Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Ein Tag der Enthaltsamkeit

Frau Ursula Wuster war eine gehaltvolle Weichenwärtersgattin, der kein Mensch, aber auch kein einziger Mensch, nur das geringste Schlechte nachsagen konnte. Aber wäre dem auch nicht so, und wäre im Buche der Vergeltung ihr Konto mit allen sieben Todsünden belastet gewesen, man hätte sie gleichwohl nicht hängen können. Sie hatte nämlich keinen Hals. Ihr breiter Kopf mit den wampigen Backen im verwaschenen Angesicht saß direkt auf den Schultern auf. Kein Hausierer der Welt konnte von sich rühmen, daß er jemals an Frau Ursula ein Halstuch verkauft hätte.

Aber auch einen Gürtel besaß die Weichenwärtersgattin nicht, aus Mangel an einer Taille. Zwei senkrechte Linien genügten, wie bei einer Gießkanne, um alle ihre Formenschönheiten von den Schultern bis zu den Knöcheln würdig einzurahmen. Dabei wog sie nur wenig über zwei Zentner.

Wunderbar war es, daß dieser wandelnde Koloß sich aus nichts gebildet haben mußte. Wer die 280 treuherzigen Augen der Frau Wuster betrachtete und zuhörte, wie ihre übersprudelnde Beredsamkeit mit tausend glatten Worten das Dogma verkündete, daß sie keinen Appetit habe, daß sie nichts, rein gar nichts zu sich nehme, weniger als ein neugeborenes Kind, daß sie außerdem die Frau eines kleinen Mannes sei, der bei geringem Gehalt seine Angehörigen nicht mit Pasteten mästen könne, der mußte zur Überzeugung kommen, daß die Weichenwärtersgattin sich aus der Verdichtung irgendeines Fluidums oder irgendeiner geistreichen Idee heraus entwickelt habe.

Es mag Leute geben, die dies vordem glaubten, andere, die es auch heute noch nicht bezweifeln. Doktor Ebenich gehörte zu keiner von den beiden Menschengattungen, und zwar seit jenem Tage nicht, wo Frau Wuster von einem heftigen Leibschneiden heimgesucht vor ihm als ihrem Leibarzt eine sehr gewissenhafte Generalbeichte abgelegt hatte.

* * *

Friedlich lag das Bahnwärterhäuschen Nummer fünfundzwanzig inmitten seines wohlgepflegten Gärtchens da. Der Mond spiegelte sein Antlitz in großen Kürbisköpfen, die von einem Lattenspalier niederhingen. Ein frischer Herbstwind löste von den abgeernteten Aprikosenbäumen die herzförmigen Blätter und streute sie in gaukelndem Fluge wie gelbe Schmetterlinge über Blumenkohl und Krautköpfe hin.

281 Auch die hellen Kieswege waren damit überdeckt und brachten den Doktor auf den Gedanken, daß Frau Wuster immerhin schon einige Tage krank und ihr Rechen in Ruhe versetzt sein müsse, wenn derartige Regelwidrigkeiten in ihrem Paradiesgärtchen ungestraft überhandnehmen konnten! »Denn fleißig war sie immer gewesen und regsam ohne Maßen – die dicke, runde Ursula, die zu ihrem Glück sich in keinen Metzger vergafft hat. Was hätte aus der nur werden sollen, wenn sie in besserem Futter gestanden hätte,« murmelte der Doktor vor sich hin, als er auf das Anwesen zuschritt.

Aus seinem Sinnieren wurde der Nachtwandler durch einen verzweifelten Schrei aufgeschreckt, der aus dem Bahnwärterhäuschen Nummer fünfundzwanzig hervordrang und hilfesuchend über die mondbeschienenen Herbstfelder hallte. Ebenich beschleunigte seine Schritte, trat über die weiße Sandsteinschwelle der Haustür, öffnete und stand am Fußende von Ursula Wusters breitem Familienbett.

Zu sehen war außer einer aufgeschwollenen rotgemusterten Bettdecke zunächst nichts, zu hören aber war mancherlei. Zwischen banges Stöhnen und Seufzen hinein drängten sich die Stoßgebete:

»O Jesus, Maria und Joseph, all ihr heiligen Nothelfer, o Sankta Barbara, gegen's Leibweh erbarmt euch meiner!«

Dann folgte ein dumpfes, unheimliches Grollen, 282 als wenn ein Schmiedgeselle seine Lederschürze schüttelt, und dann wieder gereiztes Lospoltern:

»Wo bleibt sie denn nur wieder, die alte Schnapsnase! Kann denn niemand diesem gichtbrüchigen Pflasterkasten ein paar Räder ansetzen, daß er leichter ins Rollen käme. Muß denn allemal ein Christenmensch wie ein Stück Vieh aushalten, bevor das Untier sich entschließt, seinen Kartoffelranzen hinterm Wirtshaustisch herauszuwälzen? O Jesu, Jesu.«

Doktor Ebenich, dem allmählich eine Idee aufdämmerte, daß all diese liebenswürdigen Epitheta seiner Persönlichkeit gelten könnten, erhob mit starkem Arm seinen Stock und ließ ihn sausend auf die schwellende Federdecke niederklatschen.

Wie die Hexe aus der Schachtel, tauchte plötzlich der Kopf der Frau Weichensteller Wuster aus dem dunkeln Spalt zwischen Zudecke und Kissen hervor. Ihr Haar war verwirrt und übersträhnte ein Gesicht, in dessen fetten Falten für den Augenblick Schmerz und Wut um die Herrschaft zu streiten schienen. Freilich nur für einen Augenblick, denn Frau Wuster war von ihrem Ingrimm nicht so weit beherrscht, daß sie vergessen konnte, wie sehr sie mit all ihrem Jammer dem Arzte auf Gnade und Ungnade überliefert war. Sie steckte deshalb sofort eine freundlichere Scheibe vor die Laterne, tat so, als ob die Verbalinjurien vom vorigen Augenblick dem König Menelik von Abessinien gegolten hätten, und suchte durch 283 unendliche Klagen und umständlich detaillierte Beschreibungen ihrer Innenseite den Doktor für den Zustand ihres Magens, und was mit diesem zusammenhängen mochte, zu interessieren.

Ebenich, an derartige Manöver gewöhnt und durch deren tägliche Wiederkehr genügend gegen sie abgehärtet, putzte mit Seelenruhe zuerst seine Nase, dann seine Brillengläser, dann seine Nägel, und er wäre mit dem Putzgeschäft über seine Hosen hinweg gewiß noch bis zu seinen Schuhen gekommen, wenn nicht Frau Wusters ölglatter Redefluß in einem langgedehnten Gewimmer hinsterbend versickert wäre.

Nun war Platz für das, was Doktor Ebenich allenfalls zu sagen wußte, und ohne lange Bootsmanöver zu machen, steuerte er direkt auf sein Ziel los.

»Dem Gerumpel nach scheint Euer Magen der Tummelplatz widerstreitender Kräfte geworden zu sein. Erforscht Euer Gewissen, gute Frau, und beichtet mir mit Vertrauen, wenn Ihr bewußter- oder unbewußterweise irgendeine Schädlichkeit in Euch aufgenommen haben solltet.«

Nun hätte ein Mensch sehen sollen, in welche moralische Indignation Frau Wuster durch das Wörtchen »aufgenommen« versetzt wurde. Sie richtete sich in ihrem Bette auf und schaute den Doktor einige Sekunden lang mit beleidigten Blicken an, etwa so, als ob er ihr den bethlehemitischen Kindermord zum Vorwurf gemacht hätte. Dann aber donnerte sie los:

284 »Aufgenommen? Wie können Sie nur auf so einen Gedanken kommen? Die Frau eines armen Weichenwärters sollte irgend etwas aufgenommen haben! Am Ende gar noch Gänseleber und Champagnerkraut? Was ist's denn, was die armen Leut' sich leisten können? Hab' ich denn überhaupt etwas gegessen, daß man mir am Ende gar eine Schlemmerei zutrauen könnte? Nein, so was zu denken, und von kleinen Leuten!« Und Frau Wuster weinte bitterlich.

Der Doktor langte nach einem Suppenteller, drückte ihn seiner Patientin unters Kinn und sagte gerührt: »Da hinein, gute Frau, lassen sie Ihre Tränen fließen, wenn der Teller voll ist, leere ich ihn aus. Derweilen es tropft, erzählen Sie mir dann, wie lange es her sein mag, daß Sie nichts mehr gegessen haben. Mag es etwa ein Jahr her sein oder gar zwei bis drei Jahre?«

›Was mag der Narrenkaspar mit dir vorhaben?‹ überlegte Frau Wuster und schleuderte dem Alten ein spitzgeschliffenes »Nein« entgegen.

»Dann sind es wohl sicher ein paar Monate?«

»Nein.«

»Ein paar Wochen, ein paar Tage?«

»Nein.«

»Dann haben Sie vermutlich gestern noch mit gutem Appetit gegessen, am Ende gar heute noch?«

Frau Wuster war unsicher, wohin das Examen 285 führen solle, und bequemte sich zögernd dazu, die letzte Frage zu bejahen.

»Und darf man wissen, was?« fuhr der Doktor fort. »Ich muß darüber unterrichtet sein, damit ich die Arznei Eurem Mageninhalt entsprechend einzurichten vermag.«

»Was?« entgegnete Frau Wuster gereizt und stellte den Teller mit dem Inhalt ihrer Tränen neben sich ins Bett. »Was? Nun, was die armen Leut' so haben.«

»Sie müssen Ihre Aussagen etwas präziser geben. Wollen Sie nicht gefälligst einmal erzählen, wie Sie sich durch die zwölf Stunden des heutigen Tages durchgegessen haben, vom Aufstehen angefangen bis zum Zubettegehn.«

Frau Wuster versuchte, ihren Hals zu recken. Da sie keinen hatte, mißlang das Manöver. Sie schob nun die Faust unter das Kinn, um ihren Kehlkopf einigermaßen von den umgebenden Fettschichten freizulegen und ihn beredt zu machen, dann nahm sie eine nachdenkliche Miene an und begann:

»Beim Aufstehen, nun ja, wie kämen arme Leute dazu, da schon essen zu wollen. Man nimmt eine Schale Kaffeebrühe und tunkt zwei bis drei Wasserbrote hinein. Wenn die hinuntergewürgt sind, muß der Magen sich zufrieden geben. Von einem Essen kann bei unsereinem nicht die Rede sein.«

»Ich nehme an, daß es so gegen sieben Uhr war, 286 als Sie dieses erste Tagewerk vollbracht hatten. Fahren Sie in Ihrer Erzählung fort, Frau Wuster, die übrigen Stunden wollen auch noch ausgefüllt sein mit nützlicher Tätigkeit. Was begannen Sie dann nach dem Frühstück?«

»Frühstück, Frühstück? Nun, meinetwegen, wenn Sie's so nennen wollen. Nach dem Frühstück, da nahm ich meinen Korb auf den Kopf, um damit auf den Markt zu gehen. Aber ich kam nicht weit. Kaum war ich um die Hausecke herum, da wandelte mich eine Schwäche an, daß ich denke, ich muß umfallen. ›Ein leerer Sack bleibt nicht stehen,‹ sagte ich zu mir und kehrte um. Ein Stück Kuchen, kaum halb so groß wie ein Bügeleisen, war alles, was sich im Küchenschrank vorfand. Ich knusperte es hinunter und trank einen Schnaps dazu. Ist's nicht ein Jammer, wie die Armut sich herumbehelfen muß?«

»Ich gebe zu, daß Ihr bis jetzt gedarbt habt. Aber fahrt fort, gute Frau. Ich hoffe, daß die folgenden Tagesstunden Euch entschädigen werden. Bis zum Marktplatz ist es eine Wegstrecke von einem Kilometer ungefähr. Ist Ihren verelendeten Kräften diese Marschleistung in einem Zuge gelungen?«

»Ja, aber doch nur so annähernd und nicht, ohne daß andere Leute mir geholfen hätten. Wäre mir vorm Obertor die Wiebelsbacher Base nicht begegnet, die mir meinen Korb abnahm, mir wär's nicht besser als unserm lieben Heiland ergangen, bevor der Simon 287 von Cyrene aus seinem Gemüsegarten heraustrat. Wie ist es doch ein Elend, wenn der Mensch nicht soviel aufbringt, daß er seine Knochen ernähren kann.«

Frau Wuster schnaufte tief und fuhr fort:

»Na, ich hatte an dem Tage gerade noch einige Marktgroschen in der Tasche, mit diesen rettete ich mich in den ›Goldenen Anker‹ hinein und aß zu Schwarzbrot die Magenspitze eines Verrecklings von Dreiläufer. Muß das ein Elendsschwein gewesen sein, von dessen Magenspitze man keine größeren Fetzen schneiden konnte, als etwa der Deckel eines ABC-Buches ist.«

»So groß, aber etwas dicker doch wohl,« bemerkte Doktor Ebenich.

»Kaum ums Kennen. Jedenfalls erreichte der Schwartenmagen in seiner Dicke bei weitem noch nicht die Höhe einer Hausbibel. Was geben einem denn heutzutage die Metzger und Wirtsleute für so ein paar fuchsrote Groschen! Und wie sauer müssen doch die kleinen Leute ihr Geld verdienen und dürfen gerade deshalb sich doch auch nicht ganz von Kräften kommen lassen.«

»Sie taten gut daran, Frau Wuster, daß Sie zu diesem Zweck den ›Goldenen Anker‹ aufsuchten. Gleicht nicht des Gasthalters Kupfernase einem gesottenen Hummerschwanz, sein Wein aber dem Johannisberger?«

288 »Ihr kennt Euch aus im Keller des Ankerwirts, lieber Doktor. Auch hat des Besitzers Nase einige Ähnlichkeit mit der Euren. Ja, ja, man kann sich allda ein Muster abgucken. Man braucht nur öfter hinzugehen, und man kann sich für Geld Gesundheit holen und ein Aussehen wie ein Hausmetzger. Aber die armen Leute, sagt Doktor, was sollen die machen? Ich mußte mich mit einem knapp gemessenen halben Liter Rotwein begnügen, nahm meine Last – ach, diese Last, deren Gewicht mir schon den Kopf in den Brustkorb hineingedrückt hat, so daß ich keine Brosche mehr tragen kann – und ging nach meinem Stand zu auf dem Wochenmarkt.«

»Katzennüchtern, wie Sie ja bis dahin noch waren,« bemerkte der Arzt.

»Und ob! Nüchtern wie ein Rabbiner am langen Tag. Ein Halbblinder konnte die Leere meines Magens durch die Schürze hindurch erkennen, und der Käsehändler von Kappeslahmersheim hat es mir gleich ins Gesicht herein gesagt: ›Wie Ihr blaß ausseht, Frau Wuster! Ihr seid noch nüchtern. In allem Ernst, Ihr solltet Eurem Magen etwas gönnen. Wollt Ihr mit Hungerleiden dem Staat ein Kriegsschiff zusammensparen?‹«

»Daraufhin seid Ihr umgekehrt nach dem ›Goldenen Anker‹ und habt den Rest des angeschnittenen Schwartenmagens der Magenspitze nachgeschickt in Euren leeren Bauch hinein?«

289 »Nicht doch! Wo werd' ich so unvernünftig sein. Zuviel der kalten Speise beschwert die Eingeweide. Arme Leute vor allem müssen ab und zu etwas Warmes genießen, damit die Maschine gut geheizt im Gange bleibt. Seht, zu diesem Zwecke bin ich dann am ›Anker‹ vorbei in das ›Grüne Bleistift‹ gegangen und hab' mir eine Bouillon mit Eiern bestellt. Kleine Leute verlieren Kapital und Zinsen, wenn sie an der Lebsucht sparen wollen, und mästen am Lebensende doch nur Doktor und Apotheker.«

»In diese Bouillon habt Ihr doch hoffentlich einige Milchbrote hineingebrockt, um Eure Nüchternheit zu vertreiben?«

»Behüt mich Gott! Ums Essen war es mir ja nicht zu tun! So weichte ich, nur um mir etwas anzubieten, in der scheelen Brühe ein Päckchen Zwieback auf und trank das Ganze so hinunter fast ohne allen Appetit, nur so aus Pflichtgefühl gegen meinen Körper.«

Doktor Ebenich sah seine Patientin eine Zeitlang mit staunender Bewunderung an wie Faust seinen Pudel. Er glaubte an das Eintreten einer Explosionskatastrophe, in der zum mindesten für seinen hellen Sommeranzug nichts Ersprießliches herauskommen könne. Als vorsichtiger Mann rückte er seinen Stuhl zwei Meter vom Bette weg, bevor er aufs neue das Wort ergriff.

»Indessen wird es allmählich Zeit geworden sein, 290 daß Ihr Euren vollen Korb und leeren Magen auf den Markt brachtet!«

»Die Glocke mochte wohl zehn Uhr vom Rathausturm geschlagen haben. Die Wiebelsbacher hatte bereits ausverkauft und hatte gut abgeschnitten. Sie fand, daß mein Aussehen sich wesentlich gebessert hätte, und da sie selber in guter Laune war, lud sie mich zu einem Schlückchen Schokolade in den ›Faulen Hobel‹ ein. Ich verkaufte rasch an einen Händler und ging der Base zur Gesellschaft nach, weil ich sie doch nicht allein lassen konnte.«

»Und als nun die gute Frau sich Kuchen geben ließ, da tatet Ihr mit, da Ihr doch noch nüchtern waret und einiger Stärkung bedürftig,« ergänzte der Doktor.

»Ihr könntet Euch mit Nüsseknacken und Rätsellösen ernähren, wenn's mit dem Rezeptschreiben nicht mehr gehen will,« schmunzelte Frau Wuster fidel. »In der Tat, ich langte mir einige Brocken von ihrem Teller, zum Versuchen nur. Aber mehr war's nicht, bei Gott nicht mehr, als man in einem Kinderstrohhut hätte forttragen können. Aber damit war's denn auch Schluß. Es war dies bei meiner Seele der letzte Bissen, den ich an diesem Vormittag zu mir genommen habe. Da müßte doch nun ein Mensch verrückt sein, wenn er glauben wollte, ich hätte mir meine Schmerzen durch Magenüberladung oder dergleichen Untugendhaftigkeiten zugezogen.«

291 Da Frau Wuster an dieser Stelle ihrer Verteidigungsrede rührselig wurde und zu weinen anfing, holte Doktor Ebenich den Teller wieder herbei und klemmte ihr denselben abermals unter das Kinn. Mitleidsvoll bemerkte er überdies, die Kranke möge im Erzählen eine kleine Pause machen, dann aber in ihrem Bericht fortfahren, denn der Tag sei noch keineswegs beim Abend angelangt.

»Was sollte da noch kommen?« replizierte die Kranke. »Ich nahm den leeren Korb in den Arm und schlich mit dem verschwächten Körper dem Wärterhäuschen Nummer fünfundzwanzig zu.«

»Und Sie haben sich, zu Hause angelangt, ins Bett gelegt?«

»Am Tag ins Bett gelegt, wie Schulzens Lisabeth? Ne, Herr Doktor, sell han ich net'. Das ist kein Plan für arme Leut'. Meinem Mann das Mittagessen gekocht, das hab' ich getan.«

»Und dann zugeguckt, wie er es mit Appetit hinunterschlug?«

»Eine Zeitlang, ganz gewiß, eine Zeitlang. Da ich aber zufällig mein Leibgericht bereitet hatte, Schweinebraten, Kartoffeln und Gurkensalat – allmächtiger Gott, an arme Leut' kommt ja selten etwas Gutes – so griff ich zu, und ich und mein Alter verzehrten die Schweinehaxe, wie sie auf dem Tische stand, mit gesegnetem Appetit, ich muß es sagen, mit Appetit beinah bis auf den Knochen. Es war 292 ja auch nicht viel. Der Braten wog ein schwaches Viertel über zwei Pfund.«

»Wenn ich Sie recht verstand, so ist von diesem Schweinernen doch noch etwas übriggeblieben,« forschte der Doktor weiter.

»Aber freilich! Arme Leute können nicht gedankenlos zufuttern. Sie müssen sich beim Mittagessen schon kasteien, wenn ihnen am Abend nicht lange Zähne wachsen sollen, wie den Feldhasen im Dezemberschnee.«

»Es mag nun allmählich Ihre Fastenzeit zur Hälfte herumgehungert sein, falls Sie nicht einen bescheidenen Nachtisch hatten,« bemerkte Ebenich.

»Der Herr Doktor treiben Ihren Spaß mit kleinen Leuten. Wo kann bei einem Weichenwärter von Vorspeise oder Nachtisch die Rede sein. Ein paar angefaulte Äpfel haben wir noch zerkaut und dann um vier Uhr unser Schwarzbrot geschluckt.«

»Barfüßig oder in der Montur?«

»Mit Limburger Käse und Butter,« ergänzte Frau Wuster in einem so weinerlichen Tone, daß der Doktor gerührt sich nach dem Teller umsah, der noch immer einige Tränen aufnehmen konnte.

»Dann hat Sie vermutlich das Unwohlsein überfallen, und es war Ihnen unmöglich, noch ein Abendessen für den Weichensteller herzurichten,« forschte der Arzt weiter.

»Was, Gott sei Dank, ja auch nicht nötig war. 293 Haben Sie schon vergessen, Doktor, daß wir uns beim Mittagstisch ein Stück Schweinernes vom Munde abgespart hatten? Daraus hab' ich für den Weichensteller und mich einen Fleischsalat hergerichtet. Arme Leute müssen aus allem etwas zu machen wissen.«

Ebenich dachte bei sich, ganz wie Hamlets Mutter: ›Gebackenes vom Leichenschmaus gibt kalte Hochzeitsschüsseln.‹ Aber was doch in einem solchen Magen nicht alles verstaut werden kann, bevor die Fregatte sich neigt und eine Schlagseite bekommt. Und aufs neue zu Frau Wuster gewendet, fuhr er fragend fort:

»Dann endlich hat Ihr Magen revoltiert, Sie haben Schmerzen bekommen, ohne zu wissen woher, und haben nach dem Doktor geschickt, damit der Ihnen des Rätsels Lösung vermittle. Wissen Sie was, Frau Wuster, nach meiner Meinung ist Ihr Magen nur verschwächt. Verschreiben tu ich Ihnen nichts. Kommen Sie dem Organ nur mit einigen Stärkungsmitteln zu Hilfe. Ich denke eben an so einige Rollmöpse, an saure Gurken, Linsen mit Sauerkohl und was dergleichen leichte Speisen noch mehr sind.«

»Er hat gut zu ordinieren; er braucht nicht zu zahlen. Bedenkt, Doktor, arme Leute müssen mit dem auskommen, was auf ihrem Mist gewachsen ist.«

»Nun gut, Euch wachsen da Kraut und Rüben, Salat und Bohnen, Kartoffeln und Gemüse. Die Ziege gibt Milch, und die Hühner legen Eier; eine 294 reiche Auswahl für Zunge und Gaumen,« bemerkte der Arzt.

»Und darf ich denn auch alles essen?« fragte zweifelnd die Kranke.

»Wenn Sie für die Menschheit und Ihren Mann nichts übrig zu lassen brauchen, im Namen der Cholera, dann ja, fressen Sie alles,« warf der Doktor mit entschlossener Miene hin und verließ die Krankenstube.

 


 


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