötig ist, damit unter der Last der Arbeit die Freude nicht erstickt. Der Mensch hat eine Seele . . . die nicht nur nach Arbeit verlangt, sondern auch nach Freude. Wir haben gelernt, daß im Anfang das Paradies war . . . lächelt nicht über diesen Vergleich. Der Mensch kann in das Paradies zurückkommen . . . versteht ihr, wie ich es meine? Es könnte doch sein, daß eines Tages die Seele kommt . . . und uns anklagt und etwas von uns verlangt, was wir ihr nicht mehr geben können.«

Seine Stimme stockte. Er sah sich hilflos im Kreise um und murmelte: ». . . Weil wir es dann vertan haben. Ich weiß nicht, ob ihr mich versteht . . .«

Er schwieg. Auch die anderen schwiegen, betroffen, befremdet und ein wenig verletzt. Er machte eine linkische Verbeugung. Im Hinausgehen hörte er noch, wie Großvater Simon sagte: »Das verstehen wir wohl . . .« Dann schloß er die Türe hinter sich und ging auf sein Zimmer.

»Peinlich«, murmelte Senator Mähren.

Aber Mutter Ethel erhob sich mit der ganzen Autorität ihrer Stellung: »Man hat ihm etwas viel zugemutet heute.«

Das Gespräch summte allmählich in gleichmäßige Bahnen hinüber. – – – 32

 


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