Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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Zweiter Teil / Urwald

Über den Bergwald zog aus dem letzten Atem der Nacht her das einförmige Rauschen des Windes. Die Krüppelbäume auf den kahlen, zerklüfteten Felsen zitterten im ärmlichen Laub. Die Erde fröstelte. Es fröstelte der Himmel mit seinem flirrenden Meer von Sternen.

An den Berghängen raschelte das scheue Nachtleben unsichtbarer Tiere. Zuweilen der Schrei eines Vogels wie das schreckhafte Aufjammern eines Wesens, das getötet werden soll. Hier und da in den Engpässen und an den Rändern des Urwaldes Lagerfeuer von Menschen, die sich fürchteten.

Plötzlich schwamm in den Kimmungen des Horizontes eine grünlich gelbe Masse wie der Widerschein einer erstickten Flamme. Der Nachtwind hielt den Atem an. Für Sekunden belauerten sich feindliche Mächte. Dann schlug der kalte Luftstrom mit erneuter Kraft seine Fänge in das Land. Es stöhnte unter dem eisigen Griff.

Bebend, wie schwankende Fackeln standen die Sterne. Es riß ein Schimmer von fahlem Gelb über sie hin. Sie erblaßten und zogen ihre Strahlen um sich zusammen. Eine neue Welle überschwemmte sie, strömte farbig über ihr spitzes Leuchten und sog sie aus.

Schreiend fackelte das Rot aus den Horizonten her, untermischt mit einem Schimmer von fahlem Grün. Ohnmächtig senkte sich der Wind.

Neue Geräusche erhoben sich und stellten sich in den 172 aufklimmenden Lichtozean hinein. Die blauen Schatten lichteten sich und verkrochen sich an den Ort, den die Sonne ihnen zuwies. Es wurde Tag. – – –

Von dem Lager aus dürrem Savannengras erhob sich Schema und ging quer durch den Hof zum Wohnhaus hinüber. Seine nackten Füße glitten wie Eidechsen über den Boden. Bei jedem Schritt spreizten sich seine Zehen, als ob sie lebendige Wesen wären. Sein braunes Gesicht gab einen guten Klang zu dem blauen Tuch, das er über die Schultern geschlagen hatte.

Er tauchte einen großen, kupfernen Kessel in die eingemauerte Quelle und schleppte ihn in das Haus. Dürres Holz lag auf dem offenen Herd. Er zündete es an und hängte den Kessel darüber. Mit einem großen Blattwedel schürte er die Flamme. Als das Wasser eine laue Wärme hatte, trug er es in die Badestube. Er war sehr vorsichtig beim Öffnen der Türe. Er spähte aufmerksam umher und tastete mit einem schweren Stock bedachtsam alle Winkel ab, ob sich nicht über Nacht eine Schlange durch den Ablauf oder eine undichte Mauerstelle eingeschlichen habe.

Dann ging er über die drei ausgetretenen Stufen in das anliegende Zimmer. Es war winzig klein. Es hatte Raum für ein Bett, das an der Längsseite stand, für einen hohen, schmalen Schrank und einen Tisch mit einem Stuhl aus rohem Holz unter dem Fenster. Eine Türe mit Glasfüllung ging auf den Umgang hinaus.

Er öffnete diese Türe, um die Luft zu erfrischen, die vor der Kälte der Nacht abgesperrt war. Dann ging er zum Bett und hob den dichten Moskitoschleier von den vier hölzernen Pfählen. 173

Eberhardt erwachte sogleich. Er kannte, so lange er unter diesem Klima lebte, keinen tiefen Schlaf. Er war immer halbwach wie die Nachttiere dieses Landes und bereit, sich bei dem kleinsten Geräusch zu erheben. Dem leichten Schlaf entsprach während der sonnenschweren Stunden des Mittags das erschöpfte Hindämmern und Versinken, diese Zeit, in der man sich ohnmächtig der Gewalt des Klimas beugte und nicht einmal fähig war, diese Pause durch einen Gedanken zu füllen. Wenn es kühler wurde, begann von neuem die Arbeit und verlangte den ganzen Menschen und seine Aufmerksamkeit. Abends drängte die Müdigkeit, sich schlafen zu legen. So war eigentlich nie ein Augenblick gegeben, in dem man geruhsam und nachdenklich mit sich alleine war. Alle Kraft, die man dem Tage abringen konnte, galt dem Tage. Es war ein Leben für den Augenblick. Dabei gedieh das Werk und fraß den Menschen auf. Darum auch war die starre Anhänglichkeit der Menschen an diese Plantagen und Pflanzungen weniger Liebe als Notwendigkeit und Gewöhnung. Sie lebten so, wie ihre Bäume und Pflanzen es verlangten und wie der Wechsel von Glut und Kälte es erlaubte. Sie vermochten nicht, sich aus diesem Kreislauf zu befreien. –

Eberhardt erhob sich sofort. Seine Bewegungen waren langsam geworden und standen in merklichem Gegensatz zu der sehnigen Geschmeidigkeit seiner Gestalt. Sein Gesicht war tiefbraun. Über der Stirne, die sonst aufgeheitert und klar erschien, standen zwei senkrechte Falten. Sie mochten daher kommen, daß die grelle Sonne selbst unter dem schattenden Strohhut zwang, die Augen eng 174 zu machen. Sie mochten auch daher kommen, daß unerlöste Gedanken sich hinter der Stirnwand quälten.

Er ging in die Badestube hinunter und rieb sich in dem lauen Wasser mit einem geflochtenen Strohbüschel ab. Die Haut brannte. Der letzte Rest von Schlaf und Müdigkeit verschwand. Er war bereit, den neuen Tag anzupacken.

Schema hatte frische Wäsche über den Tisch gelegt und hielt über den Armen den weißen Anzug mit der hochgeschlossenen Jacke. Eberhardt kleidete sich an. Als Schema ihm an Stelle der gewohnten leichten Schuhe schwere Reitstiefel hinstellte, sah er ihn einen Augenblick erstaunt und unzufrieden an. Schema sagte: »Paramaribo«.

»Du bist viel aufmerksamer als ich«, sagte Eberhardt anerkennend. »Ihr könnt in diesem Klima wenigstens noch eure Gedanken zusammenbehalten.«

Einmal in jedem Monat war ihm erlaubt, nach Paramaribo hinunterzureiten. Das war der Sonntag der langen Wochen, die ohne Unterbrechung und in ewigem Gleichmaß an ihm vorüber und über ihn hinwegglitten. Von allen zerstreuten Plantagen kamen sie dann angerückt, die Abenteuernden, die Lernenden, die Abgekämpften und die Werkwütigen, die Stumpfen und die noch Brennenden, die Gelangweilten und die, deren Warten sich im Durst nach Whisky und Frauen erschöpfte. Unten in Paramaribo gab es Straßen und Läden, Bars und Häuser mit Lärm und Licht. Da gab es Gesichter, die eine Erlösung von dem Gleichmaß der Larven waren, die man bis zum Überdruß kannte. Da fielen Worte, die anderen Bezirk umrissen als Pflanze, Magazin, Transport, Ernte und Verkauf. Da wurde die 175 Nacht zum Tage und entspannte das gebundene Gehege der Gedanken. Da war der Hafen, war das Meer, die Straße in neue Fremde oder alte Heimat. Da entstanden in den Nächten, wenn die Leidenschaften ungezügelt grollten, die Sehnsüchte nach Heimkehr oder das Brennen nach neuen Ländern, die eines Unrastigen Fuß noch nicht betreten hatte. Da gab es die großen Klippen, an denen die Zucht der Arbeit und der Selbstbeherrschung zerschellte und sich in Gewalt und Mord und Totschlag ausatmete. Da lagen Schiffe aus allen Welten her und trieben ihr Volk durch die Bars und Läden und Häuser. Das alles war Paramaribo.

Eberhardt zog ächzend die schweren Reitstiefel an. Dann gab ihm Schema die Gamaschen, schmiegsames, liebevoll und mühselig behandeltes Leder. Dabei sah er seinen Herrn aufmerksam, prüfend und etwas verlegen an. Er wollte etwas sagen, wagte es aber nicht.

»Soll ich dir etwas mitbringen?«

Schema schüttelte den Kopf. Er spreizte seine Finger. In seine Augen kam ein dunkles, flirrendes Leuchten, strahlig und starr. Er atmete, daß sich seine Nasenflügel weiteten. »Paramaribo«, sagte er mit einem gurrenden Kehlton.

»Frag den Baas«. Aber Schema schüttelte den Kopf. Die Flamme der Hoffnung erlosch in seinen Augen. Er ließ die Hände sinken.

»Na, dann komm mit«, sagte Eberhardt mitleidig.

Schema zuckte vor Freude zusammen und nickte heftig mit dem Kopfe. –

Auf der Terrasse nach der Nordseite hin stand schon der Frühstückstisch gedeckt. So weit es sich überhaupt mit den 176 technischen Möglichkeiten des Transportes vereinigen ließ, war seit undenklichen Zeiten Wert darauf gelegt, nichts von den Gewohnheiten der holländischen Urheimat aufzugeben. Von der Familie de Graff lebte hier schon die vierte Generation. Davon hatten drei Generationen nie Holland gesehen. Aber sie sprachen unter sich holländisch und lebten holländisch. Auf dem Frühstückstisch standen Tee und Sahne und Setzeier, süßes Weißbrot und knusperige Keks, Honig und verschiedene Arten Käse. In dieser Beziehung gab es keine Anpassung der Lebensweise an die Notwendigkeiten des Klimas.

Jocki, der Rhesusaffe, rasselte mit seiner Kette auf dem Geländer und grüßte Eberhardt mit schnalzenden, schmatzenden Tönen. Er lockte und bettelte, bis er seinen morgendlichen Tribut in Form einer Schnitte Weißbrot empfing. Dann stopfte er eilig die Backentaschen voll und sah den Spender aus guten, freundlich-braunen Augen an.

Pieter de Graff wuchtete mit scharfen Schritten über die Dielen. Er litt viel an Halsbeschwerden und hatte darum immer eine leicht belegte, wie heisere Stimme. Das gab seinem Organ eine knarrende Gutmütigkeit, die auch seinem Wesen entsprach. Zwischen ihm und Eberhardt bestand das gute Einvernehmen gegenseitiger Achtung und Verantwortlichkeit. Nur gelegentlich war es zu Spannungen gekommen, wenn es sich um die Behandlung und Entlöhnung der Arbeiter handelte. Da standen sich Welten gegenüber, die sich weniger aus dem Gefühl als aus der Vernunft her feindlich waren und nicht zu einer Übereinstimmung kommen konnten.

Die Familie de Graff gehörte mit zu den ältesten Kolonisatoren dieses Landstriches. Sie hatte ursprünglich 177 gewaltige Flächen besessen, aber die Sklavenbefreiung und das Aufhören der Negerarbeit hatten auch sie schwer getroffen und ihre Unternehmung fast an den Rand des Abgrunds gebracht. Die Arbeitskräfte hatten aufgehört, wohlfeil zu sein. Sie kämpften sich mühsam durch, warben indische und javanische Arbeiter an, versuchten, die eingeborenen Indianer und die Nachkömmlinge entflohener Neger, die Buni, in ihren Dienst zu ziehen. Sie schafften es in schwerer Arbeit. Aber das Gespenst blieb: was wird, wenn diese Menschen eines Tages den Gehorsam verweigern? Wenn diese Arbeitskraft zu revoltieren beginnt? Dann war kein Ersatz durch Europäer möglich. Es gab dann nur eines: den Zusammenbruch; den Tod der Pflanzungen. Neben allem Schutz, den die heimische Regierung gewährte, gab es da nur ein Mittel, dem vorzubeugen. Man gewöhnte vor allem die im Lande seßhaften Arbeiter, die aus den Dörfern und aus dem Busch stammenden Aruak und Karaiben und Buni durch Löhnungen in barem Gelde an eine Reihe von Ansprüchen, die sie früher nicht gekannt hatten. Man entfremdete sie so dem Tauschhandel. Man gab ihnen auch keine Möglichkeit zu eigener Produktion, weil alles, was das Land an Lebensbedarf bieten konnte, auf der Farm selbst gezogen und erzeugt wurde. So wurde sachte ein Kreis von abhängigen Existenzen geschaffen. Zwar verfiel man nie in den Fehler der amerikanischen Kolonisatoren, sich durch berauschende Getränke eine Gefügigkeit zu erkaufen, die letzten Endes auf Kosten der Arbeitsfähigkeit gegangen wäre. Aber als man sie erst entwurzelt hatte, als die Arbeit auf den Plantagen ihre einzige Möglichkeit darstellte, ihr Leben zu fristen, holte man ohne Bedenken das 178 letzte an Arbeitsfähigkeit aus ihnen heraus. Man entlohnte nach der Menge der Leistung. Das war weder bewußte Grausamkeit noch vorbedachter böser Wille. Es war einfach ein Teil des kaufmännischen Kalküls, ein Teil der Rentabilitätsberechnung. Man deckte die Gefahren von Mißernten und schlechter Konjunktur nicht durch die Anlage von Reserven oder die Erschließung neuer Märkte, sondern durch die Ausnutzung der Arbeitskraft und der Löhne.

»Herr de Graff«, pflegte Eberhardt zu sagen, »ob es uns lieb ist oder nicht, ob wir uns dagegen stemmen oder nicht: in keinem Lande der Welt läßt sich das soziale Problem mehr aufhalten, das aus der Lage der arbeitenden Massen bestimmt wird. Da hilft kein Jammern. Die Arbeitskraft des Menschen hat aufgehört, ein Objekt zu sein. Ich stimme Ihnen zu: bei anständiger Behandlung und bei Löhnen, die die Bedürfnisse der Arbeiter decken, sollten sie zufrieden sein und den Mund halten. Aber es ist damit nicht geschafft. Jede Ausbeutung organisiert einen Widerstand, der auf mehr geht als die Deckung des nackten Lebensbedarfs«.

»Organisiert?« grollte de Graff. »Wenn ich heute erfahre, daß meine, meine Arbeiter sich organisieren, werde ich sie morgen auf die Straße werfen. Kein Fuß dürfte mehr in meine Pflanzungen. Sollen sie zugrunde gehen. Aber ich dulde es nicht, daß meine Arbeiter sich organisieren.«

Eberhardt lächelte: »Verschwören Sie es nicht und berufen Sie es nicht. Diese Dinge kommen. Sie sind ein Teil der allgemeinen Weltumlagerung.« 179

»Kenne ich nicht«, höhnte de Graff. »Ich bin kein Bolschewik.«

»Die Dinge warten nicht darauf, bis man sie kennen lernt. Behandeln Sie die Arbeiter besser, ändern Sie Ihre Methoden. Dann werden Sie eine ruhige Zukunft haben.«

»Sie reden wie Multatuli.«

»Aus Vernunft. Nicht aus Sentiment. Ich mache mir über die Entwicklung keine Illusionen. Ich habe einmal die Anfänge der Idee kennen gelernt. Sie werden eines Tages an mich denken.«

So verlief der Streit immer ohne Ergebnis und Folgen. Im persönlichen Verkehr mit den Aufsehern und Arbeitern tat Eberhardt dagegen das seinige, ihnen gerecht zu werden. Dafür brauchte er keinerlei soziale oder gedankliche Begründung. Es war einfach das noblesse oblige des Herrschenden. Dafür hingen alle mit einer aufrichtigen Zuneigung an ihm. Oft brachten sie ihm seltene Früchte oder Blumen, und zuweilen ein Stück Arbeit, aus der die gebundene Kultur endloser Generationen sprach: einen geflochtenen Hut oder einen bunten Lederbeutel oder ein geschnitztes Zierstück aus Holz für sein Zimmer.

Neben der eigenen Produktion durch seine Pflanzungen hatte de Graff von seinem Vater her eine Warenhandlung übernommen, in der er Stoffe, Hausgerät, billige Erzeugnisse der europäischen Industrie verkaufte, und zwar je nach Laune gegen Geld oder im Tausch gegen Ware. Kunden waren insbesondere die Einwohner der umliegenden Dörfer. Der Verkauf ging in einem großen Wellblechschuppen vor sich. Eberhardt nannte ihn die Sklavenfalle. Denn hier bot sich für de Graff die Möglichkeit, 180 Arbeiter für seine Pflanzungen zu fangen. Wenn er es auf einen kräftigen Menschen abgesehen hatte, gab er ihm Kredit oder verkaufte ihm weit mehr, als er gebrauchen konnte und kaufen wollte. Der Baas war großzügig. Er mahnte nicht. Er ließ Wochen, ja lange Monate verstreichen, ehe er bescheiden und mit einem wohlwollenden Lächeln an die Schuld erinnerte. Aber wenn die Zeit gekommen war, wurde er dringlicher, mahnte scharf und setzte ein kurzes Ziel. Einigen gelang es, sich von der Schuld zu befreien. Den meisten gelang es nicht. Ihnen wurde eines Tages die Rechnung präsentiert, die sie nicht lesen konnten. Aber sie stimmte auf Heller und Pfennig. Daneben wurde ein Arbeitsvertrag gelegt. Der Mann drückte seine Hand darauf, und vom nächsten Morgen an arbeitete er in den Pflanzungen, um seine Schuld abzutragen.

Bei dieser Methode fand er in Eberhardt seinen grimmigsten Feind. In der Zeit, in der ihm der Verkaufsschuppen überlassen war, tat er sein Bestes, den Kunden die Bedenklichkeit unnützer Einkäufe klarzumachen. Wer einmal durch seine Lehre gegangen war und seine Ermahnungen empfangen hatte, war als Arbeiter für de Graff verloren. Eberhardt sammelte aus dieser Betätigung kein großes seelisches Kapital. Er schuf nur zwischen sich und den Kunden ein patriarchalisches Verhältnis, das einem schlummernden Erbteil in ihm Nahrung gab. Genau so würde sein Vater Beta, der Köchin zu Hause, in langem und ernsthaftem Gespräch geraten haben, wie sie ihre Spargroschen wohl am besten anlegen könnte. Dafür hatte er Zeit, selbst wenn die Geschäfte noch so drängten und brannten. Man trug diese Verantwortung für die 181 Menschen, die einem dienten, als einen Teil der Gegenleistung, die man ihnen schuldete.

De Graff erkannte nie in vollem Ausmaße die Tätigkeit, die Eberhardt im Schuppen entfaltete, und so blieb es bei den theoretischen Auseinandersetzungen. Und das war gut, denn die völlige Isolierung, in der die wenigen Europäer auf dieser Pflanzung lebten, wies sie täglich und stündlich auf einander an. Alle gehörten zur Familie.

Diese Familie war nicht groß. Sie bestand aus Pieter de Graff, seiner Frau Antje, aus Eberhardt und dem Lagerverwalter Schlahmann. Seine Herkunft war unklar. Er behauptete, Holländer zu sein. De Graff behauptete, er sei ein Deserteur aus der Garde Friedrichs des Großen. Eberhardt nannte ihn schlechthin den »Berliner«. Er trug das Haar glatt geschoren, den Schnurrbart in hohem Winkel bis an die Augen aufgewirbelt. »Er paßt nicht zu uns«, würde Haberkost gesagt haben. Ewig hatte er eine Gerte in dem kurzen Stiefelschaft, und wenn sie noch so klein war. Unsichtbar saß ihm ein Koppel über den Leib geschnallt. Sein Ton war kurz und hochfahrend. Er liebte es, die Mundwinkel herunterzuziehen, wenn ihm etwas nicht genehm war. Aber arbeiten konnte er wie ein Stier. Er hatte einen Ordnungssinn, der bis in das Lächerliche ausartete. Daß die Eingeborenen für die Schönheit streng ausgerichteter Warenballen und Sackstapel kein Verständnis hatten, bewies ihm den ungeheuer niedrigen Kulturstand dieser Wilden. Wenn sein Redefluß unendlich zu werden drohte, sagte de Graff freundlich: »Halt's Maul, Schlahmannchen«. Dann schwieg er mit einem Seufzer.

Antje de Graff stammte aus Rotterdam. Sie war 182 während ihrer Mädchenzeit einige Jahre in einem Pensionat in Hamburg gewesen, kannte auch Bremen aus gelegentlichen Besuchen und hatte mit echt holländischem Fleiß einen nicht geringen Einblick in die deutsche Kultur genommen. So war gelegentlich zwischen ihr und Eberhardt dieser und jener Gedankenaustausch über Dinge der Geschichte, der Kunst und der Kultur möglich. Aber sie tauchte alles in ein laues Bad der Sachlichkeit und des uninteressierten Wohlwollens. Sie kannte die Dinge; sie wußte sie und beherrschte sie in einem gewissen Umfange. Aber sie zeigte zu deutlich, daß diese Dinge sie nichts angingen; daß sie nicht imstande waren, ihre ruhige Rundlichkeit auch nur mit einem Funken von Leben zu erfüllen. Ihr Dasein erschöpfte sich darin, für ihren Mann zu leben, ihm als Entgelt für sein schweres Dasein ein wohliges Heim zu bieten und darin die Gewohnheiten und Behaglichkeiten einer holländischen Lebensführung aufrechtzuerhalten. Sie diente ihm mit aller Treue, mit der ein Mensch einem anderen dienen kann. Eberhardt wußte: an dem Tage, an dem Pieter de Graff stirbt, stirbt auch Antje; ohne Wort und Klage und ohne großes Gefühl; wenn nicht körperlich, so doch geistig und mit dem letzten Rest ihres Lebenszweckes.

Sie hatten im dritten Jahre ihrer Ehe ein Kind gehabt, das nach wenigen Wochen an Brechdurchfall starb. In dem leicht verwilderten Garten vor dem Hause, der immer in die Wildnis auszubrechen drohte, hatten sie es beigesetzt und darüber einen kleinen Hügel mit Blumen gepflanzt. Sie sprachen – nach mehr als zwanzig Jahren – immer noch davon und sagten: unser Sohn.

Antje war im Garten, um Blumen für den 183 Frühstückstisch zu pflücken. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, kam sie herauf. Sie wies lächelnd auf Eberhardts Reitgamaschen. »Er hat seinen großen Tag heute.«

»Er ist jung und muß toben«, krächzte de Graff.

»Ich bin immer noch heil wieder zurückgekommen«, sagte Eberhardt trocken.

»Kein Wunder. Ihr Norddeutschen könnt betrunken sein und bleibt doch nüchtern.«

Eberhardt wiegte den Kopf: »Wir sind gut erzogen. Das ist alles. Wenn ein Norddeutscher sich betrinkt, hat er nur eine Angst: er könnte sich schlecht benehmen. Das macht ihn wieder nüchtern.«

»Ja, Formen habt ihr«, gestand Antje. Dann schenkte sie den Tee ein. Es wurde still. Während der Mahlzeiten wurde nicht gesprochen. Man gab sich dieser Tätigkeit mit allem Behagen und aller Aufmerksamkeit hin. Antje hielt dafür, daß es nicht bekömmlich sei, den Körper und den Geist gleichzeitig zu beschäftigen. Selbst als Schema die Mangrovenallee heraufkam und in einer kleinen Basttasche die Post brachte, die er jeden Morgen aus dem großen Blechkasten am Ende der Pflanzungen holte, wurde die Mahlzeit nicht unterbrochen. Kein Zeichen der Neugierde verriet sich.

Schlahmann kam verspätet zum Frühstück. Er entschuldigte sich kurz: »Hab' noch Arbeit eingeteilt.«

Dann wieder Schweigen. Unten aus der Küche klapperte Geschirr; ein einförmiger Singsang tönte dünn und verhalten durch den Morgen. Der letzte Tau spielte im aufsteigenden Sonnenlicht mit diamantenem Glänzen. Die gelbrote Himmelskuppel überschlug sich langsam in Weiß.

De Graff schob den Stuhl zurück und wünschte gesegnete 184 Mahlzeit. Dann griff er zur Posttasche und suchte die Geschäftsbriefe heraus. Um die übrige Post kümmerte man sich grundsätzlich erst, wenn der geschäftliche Teil erledigt war.

Er referierte: »Rotterdamsche Bankvereinigung. Abrechnung. Prüfen Sie nach, Melchior? Letztes Mal haben die siebzehn Gulden zu wenig abgerechnet.«

»Neunzehn sogar.«

»Oder neunzehn. Die Gauner! Als ob man sein Geld hier auf der Straße fände. – Rotterdam . . . Gerzon. Tausend Sack Kakao. Prompt. Na, Schlahmann?«

Schlahmann dachte nach, addierte im Geiste die wohl ausgerichteten Stapel im Schuppen und schnarrte: »Gemacht«.

»Gut. Brauchen wir Aluminiumtöpfe?«

»Ausgeschlossen. Leute gehen nicht ran. Wollen Gußeisen. Dann haben sie was in der Hand. Brechen auch leichter. Gibt besseren Umsatz.«

Eberhardt nahm sich im stillen vor, den Kunden angelegentlich Aluminium zu empfehlen. Bei nächster Gelegenheit wollte er in Gegenwart aller Arbeiter einen gußeisernen Topf fallen lassen und ihnen damit stillschweigend beweisen, wie unnütz und unbrauchbar solch ein Stück sei.

»Hier, Bremen«, sagte de Graff.

Eberhardt horchte auf. Was gab es da?

»Sieh einer an«, knarrte de Graff. »Der Herr Vater meldet sich. Anfrage nach Kakao. Will sich wohl ausdehnen, der alte Herr. Was?«

»Möglich«, sagte Eberhardt gelassen. »Er hat mir lange nichts von seinen geschäftlichen Plänen mitgeteilt.«

»Geht nicht«, murmelte der Baas. »Ich kann meine 185 Holländer nicht im Stich lassen. – Wie notiert Kaffee? Na, auch nicht übermäßig. Geringe Sorten wenig gefragt. Hören Sie sich das an! – Früher ging es mit gebranntem Roggen. Jetzt tun sie es nicht unter Perlmokka.«

Dann wurde der Rest der Post erledigt. Antje hatte einen Brief aus Deventer. Schlahmann einen aus Berlin. »Aus Berlin«, verkündete de Graff sehr betont, was von Eberhardt, unverkennbar boshaft, mit einem trockenen »So, so« quittiert wurde. Für ihn selbst endlich war ein Brief da, der den Poststempel Bremen trug.

Er nahm ihn und ging damit auf sein Zimmer. Wenn er Briefe aus der Heimat bekam, konnte er sie nur auf seinem Zimmer lesen. Überall sonst hatte er das Gefühl, am unrechten Orte mit dem Klang und Sinn solcher Worte zu sein. Es war nicht so, daß ihm sein Zimmer etwa ein Stück Heimat vorgaukelte und er es nötig gehabt hätte, zu diesem äußeren Mittel zu greifen, um sich den Anschein einer Wirklichkeit vorzutäuschen. Diese vier Wände umschlossen weder Heimat noch Erinnerung noch Sehnsucht oder Heimweh. Diese vier Wände umschlossen ihn, ihn selbst. Sie umgrenzten ihn und verwiesen ihn auf sich. Diese vier Wände, nicht höher, als es der Körper eines großgewachsenen Menschen verlangte, gingen in ihrer eigentlichen Wirksamkeit bis in den Himmel hinauf; so sehr grenzten sie ihn von der Welt seiner Umgebung ab. Als er noch in seiner Heimat war, bot sich alles als bekannt und vertraut und schon einmal gesehen dar. Und was an Reisen über den engeren Bezirk der Vaterstadt hinausführte, war mit ihr verbunden durch eine Straße oder die eiserne Spur von Schienen. Immer war ein 186 Weg nach rückwärts gegeben und jede Weite ließ sich messen und ermessen von ihrem Ausgangspunkte her. Man konnte mit dem Raum spielen, da man ihn bewältigen konnte.

Hier spielte der Raum mit dem Menschen. Was bedeutete ein Mensch in der Savanne? Er war nicht wichtiger und nicht bedeutsamer als die endlosen Meilen Grasland; vielleicht, wenn er zu Pferde saß, um ein weniges höher als sie. Aber Sonne und Wind strichen gleichmütig über ihn hin, wie über die harten Gräser und die verlorenen Gruppen ängstlicher Bäume. Kein Licht und kein Dach vermittelten den Glauben, man könne sich abgrenzen und schützen; man könne die frierende Unrast der Einsamkeit sich auflösen lassen im Klang von Menschenstimmen.

Wie hatte er zu Hause weites Land geliebt! Wie stark sprach zu ihm die Dehnung flacher Wiesen und Felder, ihre sanften Umzäunungen von niederem Buschwerk und den sonnenumkränzten Knicks. Nichts schien beengt. Das Auge konnte über die Ebene gleiten und doch dabei ruhen. Es hatte die Grenzenlosigkeit der Weite und doch die Gewißheit schirmender Horizonte. Hier aber, in diesem Lande, hatte alles ein anderes Gesicht und einen anderen Klang. Alle Bedeutungen waren verschoben. Wer in seiner Heimat lebte, mußte die Natur zwingen, reich zu werden und zu geben. Wer hier lebte, mußte die Natur zwingen, sich zu bescheiden und das Übermaß des Wachstums zu dienlichen Maßen zu vermindern.

Dieses Übermaß begegnete ihm auf Schritt und Tritt. Es schlug mit seinen unbändigen Wellen bis an die Mauern des Wohnhauses heran; reichte noch mit dem 187 leicht verwilderten Garten bis an die Stufen der Terrasse und scheuchte ihn zurück. Es gab nur einen Raum im Hause, an den nichts dergleichen herankam: sein Zimmer.

Es war klein, schmal und dürftig. Aber das astige Tannenholz kannte er von den frisch geschlagenen Stämmen her. Er wußte, wo sie gewachsen waren und wie sie dastanden in schneeweißen Lasten oder mit den gelben Spitzen ihres Wachstums im Frühling. Diese Kerben in der Tischplatte waren mit seinem Federmesser geschnitzt. Er konnte sie jederzeit wieder erkennen und mit ihnen das müßige Spiel seiner Hände, wenn die Gedanken ohne Beherrschung im unsicheren Revier wilderten. Diese zwei, drei Photographien, mit Heftzwecken auf die Wand gedrückt, umzirkelten Vorgänge und Ereignisse, an denen er, er selber, teilgenommen hatte. Auch sie hatten im Grunde nichts mit Heimat und Heimatsgefühl zu tun. Sie bewiesen ihm nur auf das stärkste und innigste die Tatsache seiner eigenen Existenz; den Umstand, daß sein Ich einmal Kreise gezogen hatte; die Hoffnung, daß es noch einmal Kreise ziehen würde und daß er nicht dazu verdammt war, im Wirbel einer maßlosen Natur zu einem unbeachteten Stäubchen dieser Natur herabgedrückt zu werden.

Er sah den Brief auf dem Tische liegen, nahm ihn in die Hand und legte ihn wieder zurück. Er verzögerte es, ihn zu öffnen. Nicht, um seine Spannung zu vergrößern. Seine Spannung war gering. Noch immer klang allzuwenig Teilnahme in ihm an, wenn er Briefe von daheim bekam. Noch immer lebten in ihm unerlöste Reste von Bitterkeit, und das Gefühl, es sei ihm einmal grenzenloses Unrecht geschehen. Mehr als sachliche Teilnahme konnten solche Briefe in ihm nicht erwecken. Aber daß da 188 auf dem Tische ein Brief lag, der an ihn gerichtet und der bestimmt war, ihm persönliches zu sagen, war von neuem eine willkommene Bestätigung seines Ichs und eine neue Waffe gegen die Vernichtung der Persönlichkeit.

Er öffnete langsam den Umschlag und las:

Lieber Sohn Eberhardt,

ich weiß, daß Du von Deiner lieben Mutter in regelmäßigen Abständen Nachrichten erhalten hast. Sonst würde mich der Gedanke beunruhigen, Du habest drei Monate lang nichts aus Deinem Elternhause gehört. Ich erinnere gut, daß es drei Monate sind, seit ich Dir zuletzt geschrieben habe. Ziehe daraus keine Schlüsse auf mein persönliches Verhältnis zu Dir.

Meine Zeit ist überaus belastet. Zuweilen sieht es aus, als lebte man nur, um Geschäfte zu machen. Aber es ist doch wohl umgekehrt. Die Zeiten sind sehr schwer geworden. Man muß sich dran halten, wenn man das Erworbene bewahren und mehren will. Zwar habe ich nur ein einziges Kind, dem ich die Früchte meiner Tätigkeit hinterlassen könnte; aber man übersieht zu leicht, daß jedes Unternehmen auf die Länge sich zu einem selbständigen Geschöpf auswächst, von dem man sich nicht einfach loslösen kann. Die fünfte Generation lebt und werkt jetzt in unserem Geschäft. Ihr Geist, ihr Können und ihre Opferfähigkeit haben darin ihren Niederschlag gefunden. Ich könnte mir nicht denken, daß einer aus unserer Familie dieses Erbteil unserer Ahnen einmal aus den Händen lassen könnte.

Ich schreibe wie einer, der müde ist und seinen Platz am Schreibtisch aufgeben will. Das macht das Sinnieren und 189 Nachdenken. In Wirklichkeit ist alles in vermehrter Bewegung, wie ich Dir schon andeutete. Mit gleicher Post habe ich an Deinen Chef geschrieben, um neue Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Man muß heute schließlich mit allen Nationen Handel treiben. Unsere persönlichen Gefühle dürfen da nicht ausschlaggebend sein. Ich liebe z. B. die Russen gewiß nicht. Sie sind ein zügelloses Volk, eine ständige Gefahr für den Frieden in der europäischen Wirtschaft, ja, in der Welt überhaupt. Das darf mich aber nicht hindern, mit ihnen Geschäfte zu tätigen, sofern unsere deutsche Wirtschaft, insbesondere unsere bremischen Belange es erfordern.

Ich habe dieses Thema ganz ohne Vorbedacht angeschnitten. Der Zufall will es aber, daß es gerade jetzt eine gewisse Aktualität bekommt. Erinnerst Du Dich noch eines jungen Mannes, namens Krämer, der mit Dir zusammen bei Steding & Kroog war? Du wirst erstaunt sein, wenn ich Dir sage, welche Entwicklung er genommen hat: er gehört jetzt zu den eifrigsten sozialistischen Agitatoren unserer Stadt. Er kandidiert zu den neuen Wahlen für die Bürgerschaft und hat im Kasino dieser Tage seine Jungfernrede gehalten. Ich bin natürlich nicht dort gewesen, sondern referiere den Inhalt seiner Rede aus der Zeitung. Danach war sein Thema so ähnlich wie »Wirtschaft und nationale Politik«. Der Kern seiner Ausführungen war: der Kaufmann ist charakterlos, unlogisch und verlogen, wenn er eine stramm nationale Politik treibt, noch Erbfeinde kennt, zum Widerstand gegen alle Nationen rüstet, seine deutsche Überlegenheit immer in den Vordergrund stellt, und dann mit denselben Nationen Geschäfte macht. Erzähle diesen Scherz mal Deinem Baas, 190 damit er was zu lachen hat. Der liebe Mähren allerdings hat vor Wut geschäumt, denn einige Male wurden die Franzosen, der Bordeauxwein und der bremische Handel in Rotwein erwähnt. Ich brauche Dir wohl keinen Kommentar zu meiner Stellungnahme zu geben. –

Mähren – da ich gerade von ihm berichte – hat sich wieder um seine Vaterstadt sehr verdient gemacht. Er hat in Berlin ein sehr wertvolles Gemälde erstanden und es der Kunsthalle geschenkt. Der Name des Malers ist mir entfallen – aber er soll als ein sehr großer Künstler gelten. Die Freude darüber ist allgemein und es sind schon verschiedene Aufsätze über das Bild in den Zeitungen erschienen. –

Die liebe Mutter wird Dir über die letzten Tage unseres guten Großvaters Simon berichtet und Dir auch die Ausschnitte geschickt haben, die ich für Dich zurückgelegt habe. Man soll nicht lange an traurigen Dingen hängen; aber im Zurückdenken empfinde ich immer wieder mit tröstlichem Stolz, welche Liebe und Achtung er genossen hat. Pastor Johannsen sprach erhebende Worte, und die Halle konnte nicht alle Menschen fassen, die an der Feier teilnehmen wollten. Das war ein sinnvolles und ausgeglichenes Dasein: gütig und gerecht zu den Menschen; treu und liebevoll zu seiner Familie; besorgt und aufopfernd für das Gemeinwesen. Ein Leben, das der Nachahmung wert ist!

An unserem guten Onkel Philipp sind die Jahre auch nicht spurlos vorübergegangen. Er ist zwar immer noch bei guter Laune und erfreut alle durch die Heiterkeit seines Wesens, aber wenn er mittags die Treppe zum Ratskeller herunter kommt und mit seinem Stock über die Stufen 191 hämmert, tut einem die Hinfälligkeit seines Körpers in der Seele weh . . . Bernd ist jetzt als Teilhaber in die Firma aufgenommen worden und macht sich recht tüchtig. Er ist einer von den Unauffälligen, die ihr Licht nicht auf den Marktplatz stellen, aber doch still und zähe ihr Schäflein ins Trockene bringen. Der kleine Ludwig geht auch schon recht stramm auf den Beinen und ist unser aller Freude. –

»Jungfer Metta« ist immer noch die gleiche geblieben. Es scheint, als gingen alle Jahre spurlos über sie hin. Man glaubt nicht, daß sie schon 85 gewesen ist. Wenn ich sie ansehe, wie sie da still und ernst in ihrer Ecke am Nähtisch sitzt, habe ich zuweilen das Gefühl, es säße da ein lebendiges Stück Vergangenheit und richte die Augen auf uns, die Nachkommenden, ob wir das Erbe der Geschlechter auch wohl hüteten und weiter pflegten.

Habe ich Dir eigentlich schon berichtet, daß Becka Justin zu Onkel Philipp nach dem Osterdeich gezogen ist und die Führung seines Haushalts übernommen hat? Wir sind alle recht zufrieden mit dieser Lösung. –

Als letztes, mein lieber Sohn Eberhardt, habe ich es mir aufgespart, von Deiner guten Mutter zu berichten. Ihr Gesundheitszustand hat sich bis jetzt nicht bessern wollen. Immer noch ist das Herz allzu schwach und erregt. Es kommen Zeiten, wo sie für nichts Teilnahme empfinden kann, und trotz unseres ruhigen und zurückgezogenen Lebens ist sie von den geringsten Anstrengungen bald erschöpft. Sie spricht viel, sehr viel von Dir. Sie wünscht sehnlichst, daß die drei Jahre erst vorüber wären und Du wieder zu ihr zurückkommen könntest. Ich sage: zu ihr. Du weißt, daß ich in allen anderen Dingen Dir die freie 192 Entschließung nie rauben würde. Aber daß Deine Mutter sich nach Dir sehnt und daß Deine Rückkehr einen großen Teil ihres Leidens beheben würde, ist nicht zu leugnen. Schreibe ihr recht häufig und ausführlich. Es belebt sie immer sehr. Vielleicht kannst Du in dem einen oder anderen Briefe andeuten, wann Deine Zeit dort herum ist.

Nun soll es genug sein für heute. Ich hoffe, daß Deine Gesundheit weiter gut ist und daß Deine Tätigkeit Dich befriedigt. Du weißt, wie ich über Fügungen und Schicksale denke. Darum werde ich Dich immer in mein Gebet einschließen.

Dein Vater.

Eberhardt legte den Brief beiseite und sah starr vor sich hin.

Warum las er das alles? Was ging es ihn an? Es waren die Menschen seines Kreises. Aber er sah diesen Kreis nicht. Er fühlte sich nicht mehr einbezogen. Er fragte sich – zum tausendsten Male – wo sonst er einbezogen sei. Wohin und zu wem gehörte er? Er saß hier, er lebte und arbeitete hier. Das war alles. Den Tag fraß die Arbeit; die Nacht der Schlaf. Waren da nicht einmal Gedanken an Freiheit und Persönlichkeit gewesen? Wer war hier frei? Jeder war Knecht; jeder diente. Immer nur in anderer Form. Antje diente ihrem Manne. De Graff diente seiner Plantage und seinem Geschäft. Schlahmann diente seinem Lager und seiner Ordnung. Er selbst . . . er diente der Tätigkeit; einer Beschäftigung schlechthin. Sie verdroß nicht und sie erschütterte nicht. Sie verlangte, getan zu werden. Und er tat sie. Er gab und sie nahm hin. Er war eine Maschine geworden, die kalt und 193 sachlich ihr Schwungrad kreisen ließ, so lange der Motor des Tages sie mit Kräften speiste.

Was hinderte ihn auszubrechen? Den Ort zu wechseln; auf Abenteuer zu gehen; Länder und Entfernungen zu fressen und Menschen zu suchen, die wie er sein Dasein nach eigenen Gesetzen formten? Er hatte eine ausreichende Reserve an Geld, um für ein Jahr auf wilde Fahrt zu gehen. Was gingen ihn Verträge an? Er hatte keinen Vertrag mit de Graff geschlossen. Die Abmachungen seines Vaters verpflichteten ihn nicht. Jeden Tag konnte er gehen.

Aber er ging nicht. Er hatte keine Zeit zu gehen. Über Nacht wuchsen immer die Dinge auf, die am nächsten Tage getan sein wollten. Es war ihm nicht gegeben, sie unerledigt liegen zu lassen. Sein Erbteil, sein böses, unausrottbares Erbteil war, Achtung vor dem Sinn des Sachlichen zu haben. Und alle Freiheit und Menschlichkeit verkümmerte unter ihrer Last . . .

Es überkam ihn plötzlich das wütende Weh nach dieser Heimat der Menschen, nach diesen Gefilden der freien Entfaltung; mit vielen Widerhaken stieß und schmerzte das Gefühl, vor den verschlossenen Toren eines Paradieses zu stehen. Er warf den Kopf auf die Arme und weinte mit schweren Atemstößen seine Bedrängnis aus. –

Unten im Hofe klapperten Pferdehufe. Er riß sich auf, trocknete die Augen und verließ das Zimmer.

Aber es waren nicht die Pferde, die ihn und Schema nach Paramaribo bringen sollten. Ein ellenlanger brauner Bursche machte sich gerade mit zwei niedrigen, breitrückigen Tieren zu schaffen und rieb sie mit Strohbündeln ab. Von der Terrasse her klang neben den gewohnten 194 Stimmen eine neue: behaglich, breit, von unbändigem Lebensdrang beseelt.

Er wollte in die Stallungen gehen, hörte aber, daß man nach ihm rief und kam auf die Terrasse. Jan Kuvell war zu Besuch gekommen. Seine Gestalt war wie sein Organ: breit, massig, behaglich. Ein unverwüstlicher Frohsinn, eine weltentiefe Zufriedenheit leuchtete aus seinen Augen. Er begrüßte Eberhardt laut und herzlich. Alle zwei bis drei Wochen kam er die zwanzig Meilen geritten, um mit seinen Landsleuten zusammen zu sein. Und wenn auch auf seiner abgelegenen Farm sich nichts ereignete, was sich nicht im gleichen Maße bei de Graff ereignete, so gab es doch immer eine Unmenge zu erzählen, und die Zeit flog hin, bis der Nachmittag zum Aufbruch mahnte.

Zuweilen begleitete ihn seine Tochter Grit, ein Mädchen von unerhörtem Gleichmaß und einer männlichen Energie. Sie führte nicht nur den frauenlosen Haushalt, sondern erledigte darüber hinaus fast den ganzen kaufmännischen Teil des großen Betriebes, der von den Ureltern her den Namen »der neue Grund von Cnoppomombo« führte.

Kuvell war sehr aufgeräumt. »Ist mir eine Freude, Sie zu sehen, Melchior. Ist überhaupt eine Freude, Sie zu sehen. Mann Gottes, wie sind Sie jung und kräftig! Taxiere, daß Pieter eine solide Kraft an Ihnen hat.«

»Er hat mich noch nicht rausgeworfen«, sagte Eberhardt trocken.

»Keine Angst, Melchior. Wenn er das tut, nehme ich Sie jeden Tag mit Kußhand.«

Pieter schlug ihm auf die Schenkel: »Könnte dir so passen, alter Gauner. Freiwillig geb' ich ihn nicht her.«

»Na, alle Zeit geht einmal zu Ende«, meinte Eberhardt. 195

Antje sah Kuvell bedeutsam an. Der kraute sich bedauernd den Kopf: »Weiß der Himmel, wie einem so die Zeit unter den Händen wegläuft. Sollte das dritte Jahr schon zu Ende gehen? Scheint doch so. Erinnere, daß Grit ein Mädchen von siebzehn Jahren war, als Ihr kamt. Jetzt ist sie zwanzig. Wie alt sind Sie eigentlich, Melchior? Bei Euch Norddeutschen kann man das schwer sagen. Ihr verändert Euch nur alle zehn oder zwanzig Jahre.«

»Nach Ihrer Rechnung bin ich also dreiundvierzig. Nach meinem Geburtsschein bin ich allerdings erst dreiundzwanzig.«

»Gutes Alter. Bestes Alter. Alles liegt da noch vor einem. Ein Alter ohne Sorgen und mit viel Aussichten. Ein Alter, in dem man noch Pläne machen kann. Wie ist's mit Ihren Plänen, Mynher?«

»Pläne?« sagte Eberhardt gedehnt. »Ich habe keine Pläne. Wenn die drei Jahre herum sind . . . dann sind eben drei Jahre herum. Der liebe Gott wird es besser wissen als ich, was ich dann beginne. Ich habe wirklich nicht darüber nachgedacht.«

»Wollen Sie im Lande bleiben?« fragte Kuvell vorsichtig. De Graff und Antje hielten vor Spannung und Erwartung den Atem an.

Eberhardt sah ratlos vor sich hin: »Im Lande bleiben? Warum? Und warum nicht? Ich sage Ihnen ja, ich habe nicht darüber nachgedacht. Man kommt hier so wenig zum Denken. Man hat keine Zeit dafür.«

»Er ist ein sehr fleißiger Mann«, sagte Antje stolz und gab ihm einen herzlichen Blick.

»Sehen Sie«, dozierte Kuvell, »das Land hat eine 196 Zukunft. Im Augenblick frißt die Verwaltung zu viel. Aber das gleicht sich aus, wenn die Produktion sich hebt. Ich zum Beispiel habe noch drei Landstücke liegen, so groß, daß man Pferde darauf totjagen kann. Es müßte einer kommen, der die Zeit und Energie hätte, sie in Kultur zu nehmen. Grit und ich sind aber voll beschäftigt. Da liegt Kapital brach, sage ich Ihnen. Es ist ein Jammer.«

Eberhardt schwieg nachdenklich. De Graff tastete weiter: »Ich fürchte nur, Melchior, Ihr Vater wird Sie zurückrufen, wenn die drei Jahre herum sind.«

»Mich zurückrufen? Das glaube ich nicht. Er wird mich erwarten; er wird bestimmt damit rechnen, daß ich zurückkomme. Aber er wird es mir nicht befehlen. Er hat auch kein Recht dazu. Ich bin erwachsen und entscheide selber über das, was ich tue. Ich verantworte es . . . ich alleine, und bürde es keinem anderen auf.«

Er war erregter, als die anderen verstanden. Aber Kuvell schlug knallend auf den Tisch: »Gut ist das gesagt! Ein Mann, der weiß, was er will!«

»Sie irren, Herr Kuvell«, lächelte Eberhardt. »Ich bin einer, der weiß, was er kann; aber der nicht weiß, was er will. Vielleicht bleibe ich im Lande. Vielleicht gehe ich fort. Nach Bremen oder irgendwohin in die Weite . . . Ich weiß nicht . . .«

De Graff stand auf und legte ihm im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter: »Wenn Sie einmal bleiben wollen, Melchior . . . mein Haus ist immer offen. Und was Antje angeht . . .«

Sie strich ihm mit einer schnellen, scheuen Zärtlichkeit über die Hand: »Wir haben keine Kinder . . .« Sie atmete tief und ging fort, um sich nicht zu verraten. 197 Eberhardt sah zum ersten Male in diesen drei Jahren an ihr die Erschütterung eines menschlichen Gefühls. Er war selber davon gepackt, und als das befangene Schweigen nicht enden wollte, brach er es mit seiner klaren, sicheren Stimme: »Wenn ich bleibe, Baas, dann will ich nicht vergessen, wie gut Sie alle die Zeit zu mir gewesen sind.« Und als er Kuvell ansah, der eine Träne in den ehrlichen, klaren Augen hatte: »Und auch mit Jan Kuvell werde ich dann wohl gute Freundschaft halten. Ich mag ihn gern.«

»Soll ein Wort sein!« rief Kuvell erfreut. »Man kann es sich ja auch mal unter Männern eingestehen, daß man jemanden gern hat. So, und jetzt muß ich heim, sonst ist der ganze Bau leer.«

»Wieso?« fragte de Graff.

»Kolpe geht nach Paramaribo. Und Grit muß dort Kabel aufgeben. Kolpe vergißt es doch, wenn er eine Bar sieht. Haltet euch munter. Ich komme bald mal wieder.«

Er pfiff grell durch die Finger. Der braune Bursche erschien mit den beiden kleinen Pferden. Zugleich kam auch Schema angeritten und winkte: »Ehe es zu heiß wird, Herr.«

Die vier Reiter trabten durch die Mangrovenallee. Am Ende der Pflanzungen trennten sich ihre Wege. Jan Kuvell ritt nach Norden; Eberhardt nach dem Süden. Kuvell gab ihm die Hand: »Wenn Sie wieder mal freie Zeit haben, kommen Sie zu uns. Es muß nicht immer die Stadt sein. Ich weiß, Sie sind nicht so versessen darauf.«

»Ist recht«, nickte Eberhardt. »Nächstes Mal zu Ihnen.«

Dann ritt jeder seines Weges.

Die Straße senkte sich schnell. Sie war zu beiden 198 Seiten von sanften Hängen eingerahmt, auf denen neue Kaffeepflanzungen entstanden. Schwarze, braune, gelbe Menschen arbeiteten da in langen Kolonnen. Im Osten, gegen den Maroni hin, dehnten sich weite Strecken mit Gummibäumen. Dazwischen schob das absenkende Gebirge bizarre Massen aus zackigem Granit. Von Urzeiten her waren riesenhafte Abbilder von Schlangen und Krokodilen darin eingegraben. Hin und wieder drängte sich ein Wohnhaus oder ein Warenschuppen bis dicht an den Weg heran. Dann schätzte Eberhardt, wie es ihn die Gewohnheit dieser letzten Jahre gelehrt hatte, Mengen der Ware, Stand der Pflanzungen, Zustand der Gebäude. Er tat es gerne; nicht, weil es ihm wichtig war, sich vermehrte Kenntnisse zu verschaffen, sondern um auf diesen endlosen Wegen einen Anhalt und eine Stütze zu haben. Zuweilen empfing er den Zuruf eines Pflanzers oder eines Verwalters. Er gab ihn ruhig und freundlich zurück. Aber er versäumte sich deswegen nicht. Vor ihm lag, wie ein Hindernis, das unter allen Umständen so schnell wie möglich genommen werden mußte, der letzte Streifen Urwald, der ihn von der niederen Küste trennte.

Schema wies mit der Hand vorwärts und sagte: »Da.«

Eberhardt beschattete die Augen, konnte aber in dem flirrenden Licht nichts sehen. »Was ist denn?« fragte er.

»Die Tochter von Kuvell und der Trinker.«

Der»Trinker« war Kolpe, Kuvells Verwalter. So hieß er in dem ganzen Landstrich. Mitten in dem Übermaß der Arbeit, das er seit Jahren leistete, hatte er Zeiten, in denen er alles gehen und stehen ließ und sich in maßloser Trunkenheit verkroch. Dann fanden ihn Arbeiter irgendwo unter Bäumen in den Pflanzungen, wie ein Tier, das sich 199 versteckt hatte. Sie wagten nicht, ihn anzurühren, denn er konnte in tobenden Zorn ausbrechen. Aber da er sonst gut und freundlich zu allen war, pflegten sie ihm ein Gefäß mit Wasser zur Seite zu stellen, damit er sich beim Aufwachen erfrischen könne.

Eberhardt erkannte jetzt die beiden und sah auch, daß sie am Eingang des Waldes auf ihn warteten. Er war nicht erbaut von dem Gedanken, in Gesellschaft zu geraten. Aber für die Strecke Urwalds ließ er sich es gerne gefallen.

Grit Kuvell saß im Männersitz auf ihrem Pferde. Unter dem breiten, geflochtenen Hut drängte sich eine gewaltige Fülle von braunem Haar . . . Ihr Gesicht war ein wenig flach, aber die Augen verrieten, daß fremdes Blut in ihren Adern floß. Es hatte immer einen schmerzlichen Reiz für Eberhardt, ihr zu begegnen, denn ihre Stimme erinnerte ihn nur zu sehr an eine andere, die ihm in der vergessenen Heimat einmal zu Ereignis und Schicksal geworden war. Auch vieles in ihrem Wesen mahnte zum Erinnern: diese gerade Zielstrebigkeit, diese Bestimmtheit des Willens und des Zieles, diese . . . diese Schamlosigkeit, sich zu bekennen . . .

Er hatte sonst keinerlei Beziehungen zu ihr. Zuweilen war sie zwar für Monate die einzige Frau außer Antje de Graff, der er begegnete, aber weder aus dem Gefühl noch aus den Sinnen her regte sich etwas in ihm, wenn er mit ihr zusammen war oder wenn er an sie dachte. Er achtete und bewunderte an ihr den Fleiß und die Klugheit; aber zugleich störte ihn die Energie, die er als zu männlich und mit seiner Vorstellung von dem Wesen einer Frau nicht vereinbar fand. Immerhin gediehen sie 200 zu einer ehrlichen Kameradschaft, tauschten diese und jene Kenntnis, dieses und jenes Wissen aus, und zuweilen belud der eine den anderen sanft und unaufdringlich, ohne jede Verpflichtung, mit den leisen Andeutungen persönlicher Not und Sorge.

Grit winkte schon von weitem und rief: »Nicht so gemächlich, junger Mann. Es scheint, Sie haben sich schon mit meinem Vater verschwätzt?«

»Ein wenig«, lachte er. »Aber was gibt es zu eilen? Paramaribo bleibt noch eine Stunde länger stehen.«

»Sie werden nie lernen, sich in die Bedingungen dieses Klimas zu fügen. Sie leben so, als gäbe es hier gar kein Klima, als wären Sie auf einer norddeutschen Wiese. Diese Verachtung kann sich eines Tages rächen.«

»Wenn mich die Rache noch erreicht . . .«

»Sie kokettieren immer mit dem Davonlaufen. Wenn nicht einer kommt, der Sie an den Haaren aus dem Lande herauszerrt, dann bleiben Sie doch hier hängen. Und ich würde es nicht bedauern.«

»Abwarten«, sagte er in einiger Verlegenheit. Dann begann der Urwald, sich über den Weg zu breiten. Man konnte gerade zu zweien reiten. Darum kommandierte Grit: »Kolpe! Voran reiten. Und der Schema auch.«

Kolpe riß sein Pferd hoch und jagte davon. Schema folgte ihm langsamer.

»Er wittert schon die Stadt wie ein Gaul das frische Wasser«, sagte sie. »Es ist fraglich, ob ich ihn heute wieder mit nach Hause bekomme.«

»Schade um den Mann«, sagte Eberhardt.

»Schade . . . wie man es nimmt. Ich will nicht gerade sagen, daß er sich glücklich fühlt. Wer täte das? 201 Aber das Leben, das er führt, ist eines, das zu ihm gehört; eines, mit dem er sich gut verträgt, möchte ich sagen.«

»Er wird dabei vor die Hunde gehen.«

»Das kann einem hier leicht passieren. Aber wenn es mit einer bestimmten Form geschieht . . . und nicht einfach so aus Zufall und Verschleuderung, dann mag es hingehen.«

»Nette Ansichten.«

»Ja. Ich bin nicht kleinlich. Jeder soll mit seinem Leben machen, was er will. Er soll es wegwerfen, wenn er will. Aber dann mit einem ordentlichen Griff. Ich hasse nichts mehr als die Menschen, die nicht wissen, was sie mit sich und ihrem Leben eigentlich anfangen sollen.«

Er sah ihr lächelnd unter den breiten Hut: »Das geht wohl so ein wenig auf mich, Grit Kuvell?«

Sie wandte die Augen nicht ab: »Ein wenig schon. Es kann Ihnen auch nicht schaden. Aber Sie können mir sagen, es ginge mich nichts an.«

»Ich mache Ihnen das Recht nicht streitig«, sagte er herzlich. »Aber ich fürchte, es wird verlorene Liebesmüh sein.«

»Liebesmühe ist nie verloren.«

»Aber die Gegend ist schlecht gewählt«, seufzte er. »Sie sollten doch wissen: jedes noch so kleine Stück Urwald bringt mich aus der Fassung.«

»Ich weiß. Aber ich habe den Grund nie eingesehen. Furcht haben Sie doch nicht.«

»Gewiß nicht. Und außerdem sind Sie ja bei mir.«

»Spotten Sie nicht, junger Mann. Im Ernstfalle nehme ich es noch mit einem erwachsenen Manne auf.« 202

»Ich weiß«, wehrte er lachend ab. »Die Fama sagt . . .«

»Lassen Sie die Fama schlafen. Sie lügt immer etwas. Sagen Sie mir lieber, was Sie eigentlich gegen den Urwald haben?«

»Nutzlos, darüber zu reden, Grit Kuvell. Es sitzt im Gefühl.«

»Dann reden Sie es heraus. Alles, was man sagen kann, verliert seinen gefährlichen Charakter. Oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?«

»Doch, doch. Ich habe schon Vertrauen zu Ihnen . . . aber nicht zu mir. Will sagen: zu meiner Fähigkeit, mich klar auszudrücken. Ich kann nur Beispiele geben. Sehen Sie sich bitte das Vieh an, das dort fliegt.«

»Mein Gott, dieses Vieh ist ein entzückender Kolibri.«

»Richtig. Diesen Kolibri finde ich entzückend, wenn ich ihn im Bremer Museum ausgestopft sehe. Dann sage ich: fabelhaft. Hier sage ich: unerträglich.«

»Etwas deutlicher, Mann.«

»Sofort. Wenn ich da oben in Norddeutschland so auf meinen kleinen Streifen war, etwa an der Wümme oder an der Hamme in den Niederungen, und mich dort still und friedlich ins Gras setzte, dann wußte ich: das da ist ein Kibitz. Ein reizender Kerl. Ich stand mit ihm auf du und du. Und das da ist eine Lerche. Man kann ihr Grüß Gott sagen und mit ihr in den Himmel fliegen. Oder ein Regenpfeifer kam daher. Zuweilen lieferten sich die kleinen Kampfhähne eine lustige Schlacht. Und was sonst so um mich herum kroch, war im bösesten Falle eine Ameise, die den Versuch machte, mich zu zwicken. Eine stille, friedliche Gesellschaft; ohne großen Aufwand an Form oder Farbe.« 203

Grit nickte: »Ihr von da oben vertragt keine starken Farben.«

»Das ist richtig«, sagte er. »So hätte man es sagen müssen. Aber dort ist auch alles heimlicher. Hier ist es . . . unheimlich. Ich fürchte mich nicht vor einem Puma oder Jaguar. Denen kann ich beikommen. Aber das Kleine, Kriechende, Giftige entsetzt mich. Ich mag diese Insekten nicht. Ich ekle und fürchte mich vor den Schlangen. Ich habe eine Abneigung gegen Brüllaffen. Ein kreischender Ara zerreißt mir das Trommelfell. Ein Gürteltier ist für mich von unausstehlicher Häßlichkeit. Ich habe keine Beziehung zu dem, was hier lebt.«

»Das ist Furcht, Melchior. Panische Furcht.«

»Ja«, gestand er. »Es ist Furcht . . . vor dem Fremden.«

»Aber das kann nicht alles sein. Damit haben Sie noch nicht alles ausgedrückt.«

»Auch das ist richtig, Grit. Ich will versuchen, Ihnen den Rest zu sagen. Sehen Sie sich hier einmal um. Nehmen Sie meinetwegen diesen Baum. Ich schätze dreißig Meter Höhe. Ja? Also etwa sechzehn- bis siebzehnmal die Größe eines gut ausgewachsenen Menschen. Der Vergleich ist peinlich für uns. Das ist nur ein Baum. Es stehen auf diesem kleinen Streifen einige hunderttausende. Das ist erdrückend.«

»Man nimmt Säge und Axt«, sagte sie, »und schlägt sie um. Dann sind sie kleiner als wir. Wir exportieren sie, und dann existieren sie in unseren Hauptbüchern.«

»Wenn das nützen würde! Es nützt aber nicht. Im Gegenteil. Da kommt erst der Pferdefuß zum Vorschein. Heute schlagen Sie den einen Baum um. Morgen 204 beginnt dort ein neuer zu wachsen. Vielleicht zehn neue. Es wartet ja nur alles darauf, etwas Platz, winzig wenig Platz zu bekommen. Dann setzt gleich das Wachsen ein. Ein sinnloses Wachsen, ganz eigenwillig, ganz zügellos, ganz unkontrollierbar. Wachsen, blühen, wuchern, treiben . . . so entsetzlich viel Leben, daß tausend Menschen darunter vermodern könnten, und nach einem halben Jahre hätte der Boden alles aufgefressen. Nichts wäre mehr zu sehen als Humus. Grund zum wachsen, blühen, wuchern, treiben . . . Ein furchtbarer Kreislauf.«

»Es ist die Natur . . .«

»Es ist eine unmenschliche Natur. Was läßt sie einem? Nichts als das Gefühl, grenzenlos überflüssig und bedeutungslos zu sein. Der Mensch, der kleine Mensch, der große Mensch mit allen seinen Ideen und Idealen wird da einfach ausgelöscht, wegradiert, verneint, vernichtet. Man muß sich in eine kleine Kammer mit vier Wänden und einem rohen Holztisch flüchten, um überhaupt noch das Gefühl zu haben, man wäre da und noch nicht ausgelöscht.«

Er strich sich erregt über die Stirne. Sie sah ihn aus mitleidsvollen Augen an: »Vielleicht haben Sie nie den Versuch gemacht, den Rhythmus einer solchen Wildnis zu begreifen.«

»Es ist keiner!« rief er leidenschaftlich. »Keiner, den ich verstehen und mitschwingen kann. Ich will Ihnen etwas verraten, Grit Kuvell, worüber ich Jahre lang nicht gesprochen habe. Ich habe einmal Gedichte geschrieben, richtige Gedichte mit Reim und Klang und Farbe und Rhythmus. Die konnte ich verstehen, weil sie . . . weil sie mit dem Herzen und dem Blutschlag übereinstimmten. 205 Ich war in den Versen. Die Verse in mir. Nicht nur in mir. Einmal auch in einem anderen Menschen . . . wo sie lebendig geworden waren. Es ist vorbei. Gleichgültig, warum. Aber erleben ließ es sich. Hier kann ich das nicht. Nicht einen Vers kann ich hier schreiben. Noch als ich auf dem Schiffe war, um in die Verbannung zu fahren, quoll alles nur so in breiten Strömen dahin und wollte kein Ende nehmen vor Freude und vor dem Gefühl der Freiheit. Hier ist nichts mehr davon. Ich sehe das Auf und Nieder nicht mehr. Das milde Absterben zum Herbst hin und das sanfte Erwachen zum Frühling hin. Hier ist keine Pause, keine Ruhe, kein Schlaf, kein Sichverträumen. Hier geht es wie mit ewig gleich lauten Kesselpauken, ohne Aufhören, ohne Einschnitt, ohne Begrenzung . . . schamlos . . . schamlos wild und ohne Gefühl für das Heimliche, Sprießende, Verborgene. Ich würde Ihnen den ganzen Urwald hingeben für einen kleinen Buchenwald und eine Ecke, auf der Veilchen wachsen . . .«

Sie hob sich hoch in ihrem Sattel: »Das ist die Furcht der Menschen, die nie aufgehört haben, zu träumen. Aber es gibt noch etwas anderes, Melchior. Es gibt die wache Freude der Menschen, die etwas bewirken. Man kann sich jedes Land zu Eigentum machen. Man muß es nur anpacken und es nutzbar machen. Die Fruchtbarkeit aus ihm herausholen und sie dienstbar machen.«

Er schüttelte den Kopf: »Auch das ist es nicht. Auch das ist nicht richtig. Bei uns – ich sage bei uns, weil schließlich kein Mensch eine andere Landschaft in seiner Seele herumträgt, als die, in der er einmal aufgewachsen ist – bei uns, sage ich, dient man dem Boden und ringt mit ihm, damit er sich aufschließt und hergibt, was er 206 herzugeben hat. Man liebkost ihn, damit er willig ist und freundlich. Hier ist alles umgekehrt. Man muß dem Boden diese wilde, wuchernde Fruchtbarkeit abgewöhnen. Man muß ihn zähmen. Man muß mit eisernen Ruten nach ihm schlagen, damit er sich endlich fügt und in den Grenzen bleibt, die man von ihm verlangt. Man tut ihm Gewalt an, so wie er dem Menschen Gewalt antut. Und wenn man ihn endlich in den Händen hat . . . dann ist er ein Industriegelände, nicht anders als bei uns zu Hause die Werften und Maschinenfabriken. Es ist ein verfluchtes Land!«

Es war wie ein Aufschrei. Grit ließ den Kopf hängen und hatte traurige Augen. »Schneller reiten«, sagte sie, »damit wir heraus kommen.«

Sie ließen die Pferde im Trab gehen. Eberhardt sah starr vor sich hin. Alle Umgebung blieb ihm verschlossen. Er war so unaufmerksam, daß sein Pferd stolperte. Grit nahm kurzerhand die Zügel und führte sein Tier. Er ließ es geschehen. Er hatte ein Gefühl der Geborgenheit dabei, ein Gefühl, als nähme ihm ein Mensch die Last seines Weges ab. Als der Urwald sich lichtete und die Straße wieder heller vor ihnen lag, nahm er ihre Hand und küßte sie. »Dank für das Geleit«, sagte er.

Sie atmete schneller, vielleicht von dem eiligen Ritt, vielleicht von dem beherrschten Gefühl. »Da ist nichts zu danken . . . Ich könnte nur danken.« . . . Sie strich liebevoll über die eigene Hand. »Das hat noch nie ein Mensch bei mir getan.«

Er sah sie aufmerksam an und fühlte, sie sei stark und unberührt und eigentlich schön. Wie gut könnte ich dir 207 sein, dachte er, wenn es nicht gerade hier wäre, in diesem Lande und bei diesem Leben.

Als hätte sie seine Gedanken gespürt, wandte sie sich zu ihm hin: »Sagen Sie mir, Melchior: Lieben Sie Ihre Heimat sehr? So sehr, daß Sie sie nie vertauschen können?«

»Sie wollen sagen: so sehr, daß Sie nie hier bleiben könnten; nicht wahr?«

»Es ist dasselbe.«

»Schwer zu sagen, Grit Kuvell. Wir Menschen aus der harten Nordkante haben ein eigenes Geschick. Wir können nur aus der Entfernung lieben und nur aus der Nähe hassen. Was sehr fern von uns ist, trägt den Glorienschein der Weite. Was uns ganz nahe ist, bedrückt uns durch die Nähe, macht uns unruhig und feindselig und gehässig.«

»Also Sie lieben Ihre Heimat?«

»Grit, warum fragen Sie heute so viel? Und so dringlich. Es ist sonst nicht Ihre Art.«

»Dann lassen wir es«, sagte sie ruhig und setzte ihr Pferd wieder in Trab.

Die Stimme tat ihm weh. Unter der Ruhe hörte er zu deutlich den Schmerz. Nun war er es, der die Zügel faßte und das Pferd zwang, im Schritt zu gehen.

»Ich will Ihnen etwas erzählen, Grit Kuvell. Aber nicht so vom Sattel aus. Das macht mich so unruhig.«

Sie wies auf eine Gruppe von Palmen, die in lockerem Bündel neben einem Felde mit Zuckerrohr standen. »Dahin?«

Sie banden die Pferde an die Baumstämme und setzten sich in den dichten Schatten nahe dem Felde. 208

»Als ich ein Mensch von neunzehn Jahren war, habe ich zu Hause, in meiner Heimat, den Versuch gemacht, mir mein eigenes Erlebnis zu verschaffen. Ich bin nicht gerade wählerisch in meinen Mitteln gewesen. Ich habe Schulden gemacht. Ich habe gelogen und betrogen und gestohlen. Ich war eigentlich reif für das Gefängnis.«

»Wer hat Ihnen das angetan?« fragte sie mit dunkler Stimme.

»Niemand. Niemand als ich allein. Es ist mein freier Entschluß gewesen. Ich muß Ihnen das voraus erzählen, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Das sind keine Dinge, die mich schrecken.«

»Aber sie müssen gesagt werden. Sie sind an sich nicht das Wichtige. Sie sind nur das Äußerliche an der Geschichte. Man hat mich daraufhin ins Ausland verschickt. Man, das bedeutet: mein Vater. Er sah nur das Äußere. Wäre ich nur ein Dieb und Betrüger gewesen und sonst nichts, ich hätte die Strafe als gerecht empfunden. Aber sie war ungerecht, weil sie auch das Innere traf, das, was die anderen nicht sahen und nicht verstanden. Ich will ehrlich sein: ich sah es, und verstand es doch nicht ganz. Ich hatte einen Freund, der mich in die Welt der sozialen Ideen einführen wollte. Ich hatte eine Freundin, die mich erleben lassen wollte, was Kunst sei. Ich hatte einen Kreis, einen Ring, in dem man um die Menschheit kämpfen wollte. Ich mußte weg von alle dem und nahm einen Begriff von Freiheit mit. Ich meinte, er wäre mir ganz klar. Hier habe ich eingesehen, daß es eine Täuschung war. Darum bin ich noch genau auf demselben Fleck, auf dem ich vor drei Jahren war. Ich bin mit nichts zu Ende gekommen; mit keinem Erlebnis, mit keiner Erinnerung, 209 mit keiner Zuneigung. Ich weiß das jetzt mit aller Klarheit. Heute habe ich einen Brief bekommen; darin steht, daß meine Mutter krank ist. Nichts regt sich dabei in mir. Beachten Sie das wohl. Ich habe kein Heimweh deswegen und empfinde keinen Schmerz darüber. Alles in mir bleibt auf demselben Fleck stehen. Alles ist unvollkommen . . . und doch ganz ruhig. Und es sieht aus, als wäre es ganz abgerundet. Nichts weiß ich im Grunde . . . nichts. Ich weiß auch nicht, ob ich meine Heimat liebe, denn ich bin ihr nicht fern genug. Ich weiß auch nicht, ob ich dieses Land hasse, denn ich bin ihm nicht nahe genug. Weder mit dem einen noch mit den anderen bin ich ganz fertig geworden . . .«

Er schwieg, weil er nicht wagte, das Letzte zu sagen. Grit hielt den Kopf tief gesenkt: »Dann muß der Mensch auf ein Erlebnis warten . . .«

Er griff sich mit der Hand nach dem Herzen und stöhnte leise: »Grit . . . das ist so gesagt . . . das habe ich mir vor langen Jahren einmal brennend gewünscht . . . und damit ist es angefangen, und ist nicht zu Ende gekommen.«

Grit Kuvell stand auf. »Kommen Sie, Eberhardt. Wir müssen weiter. Kolpe wird schon warten. – Eines noch: wollen wir vergessen, was wir heute miteinander gesprochen haben? Oder wollen wir es aufbewahren?«

Ihm hämmerte das Herz von diesem Anruf.

»Nicht vergessen«, bat er. »Aufbewahren . . . für die armen Tage . . .«

Sie nickte und schwang sich in den Sattel. Im scharfen Trab ging es die Straße hinunter. Die ersten Anzeichen der Stadt näherten sich. Häuser in der Ferne, ein Blick 210 auf das Meer, die Masten der Schiffe, entfernte Geräusche der Arbeit.

Von einer Wegbiegung aus sahen sie Kolpe und Schema, die im Schatten einer Baumgruppe warteten. Da ritt Grit Kuvell dicht an Eberhardt heran und sagte, ohne ihn anzublicken: »Bleiben Sie im Lande. Versuchen Sie es. Vielleicht werden Sie dann einmal so zu mir stehen . . . wie ich zu Ihnen . . . so voll Liebe.«

Sie wartete keine Antwort ab. Sie trieb ihr Pferd an und rief Kolpe zu: »Postsachen noch nicht verloren?«

Er grinste höhnisch: »Ehe die Herrschaften geruhten, nachzukommen, habe ich es vorgezogen, alles zur Post zu geben. Schema ist mein Zeuge. Nicht wahr, du brauner Dieb? Jetzt ist meine Anwesenheit wohl nicht mehr erforderlich. Habe ich Urlaub?«

Sie sah ihn streng an. »Es ist noch ein wenig früh für die Bar. Und im übrigen gehört es sich, daß Sie die Tochter Ihres Chefs ordnungsmäßig im Hotel abliefern. Verstanden?«

Kolpe wandte sich an Eberhardt: »Können Sie sich jetzt eine Vorstellung davon machen, wie ich behandelt werde? Es ist das reine Sklavendasein. Nun auch noch den Kavalier spielen!«

»Glauben Sie ihm nicht«, sagte Grit. »Er hat viel mehr Verantwortungsgefühl, als er zeigen will, der Hanstaps. Wo nächtigen die Herren? Wie ich vermute, nirgends. Um acht Uhr morgen früh reite ich zurück. Wer da ist, kommt mit. Wer nicht da ist . . . den soll der Teufel holen.«

»Amen«, sagte Kolpe treuherzig. »Ich habe die leise 211 Vermutung, der Teufel wird mich noch vor acht Uhr holen. Bleiben Sie in meiner Gesellschaft, Melchior?«

»Wenn Sie mir erst bei meinen Einkäufen Gesellschaft leisten, ja!«

Sie trennten sich vor Grits Hotel. Schema koppelte die Pferde zusammen und knurrte vor sich hin.

»Was hast du denn?« fragte Eberhardt. »Ich habe dich mitgenommen und du bist noch nicht zufrieden.«

Statt aller Antwort hielt Schema die offene Hand hin. »Ach so!« Er gab ihm einige Gulden, mit denen der Braune glückstrahlend abzog. Aber nach einer Weile kam er den beiden nachgelaufen, faßte seinen Herrn beim Ärmel, zog ihn beiseite und flüsterte: »Sind viele Schiffe angekommen. Vorsicht. Ich bleibe in der Nähe. Casino?«

»Wahrscheinlich Casino. Aber bleib nüchtern.«

Schema nickte und verschwand.

Die Straßen waren stark belebt. In dieser Stadt strömte alles Leben des Landes zusammen. Sie war der Eingang und der Ausgang für jeden, der kam oder ging. Auf der Reede lagen diesesmal ungewöhnlich viel Frachtschiffe, und es stand zu erwarten, daß die Abendstunden Haufen fremder Seeleute an Land spülen würden. Die Geschäfte hatten ihre Auslagen mit Waren aller Art vollgestapelt. In den Schaufenstern der Bars lockten Flaschen in allen erdenklichen Farben. Schilder riefen mit geheimnisvollen Andeutungen unerhörte Genüsse aus. Überall rüstete man, die Kassen mit dem Lohn der Landhungrigen und dem überschüssigen Gelde der Stadtwütigen zu füllen.

Kolpe und Melchior, beide groß, schlank, sehnig, blond, waren keine unbekannten Erscheinungen in der Stadt. Die 212 Nähe ihrer Plantagen brachte es mit sich, daß sie des öfteren gleichzeitig in die Stadt kamen und dort auch zusammenblieben. Kolpe hieß auch hier der »Trinker«. Aber hier hatte der Name nicht, wie oben in den Pflanzungen, den Beiklang des Bedauerns und des Mitleids. Hier war es fast ein Ehrentitel, ein vollgültiger Beweis seiner Leistungsfähigkeit. Bei den Wirten stand er in hohem Ansehen. Selbst wenn er zuweilen mehr vertrank, als er bezahlen konnte, wußte man, daß Jan Kuvell bei seinem nächsten Aufenthalt die Zeche restlos begleichen würde. Aber es blieb nicht immer bei den Kosten der Zeche. Manches zertrümmerte Stück der Einrichtung wurde ihm schonungsvoll aufs Konto gesetzt. Man war in den Bars bereits auf solche Zufälle eingerichtet. Darum hatten alle Gegenstände trotz aller prunkvollen Aufmachung den Charakter des Provisorischen.

Kolpe lachte zufrieden vor sich hin, als die leuchtende Auslage des Casino auftauchte: »Soll mich wundern, ob er alles wieder instand bekommen hat, der alte Betrüger. Letztes Mal hat er mir einen Kristallspiegel auf Konto gesetzt. Es war aber kein Kristall. Kuvell hat ihm die Hälfte gestrichen, und er war auch damit zufrieden.

Eberhard zuckte die Achseln: »Der Mann lebt eben von eurer Unvernunft.«

»Na, von Ihnen könnte er auch nicht leben«, knurrte Kolpe. »Wenn mal eine anständige Rauferei in Gang kommt, fahren Sie immer gleich als Friedensengel dazwischen.«

»Das ist ererbter Ordnungssinn«, lachte Eberhardt. »Ich kann dieses Durcheinander nicht leiden. Mir ist es lieber, daß jeder an seinem Platz ist.« 213

»Ja. Dafür haben Sie auch Ihren Spitznamen weg«, höhnte Kolpe.

»Ich habe einen Spitznamen? Raus damit. Ich will ihn wissen. Los!«

Kolpe wollte sich ausschütten vor Lachen. »Einmal müssen Sie es doch erfahren. Der ›Registrator‹ heißen Sie. Sie wissen schon: der Mann, der alles registriert und in Ordnung hält. Sie hätten neulich hören müssen, wie Ruggy das geschildert hat. Das ganze Lokal hat gewiehert vor Freude.«

»Was Ihr für Sorgen habt!« stöhnte Eberhardt. »Was erzählte er denn?«

»Das erzählte er: Ist da gerade ein hübsches Knäuel beisammen, das sich mit den Fäusten bearbeitet. Alles geht drunter und drüber. Kommt da dieser blonde Mensch, dieser dutch salesman, sieht sich die Sache an, schüttelt den Kopf, knöpft seinen Rock zu, damit es keine Falten gibt, packt in den Haufen hinein . . . Knack, sitzt einer auf dem Stuhl. Knack, sitzt der andere daneben. Man sieht ordentlich, wie bei ihm die Gedanken arbeiten, wo der Kerl gesessen hat, den er just in den Klauen hat. Dem einen wird es zu dumm und er fingert ein bißchen an seinem Schießprügel herum. Da steckt er eine Ohrfeige ein, an der der liebe Gott seine Freude hatte. Und mit einem Male lacht alles, daß sich die Balken biegen.«

»Die Balken biegen sich von Ihrer verdammten Lügnerei«, sagte Eberhardt. Aber im Grunde seines Herzens konnte er nicht bestreiten, daß die Darstellung richtig war. Er konnte nicht einmal bestreiten, daß er ein Gefallen daran hatte, seine Muskeln in Bewegung zu setzen. Er fing nie Streit an, aber er ließ sich auch nichts 214 gefallen. Und wenn die Lust zum Raufen über ihn kam, tat er sich keinen Zwang an.

Die Einkäufe dehnten sich aus, bis es Zeit war, zum Lunch zu gehen. Den Nachmittag verbrachten sie in einem Kaffeehaus. Dort lagen Zeitungen aus allen Ländern der Welt. Sie nahmen diese und jene in die Hand, klaubten hier und dort eine Neuigkeit auf und vergaßen sie gleich wieder. Kolpe warf endlich den ganzen Stoß beiseite. »Wissen Sie, Melchior, es geschieht doch eigentlich nur das, was man selber tut. Und da man nichts tut, geschieht auch nichts. Das ist der letzte Schluß meiner Weisheit. Und nun wollen wir in die Bar gehen.«

Eberhardt gab nach. Er hatte zwar zunächst die Absicht gehabt, ein Cinema aufzusuchen, aber er war heute selbst in einer Stimmung, die nach einer stärkeren Ablenkung verlangte. Er hatte das Empfinden, er habe jahrelang den Mund nicht aufgetan, und es habe heute ein aufkeimendes Gefühl die verriegelten Schleusen geöffnet. Entgegen aller Schweigsamkeit, die ihm sonst zu eigen war, riß es unbändig an ihm, sich im Sprechen herzugeben und zu bekennen. Er fieberte selbst nach der nebelnden Trunkenheit, in der es sich leichter und gelöster und mit weniger Hemmungen der Scham reden und beichten läßt.

Obgleich es noch heller Tag war, hatte man im Casino alle Fenster geschlossen und die Stimmung des Abends durch rot verhängte Beleuchtungskörper vorgetäuscht. Sie waren nicht die ersten. Trotz der frühen Stunde saßen schon Menschen an den kleinen runden Tischen. Es waren auch Bekannte darunter, die sie lebhaft begrüßten. Aber alle Lebhaftigkeit der Begrüßung und des Austausches von Neuigkeiten war doch gedämpft und von einer 215 gewissen Umgangsform gebändigt. Man legte Wert darauf, zu beweisen, daß man über solche Formen verfügte. Ehe nicht die große, allgemeine Trunkenheit kam, saßen da lauter Gentlemen an den Tischen, die artig grüßten, sich verbindlich nach dem Befinden des anderen erkundigten und im Wechsel von Rede und Antwort zurückhaltend und zuvorkommend waren. Selbst das Lachen war gedämpft, und es schien fast, als sei es der Auftakt zu einer wahren Heiterkeit.

Aber das alles war nur eine captatio benevolentiae für die späteren Stunden; die stumme, im voraus abgegebene Entschuldigung für den ungebändigten Willen, der nach Wochen der Einsamkeit und der harten Arbeit und der Entbehrungen notwendig ausbrechen mußte.

Die Mitte des Raumes war für die alten, immer wiederkehrenden Gäste aus den Pflanzungen reserviert. An den Seiten, längs der Wände und nach der Türe hin saßen die Fremden, die Zufälligen, die auf Reise oder Geschäft einen kurzen Aufenthalt in der Stadt hatten.

Als Eberhardt sich setzte, sah er Ruggy am Nebentisch. Er drohte ihm mit dem Finger: »Hören Sie, Ruggy, wenn Sie weiterhin falsche Gerüchte über mich verbreiten, dann werden Sie der erste sein, den ich bei nächster Gelegenheit registriere.«

Ein behagliches Lachen summte rundum von den Tischen her. »Sir«, sagte Ruggy, »für alle Fälle bitte ich Sie, mich nicht bei der Kehle zu packen. Ich muß heute Nacht noch meiner Freundin ein Ständchen bringen. Und ich fürchte für meine Stimme. Sie ist so schön.«

»Ach was, nach dem zehnten Whisky können Sie doch nur noch röcheln.« 216

»Aber mit Liebe, Sir«, grunzte Ruggy, und diesesmal hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Das Gespräch verlief sich in der Begrüßung neuer Bekannter. »Was höre ich, Melchior«, rief der lange Sarran, »Sie wollen heiraten und sich hier seßhaft machen?«

»Ja«, sagte Eberhardt gedehnt. »Ihre Großmutter hat mir einen Antrag gemacht. Sie bringt vier Beutel Kaffee und einen baumlangen und mißratenen Enkel mit in die Ehe.«

Selbst die Leute an den »fremden Tischen« wieherten über diese Grobheit.

Sarran prostete ihm zu: »Ihr Wohl, Herr Großvater.«

Aber Kolpe nahm den Witz weniger gnädig auf. »Was diese Herren alles zu schwätzen haben«, knurrte er. »Wie die alten Waschweiber.«

»Wie kann man sich über einen Witz so aufregen, Kolpe?« fragte Eberhardt.

Kolpe schob seinen breiten Hut zurück und sah Melchior aufmerksam an. »Ist es wirklich ein Witz . . . ich meine das Heiraten und Hierbleiben?«

Eberhardt wurde ungeduldig: »Den ganzen Tag hackt alles auf mir herum und preßt mich aus, ob ich hier bleiben will oder nicht. Ich mag nicht mehr davon reden. Ich sage zum zehnten Male heute: ich weiß es nicht. Sauft und laßt mich zufrieden.«

»Saufen: ja. Aber zufrieden lassen: nein. Sie wissen selbst, was mich diese Dinge angehen.«

»Nichts weiß ich. Gar nichts. Ich habe mich um Ihre Angelegenheiten nie gekümmert. Ich will es auch nicht. Sauft und laßt mir meine Ruhe.« 217

Kolpe lachte: »Ruhe, sagt er. Ruhe! Wunderschöner Artikel. Wer hat hier Ruhe? Keiner hat hier Ruhe. Werden Sie weniger von der Arbeit aufgefressen als ich? Nur ein Unterschied ist da. Für Sie hat es einen Zweck. Für mich nicht . . .«

»Wo ist der Zweck?«

»Sie lernen dabei, und eines Tages kommen Sie wieder nach hier, haben alle Taschen voll Geld und fragen: Was kostet euer Kaffee, was kostet euer Kakao, was wollt ihr für euren Gummi haben? Dann sitzt Kolpe genau so wie heute im Casino und freut sich, wenn es ihm endlich neblig im Gehirn wird.«

»Müssen Sie hier sitzen? Die Welt ist groß. Surinam ist klein.«

»Ratschläge sind billig wie Brombeeren. Man sitzt hier eben. Arbeit ist ein bösartiger Klebstoff. Und es gibt nur eine Möglichkeit, frei zu sein. Das ist: Geld haben.«

»Also alle Armen sind unfrei?«

»Ja! Verdammt und zugenäht!« schrie Kolpe. »Nur die reichen Pfeffersäcke können frei sein. Aber da sitzt die Tücke des Objekts. Da hat der liebe Gott den großen, gerechten Ausgleich geschaffen. Da hat er ihnen ein Schnippchen geschlagen. Je größer der Pfeffersack, desto dichter sitzen sie mit der Nase darauf und sehen gar nicht, daß sie die Möglichkeit tausendmal verpassen, frei zu sein. Sie dienen dem Pfeffersack und tragen ihn wie ein Lastesel zur Mühle. Sie versäumen die Chance. Das will der liebe Gott als Ausgleich.«

»Kommt schon das große Elend, Kolpe?«

»Es kommt schon. Es kommt mit Riesenschritten. Aber 218 noch kommt es nicht aus der Betrunkenheit. Das ist erst der sechste Whisky. Geben Sie es zu?«

»Ich hab' nicht gezählt. Jedenfalls bin ich nicht im Rückstand. Aber wenn es nicht aus dem Glas kommt, woher sonst?«

»Aus der seligen Erkenntnis . . . und aus der Wut über Sie!«

»Habe ich Ihnen etwas getan?«

»Wie man es nimmt . . . und wie man es versteht, Sie schwerfälliger Norddeutscher. Haben Sie eine kleine Ahnung von dem, was die gebildeten Europäer Psychologie nennen? Scheint mir doch, weil Sie klug sind. Ich habe, weiß Gott, keinen Grund, den Werber für Grit Kuvell zu spielen. Ich . . . Just ich. Es ist zum Lachen. Machen Sie kein dummes Gesicht. Versteht sich am Rande, daß sie nie mit mir über Sie gesprochen hat. Aber ein Blinder kann doch fühlen, wie es da steht . . .«

Eberhardt packte seinen Arm: »Kolpe, ich will nicht, daß darüber gesprochen wird. Verstehen Sie? Ich will nicht!«

»Dreck auf Ihren Willen!« boste sich Kolpe. »Dreck! Das ist meine Sache. Keine Angst, daß ich Ihr Konkurrent wäre. Das ist einmal gewesen. Das hab' ich verspielt, verscherzt . . . versoffen, mit einem Worte. Wir standen wohl einmal so, daß . . . daß ich es hätte wagen dürfen, ihr ein Wort zu sagen. Aber ich bin zu wild und versoffen. Ich krieg' die ruhige Bewegung nicht raus, die zu ihr gehört. Ich hab' ein Verhältnis hier mit dem Lande, so eine kleine Liebschaft. Ist aber eine unglückliche Liebschaft. Wir verstehen uns schon. Aber nicht immer. Mitunter wird das Frauenzimmer renitent und 219 will mich mit Haut und Haar auffressen. Dann muß ich sehen, daß sie mich nicht unterkriegt. Und dann gibt es vierundzwanzig Stunden Paramaribo.«

Er begann hastiger zu trinken. Durch das Braun der Haut schimmerte schon eine leise Röte. Eberhardt sah ein, daß es hier kein Halten mehr gab. Er hätte auch nicht den Willen gehabt, etwas aufzuhalten. Er war angesteckt von dem Tempo, das er neben sich spürte. Es brannten ihm alle Finger von einer verzehrenden Ungeduld, die sehnsüchtig auf Befreiung warteten.

Er schlug auf den Tisch. »Kolpe«, sagte er. »Wollen wir ausrücken? Liegen und stehen lassen, was liegt und steht?«

»Wohin denn?« grinste der Verwalter.

»Egal. Es liegen Haufen von Schiffen draußen. Weg, nur weg, damit man in Bewegung kommt. Wir geben ein gutes Paar, wir zwei.«

Kolpe lachte, daß die Gläser auf dem Tische zitterten. »Wie er witzig sein kann, der kleine Junge! Aber wenn er es Ernst meint, ist es eine Kiste voll Unsinn. Ausrücken? Mensch, wissen Sie denn, was ich in den langen Wochen und Monaten da oben tue, wenn ich alleine bin? Jeden Cent Gehalt, jeden Cent Provision lege ich wie ein Geizhals beiseite, verkneife mir wochenlang das Rauchen, um . . . Ja, um eines Tages das Reisegeld beisammen zu haben. Um fort zu können. Um das alles hier hinter mir zu lassen. Und ich schwöre Ihnen, Melchior: mehr als zehnmal hab' ich schon das Geld beisammen gehabt. Hatte mein Bündel geschnürt, habe mich hingesetzt und meinen Abschiedsbrief an Grit Kuvell geschrieben. Hab' ihr gelobt, mich zu bessern, hab' sie 220 gebeten, nur ein, zwei Jahre auf mich zu warten, bis aller böse Kern ausgetobt und vergangen sei. Bin dann heimlich heruntergeritten nach Paramaribo . . . und dann . . . und dann ist alles, alles, bis auf den letzten lumpigen Cent, im Casino geblieben. Die alte Liebschaft hatte mich dann am Rockzipfel und raunte, es müsse noch einen kleinen Abschiedstrunk geben . . . Ersatz für die Tränen, die unsereins nicht mehr weinen kann. Und wenn es morgen war, war alles versoffen . . .«

»Das kann einem passieren!« stöhnte Eberhardt. »Das verstehe ich so gut. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Kolpe. Das nächste Mal gehen wir zusammen nach Paramaribo hinunter. Ich kann mit dem Geld haushalten. Und ich hab' genug davon. Versaufen Sie meinetwegen den Rest, den Sie haben. Ich hab' Reserven, die für zwei Menschen langen. Aber weg müssen wir. Diese Saugarme . . . die kenne ich . . . Sie rücken schon an . . . Kolpe, komm mit. Ich hab' Geld genug, sag' ich dir!«

»Bist ein guter Kerl, Melchior. Eine brave Seele. Ich will dir das nicht vergessen. Und doch sag' ich dir: es nützt nicht. Wir geben kein gutes Gespann. Ich kenne mich zu genau . . . und kenne dich zu genau. Wir haben beide einen und denselben Kern. Fragt sich nur, wohin er ausschlägt. Bleib' du bei der traurigen Vernunft, Mensch. Weißt du denn überhaupt, was sich dir da in den Schoß legen will? Grit Kuvell ist ein Mensch, der mit beiden Beinen auf der Erde und mit der ganzen Seele im Himmel steht. Und hinter ihr hängt der Alte mit einer Plantage, die ihre hunderttausend Gulden im Jahr rein abwirft. Das ist das große Los. Wirf es nicht weg.«

»Du bist ein Kuppler!« schrie Melchior. Er zitterte 221 vor Wut und Ungeduld am ganzen Leibe. Er nahm ein Glas und warf es splitternd auf den Boden.

An den umliegenden Tischen wurde man aufmerksam. Dieses splitternde Glas war wie ein Signal, das selbst durch den herankriechenden Nebel der Trunkenheit drang. Aber Eberhardt wurde nüchterner bei diesem Geräusch.

»Nichts für ungut«, sagte er leiser zu Kolpe. »Ich hab' dich nicht beschimpfen wollen.«

»Schon recht«, knurrte Kolpe verächtlich. »Nur nicht anstoßen. Das gute Benehmen über alles. Immer tadelloser Hanseat.«

»Was weißt du von den Hanseaten, du . . . du staatenloses Geschöpf?«

Kolpe sah ihn aus schrägen Augen an und verzog den Mund: »Du kennst doch Bremen ein bißchen, was? Wirst aber wohl nur die besseren Straßen kennen, die vornehmen Viertel, wo die feinen Leute wohnen, oder die es sein wollen. Aber es gibt da so kleinere Straßen, wo auch ganz passable Menschen wohnen: Meinkenstraße, Wulvesstraße, Kreuzstraße und so . . .«

»Du weißt ja schwer Bescheid«, staunte Melchior.

»Soll ich wohl. Was sind dreißig Jahre für das Vergessen? Nichts. So gut wie nichts. Ein Kindergehirn saugt gut auf.«

Eberhardt senkte seine Stimme zu einem Flüstern: »Du, sag' mal . . . bist du aus Bremen?«

»Brauchst nicht zu flüstern!« schrie der Verwalter. »Hier gilt diese vornehme Diskretion nichts. Hier guckt jeder mal dem anderen unter den Hut, früher oder später. Spätestens, wenn er total betrunken ist. Und das bin ich. 222 Der liebe Gott soll es mir anrechnen.« Er hämmerte auf den Tisch: »Sekt! Sekt will ich haben!«

Ein neues Signal für das Gewölk von Spannung und Lärm und aufreizender Erregtheit. Mit einem Schlage tauchten überall die bauchigen Flaschen auf. Dumpf knallten die Korken.

Kolpe hielt Melchior sein Glas entgegen: »Wollen mal eins auf die alte Heimat trinken. Ist doch eine schöne Stadt. Wenn sie auch Spießer hat, die es einem jungen Kerl nicht nachsehen, wenn er mal über die Stränge schlägt und seine Finger am unrechten Ort hat. Aber Vaterstadt . . . das klingt doch. So wie das Glas. Ein schöner Klang. Prosit, Melchior.«

»Dein Prost: ja, weil es ums Trinken geht. Aber der schöne Klang? Wo ist der schöne Klang? Für mich ist es ein Klang, der in der Mitte stehen geblieben ist. Klingt nicht mehr. Es liegt ein dicker Teppich von Enttäuschung darüber. Kolpe, Mensch, was macht man mit den Dingen, mit denen man nicht zu Ende gekommen ist?«

»Man schlägt sie tot. Man geht fort von ihnen. Man nimmt einen anderen Namen an, wie Kolpe, der Verwalter von Kuvell, es getan hat.«

»Nein. Das kann man nicht. Man muß zurück. Man muß wieder dahin, woher man gekommen ist. Tausend Drahtseile . . . Man muß das alles noch einmal erleben, damit man sein eigenes Gewicht verspürt. Man muß sein Konto glatt stellen.«

»Tu's nicht, Melchior. Ich rate dir gut. Man erlebt nichts zweimal. Und du bist noch keinen Monat wieder zu Hause, dann sitzt du in den alten Fangnetzen. Glaub' mir und denk' an mich, wenn es einmal so kommt. Geh' 223 zu Grit Kuvell und nimm sie bei der Hand. Ich will sie mir aus der Seele reißen. Aus dem Verstand hab' ich sie mir schon gerissen. Und dann wollen wir gute Freunde sein . . . und du sitzt auf dem neuen Grund von Cnoppomombo und bist ein reicher Herr . . . ein freier Mann, ein Pfeffersack, der noch eine Seele hat.«

Eberhardt stöhnte: »Man kann nicht. Es gibt so etwas wie Treue . . .«

»Ja, richtig. Gibt es. Aber wir von da oben können überall treu sein . . . und nirgends. Will heißen: man kann uns in jede Erde pflanzen . . .«

»Schluß damit!« schrie Eberhardt. »Ich hab's satt für heute. Ich mag nicht immer in die eigene Visage sehen.«

Kolpe stand schwer und massig auf. »Just in die eigene Visage sehen. Ganz tief hinein. Da sind so schöne Spiegel an den Wänden. Wie sieht er eigentlich aus, der Trinker? Schon arg verwüstet, was?« Er trat vor einen der Wandspiegel, das Glas in der Hand und starrte in die blanke Fläche. Ein ungeheures Lachen erschütterte ihn. Er schrie in den Saal hinein: »Da, seht sie euch an, die Fratze! Wie ein alter Meister. Dicke Farben . . . dicke Farben. Kommt alles von den verdammten giftbunten Flaschen hier. Das geht durch die Haut. Ich kann dich nicht mehr sehen. Geh weg. Weg . . . husch . . . Willst du?«

Er hob sein Glas und schleuderte es gegen den Spiegel. Es flog in Scherben auseinander. Aber der Spiegel blieb heil. Der Sekt lief langsam daran herunter.

Kolpe duckte drohend seine Schultern: »Eine solide Fratze. Eine dauerhafte Fratze. Sogar einen Tränenvorhang hat sie sich zugelegt. Wollen doch mal sehen, ob wir sie nicht klein kriegen.« 224

Er riß die Sektflasche vom Tisch und schmetterte sie gegen den Spiegel. Die Scherben gingen nach allen Seiten. Ein johlendes Gelächter erhob sich rings. Ein Zielwerfen begann. Prasselnd kamen von allen Seiten die Wurfgeschosse geflogen. Hinter der Bar stand aufmerksam der Besitzer und notierte auf einem großen Block.

»Sie ist hin!« rief Kolpe erfreut. »Einmal kriegt man sie doch klein!«

»Er hat Angst vor der eigenen Visage«, gröhlte Ruggy.

»Steck' deine Visage in das Glas, Ruggy. Da ist sie besser aufgehoben als unter meinen Fingern.«

Ruggy feixte. »Sind etwas unbeschäftigt, deine Finger? Mußt mal ein nettes Mädel anpacken. Das hilft. Hast ja alles da oben bei euch in der Nähe.«

Mit einem Schwung fuhr Kolpe herum. Klatschend schlug er Ruggy ins Gesicht. Der brüllte wie ein Stier und sprang auf. Der Stuhl fiel um, der Tisch mit allen Gläsern und Flaschen. Kolpe duckte sich. Da trat ihm Ruggy mit seinem schweren Stiefel ins Gesicht. Der Verwalter taumelte zurück. Ruggy nahm eine Flasche und wollte sie ihm auf den Schädel schlagen. Da saß ihm plötzlich Melchiors Faust im Gesicht, hart, zielsicher mitten über der Nasenwurzel, daß er wie ein Stück Holz in die Scherben fiel. Er raffte sich auf, schäumend vor Wut, griff in die Tasche, konnte aber die Bewegung nicht mehr zu Ende führen, denn er hatte plötzlich eine Hand, eisern, schnürend an der Kehle. Ein verbissenes Gesicht war über ihm: »Hab' dir ja gesagt, daß ich dich heute noch registriere!« Und mit einem wilden Schwung warf Eberhardt ihn gegen den Bartisch. Dort blieb er liegen und röchelte. 225

An fünf, sechs, sieben Stellen zugleich brachen jetzt alte Feindschaften aus, erhitzten sich Gemüter am Ausdruck eines anderen, den man nie gesehen hatte, an einer Bemerkung, die niemandem galt, an einer Bewegung, die irgendeiner als Bedrohung auffaßte. Es polterte, krachte, schrie, stöhnte. Alle bösen Geister waren entfesselt. Ein Licht erlosch, ein anderes, noch eines. Es wurde dämmeriger im Saale. Es gab Schattenwinkel, in denen sich die Wut besser austoben konnte als unter dem all zu hellen Licht. Die Hölle war los . . .

Ein Schuß fiel. Wie mit einem Schlag war jeder Lärm verstummt. Eine bange Pause des Atmens und Horchens. Dann ein jammerndes Stöhnen vom Bartisch her. Noch tiefer das Schweigen. Köpfe reckten sich. Neue Lichter brannten auf. Da lag Ruggy und drückte die Hand über die Brust. Seine Augen waren geschlossen. Schaum stand ihm vor dem Munde.

»Der Trinker!« rief plötzlich einer. An einen Tisch gelehnt, eine Blutschramme auf der Stirne, die Augen leer und weit, stand Kolpe. Er schrak auf bei dem Ruf. Ein Revolver fiel ihm aus der Hand.

»Festhalten!« kommandierte der Wirt. Fäuste griffen nach Kolpe. Er schüttelte sie von sich ab, riß alles zu Boden, was auf seinem Wege war und rannte zur Türe. Sie war verschlossen. Er trat sie ein und war eine Sekunde später verschwunden . . .

Eberhardt wollte ihm nacheilen. Alles wandte sich jetzt gegen ihn. Er und der Trinker gehörten zusammen. Sarran tauchte auf: »Deutscher Hund!« schrie er. Eberhardt faßte in die Tasche. Da griffen plötzlich zwei braune Arme nach ihm, rissen ihn beiseite, zerrten ihn durch eine kleine Türe, 226 die krachend hinter ihnen zuschlug. Schemas Stimme kam verschwommen zu ihm: »Weg jetzt! Schnell! Ich habe die Pferde auf dem Hof.«

Eberhardt war mit einem Schlage nüchtern. Er sah sich um. Der Morgen bleichte schon über die weißen Mauern. Er sah die Pferde . . . und neben ihnen Grit Kuvell.

Er packte ihre Hände: »Es ist ein Unglück geschehen, Grit.«

»Mußte einmal kommen«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Wenn es nur kein Unglück für Sie ist. Aber jetzt fort!«

Sie ritten durch eine Nebengasse, in der noch die blauen Schatten lagen. Plötzlich waren sie am Meere.

»Wohin denn?« fragte Eberhardt erstaunt.

»Zu mir ins Hotel. Nicht fragen jetzt.«

Er folgte ihr, aber das Klappern der Pferdehufe schlug ihm mit einem Male unheimlich gegen das Ohr. Es hämmerte etwas Verborgenes, Dunkles zwischen diesen Geräuschen von Eisen auf Stein. Er duckte sich über den Hals des Pferdes und war voll Furcht, als ob er wieder durch den Urwald reite.

Sie standen in der Halle des Hotels. Sie war menschenleer. Grit war dicht vor ihm und sagte: »Melchior, sind Sie ganz klar und ruhig?«

Er sah sie fragend, aus flackernden Augen an: »Böse Nachricht?«

Sie zog ein Telegramm aus ihrem Gürtel und gab es ihm mit abgewandtem Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich habe zuweilen böse Ahnungen. Man hat es mir heute abend auf der Post gegeben.« 227

Er atmete beklommen. Er wagte nicht, es zu öffnen. Er wußte: es stehen Entscheidungen darin.

Er gab ihr das Telegramm. Seine Stimme zitterte: »Ich kann jetzt nicht.«

Da nahm sie ihm die Entscheidung aus der Hand. Sie löste das Siegel, öffnete das Papier und hielt es ihm dicht vor die Augen. Er las im ungewissen Licht des Raumes:

Mutter heute früh sanft entschlafen. Komme sofort. Vater.

Er senkte die Stirne. Ungeheuer war dieser Anruf. Er dröhnte ihm in die Ohren. Er schlug gegen sein Herz, daß es zuckte, so wie das arme, kranke Herz seiner Mutter gezuckt hatte. Er erlebte in dieser Sekunde ihr Sterben und ihr Heimweh und alle ihre verschüttete Liebe . . .

Tiefer senkte sich seine Stirne. Da nahm Grit seinen Kopf und legte ihn sanft gegen ihre Schulter. »Die Mutter?« fragte sie leise.

Er nickte. Ein großer Schmerz begann plötzlich in ihm zu brennen, eine wilde Sehnsucht, ein übermenschliches Verlangen nach Heimkehr und Zärtlichkeit. Zum anderen Male an diesem Tage brach der Quell der Tränen in ihm aus, daß er allen Halt und jede Fassung verlor.

Sie streichelte unendlich milde seinen Kopf. »Dann wirst du fahren«, sagte sie tröstend. Und immer wieder, wie das gute Flüstern einer Mutter: »Dann wirst du heimfahren, mein Junge . . .«

 

Ende des zweiten Teils.

 


 


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