Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Lottchens Kämpfe mit dem Tabak

Lottchen Überdruß verdankte alles, was sie war, den letzten vierundzwanzig Stunden. Gestern war sie noch das Mädchen bei Geheimrats und hieß Lottchen Wohlgemut, heute war sie eine Frau, und zwar die eines grobknochigen Mannes, der einen Ochsen bei den Hörnern fassen und zu Boden werfen konnte. Sie hatte also alles, wonach Mädchen sich zu sehnen pflegen, und doch, sie war am allerersten Morgen nach ihrer Trauung nicht ganz zufrieden. Hatte sie beim Abschiednehmen von ihrem Mädchenstande etwas zurücklassen müssen, was sie nun schmerzlich vermißte? Ja und nein, wie man will. Gewiß, Lorenz Überdruß war nicht der einzige gewesen, der sich um die hellbebluste Maid mit den rosigen Speckarmen bemüht hatte. Da war noch Emeran Verdrießlich, ein Aktuariatsaspirant, gewesen, der ihr den Hof machte, und der immer dann das Bedürfnis nach 153 Luft spürte, wenn Lottchen die Geheimratswörgel in den Abendschatten spazierenführte.

Sobald Emeran dem Kastanienbaum Nummer einundzwanzig nahe kam, fing er an, die Manschetten aus den Rockärmeln herauszuzupfen, und näherte er sich der breiten Holzbank unter dem weitgeästeten Blätterdach, dann war er allemal mit Nagelputzen und Schnurrbartbürsten fertig und warf seine schmale Gänsebrust so gewaltig in den Giletausschnitt, daß er nach seinen Begriffen mit einem Gardekürassier annähernd eine entfernte Ähnlichkeit haben mußte. Keine Frage, Lottchen Wohlgemut beurteilte dieses Kopfstellen und Sich-Aufblasen ganz richtig, wenn sie die Unterstellung riskierte, daß es ihretwegen geschehe, und sie hätte keine Fehlbitte getan, wenn sie eines Tages den Herrn Aktuariatsaspiranten ersucht hätte, ein wenig auf der Bank neben ihr Platz zu nehmen. Warum hatte sie dies eigentlich nie riskiert und die dann folgenden Ereignisse abgewartet, da doch Herr Verdrießlich, obwohl ein dünner, doch ein durchaus annehmbarer, säuberlicher Geselle war?

Diese Frage quälte sie heute nach ihrer Brautnacht, obwohl sie die Antwort besser wußte als irgendein Mensch auf der Welt. Nun da es heute – gerade heute – für sie etwas genierlich sein mag, die Wahrheit zu sagen, so wollen wir es für sie tun. In Gottes Namen denn, heraus mit dem Sachverhalt!

154 Dem uns bekannten Kastanienbaum gegenüber war ein Granitsteinbruch weit in den Bergeshang hineingearbeitet. Die glatten Wände waren weißschimmernd und von halsbrecherischer Steilheit. Man mußte schwindelfrei sein, wenn man nur an ihnen von oben nach unten langsam herabgucken wollte. Dies Experiment war für schwachnervige Wesen eine gewagte Sache, und Lottchen Wohlgemut war zartbesaitet. Und dennoch, es wird von keiner Chronik berichtet, daß sie je von der Bank gefallen wäre, sooft und solange sie auch in den Steinbruch guckte. Wie mag das nur zugegangen sein? Nun, Lottchens Augen, ob sie von unten oder von oben anfingen, den Bruch zu betrachten, machten fürsorglich niemals den gefährlichen Weg über die ganze Steinschroffe hin in einem Zuge. Sie blieben alsbald an irgendeinem Grasband wie angeleimt hängen und bewunderten einen jungen Burschen, der so verwegen in der blauen Luft stand, als ob es für ihn gar keine Transportmöglichkeit ins Jenseits gäbe. Die Zugluft blähte sein Hemd über einem breiten Brustkorb, und Lottchen hätte der Wind sein mögen, um sich einmal so recht warm und innig an diesen flaumhaarigen Busen schmiegen zu können. Was die Hosen verdeckten, ließ reiche Fülle und Stärke vermuten, namentlich dann, wenn der Steinbrecher das Knie hochzog, um an seinem breiten Schenkel ein Streichholz wach zu reiben, womit er dann seine kurze 155 Holzpfeife in Brand setzte. Vom Anblick solcher kühn verwegenen Männlichkeit berauscht, saß das Mädchen oft lange Stunden da, als ob es von Geheimrats eigens dazu gemietet und dafür bezahlt wäre, damit es diesen Steinbrecher ja recht genau beobachte. Daß von den Kindern seiner Herrschaft keines im nahen Teiche ertrunken ist, war einzig nur das Werk der himmlischen Vorsehung, von deren Verdiensten Lottchen keinen Anteil beanspruchen konnte, schon deshalb nicht, weil es zumeist in ein Wachträumen versunken, die Herrschaft über ihre Sinne verloren hatte.

Es kam vor, daß mitten in das Steinbruchhalluzinationsgemälde hinein die Gestalt des Aktuariatsaspiranten gestellt war. Dann fuhr Lottchen zusammen, wie vor einem Gespenst erschreckend, riß die Geheimratswörgel an sich heran und eilte, ohne sich umzusehen, dem Hause ihrer Herrschaft zu. Sie transpirierte stark, und ihr war, als ob sie hinter sich die Tritte eines Totengerippes hörte.

Doch es kam auch manchmal anders. Wenn die Herrschaft eingeladen oder auf der Reise war, dann konnte man die Abendsonne gemächlich am Horizont verglühen lassen, ohne an eine Heimkehr zu denken. Und dann mochte es sich wohl ereignen, daß hinter Lottchen Wohlgemut her Tritte hüpften, die wie Kastagnettenmusik klangen. Lottchen mußte dieser Holzschuhmusik lauschen, ob sie wollte oder nicht, und als in der Tat eines Abends ein muskulöser 156 Männerarm sich meuchlings um ihre Taille legte, da hüpfte sie auf wie zu einem frohen Walzer, denn der Kirchweihtanz ihres Lebens hatte ja nun, so hoffte sie mit Zuversicht, seinen Anfang genommen.

Das Liebeswerben des Lorenz Überdruß war kurz und wuchtig wie die Schläge seines Steinschlegels. Er beschränkte sich auf die wenigen Erkundigungen: Ob Lottchen einen Schrank und ein Bett habe und das nötige Geld, sich ein Hochzeitskleid zu beschaffen. Als diese Fragen in bejahendem Sinne beantwortet waren, fand vierzehn Tage später an einem Sonntag, damit man keinen Arbeitstag einbüße, die Trauung statt, und am Abend ging Lorenz Überdruß mit einer jungen Frau ins Bett und Emeran Verdrießlich mit dem ersten und einzigen Rausch seines Lebens.

Als Emeran am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen behaftet in seine Hosen schlüpfte, dachte er: ›Das hätt' ich mir schöner vorgestellt,‹ und genau so dachte Frau Lotte und durch diese Gedankengleichheit war eine Pfaffenköchin aus dem Fegfeuer erlöst, aber das war auch alles.

Daß Verdrießlich mit der Nacht nicht zufrieden war, ist verständlich, allein was hatte Frau Überdruß an ihrer Brautnacht auszusetzen? An den Nachtstunden eigentlich nichts. Nur der Zeitpunkt, der die Tagesarbeit brachte, hatte eine brenzlige Mißstimmung gereift.

Lotte hatte ihrem Mann in die Ärmel des 157 Werktagkittels geholfen, hatte ihm den Brotbeutel über die Schulter gehängt, den Steinschlegel in die Hand gegeben, und nun wäre alles gut gewesen, wenn er seine Frau noch einmal geküßt und dann das Zimmer verlassen hätte.

Statt der letzten Dinge geschah leider etwas Prosaischeres. Lorenz griff nämlich in seine Hosentasche, holte ein kleines rundes Fläschchen hervor, entkorkte es liebevoll und schüttete dann auf der Streckseite seines Daumens einen langen Damm eines gelblichen Schnupftabakes auf. Seine erwartungsvolle Nase schien diesem frommen Tun nicht länger zusehen zu können, hurtig beugte sie sich zu dem Daumen nieder, und mit heißer Inbrunst saugte sie die Kostbarkeiten auf, die hier für sie aufgestapelt lagen.

Mit sprachlosem Erstaunen hatte unsere Lotte – gestern noch unser Geheimratslottchen – dem plebejischen Treiben ihres Angetrauten zugeschaut, bis eine stürmische Wut sie beim Anblick seines Schnurrbarts übermannte. Das Manna, das die Nase beleben sollte, war nämlich auch auf deren Vordach niedergetaut und hing unappetitlich genug in den Haaren der Oberlippe. Die junge Frau schauderte zusammen. Nein, von solch einer Schnauze wollte sie keinen Kuß mehr. Sie schob ihren Mann zur Tür hinaus und fing an, mit warmem Wasser und einem salzigen Zusatz ihrer ersten Frauentränen die Kaffeetassen zu spülen. Dabei kamen ihr 158 absonderliche Einfälle. Sie fragte sich, welche Absicht der liebe Gott gehabt haben möchte, als er den Tabak schuf, dieses wunderliche Kraut, dessen Daseinsberechtigung ihr in diesem Augenblick auf ebenso schwacher Basis zu stehen schien wie die der Schnurrbärte auch. Brauchte man denn diese letzteren? Waren sie etwa ein unentbehrliches Attribut der Männlichkeit? Hatten denn alle Männer diese Zahnbürste unter der Nase?

Emeran Verdrießlich hatte keine. Fehlte ihm ob dieses Umstandes etwas zu einem ganzen Manne? So massiv wie Lorenz Überdruß war er nicht. Er war feiner. Lotte fing an, zu vergleichen das, was sie hatte, mit dem, was sie hätte haben können, und sie fand heraus, daß Feines sich mit Feinem mischen sollte, nur so wurde keines vom andern niedergedrückt. Hätte außerdem der Titel Aktuariatsaspirantengattin nicht dekorativer gewirkt als Steinhauers-Lotte? Das Mädchen von gestern hatte einmal bei Geheimrats von einer Mesalliance reden hören. Sie wußte nicht recht, was das für ein Ding war; allein es schwante ihr, daß sie in irgend so ein ähnliches Malheur gefallen sein könne.

Um ihre Gedanken von den trübseligen Zweifeln abzulenken, nahm sie einen Scheuerlappen und fing an, den blaugrauen Fußboden mit weißem Sand abzureiben. Und – merkwürdig! – je heller die Diele wurde, um so lichter wurde es auch in ihrer 159 Seele. Die Hoffnung zog bei ihr ein, und sie schmeichelte ihr vor: Wenn du das Unreine und Häßliche mit ausdauernder Energie vom Boden scheuern kannst, warum solltest du es nicht aus einer Menschenseele entfernen können? Sie glaubte an ihre Mission, wurde heiter und harrte der Abendstunde, die ihr das Objekt ihrer Erziehungstätigkeit hereinbringen mußte, mit Ungeduld entgegen.

Wo blieb er nur heute am ersten Tage ihrer Ehegemeinschaft? Schon waren die Hühner mit gemächlichem Glucksen über ihre Leiter in den Stall geklettert. Die Suppe kochte, und in der Abendwärme des Kochherdes wurde das Heimchen lebendig und fing an zu zirpen. Vom langen Warten wurde Lotte ungeduldig und lief nach der Haustür, um Ausschau zu halten nach dem verspäteten Gatten. Ach, wäre Lottchen nie gelaufen! Hätten ihre Augen niemals gesehen, was ihrem Gefühl seither als eine Unmöglichkeit vorkam, – bei einem Europäer wenigstens. War's denn glaubhaft, und war es eine Tatsache, daß sie, das Mädchen bei Geheimrats, durch das Sakrament der Ehe an einen Kannibalen geschmiedet war, der seine Nase in die Finger putzte? Fraß der Unmensch am Ende nicht gar noch Kinder? Daß sie das Schreckliche aber auch gerade sehen mußte!

Lorenz hätte sie sicher nicht als Zuschauerin zu dem, was er jetzt vorhatte, gerufen. Er brauchte 160 Einsamkeit um sich, wenn auch nur für einen Augenblick. Er war in Flintenschußweite von seinem Hause talaufwärts um die Felsenecke gebogen. Jetzt noch und schon über tags in der Stille seines Steinbruches plagten ihn fremdartige Gedanken. Ihm war der unerhörte Einfall gekommen, daß es Menschen geben könne, denen das Schnupfen als keine ganz reizvolle Angewohnheit erscheinen mochte. Vielleicht gehörte Lotte auch zu diesen sprinzigen Überfeinen, die zum Wurstessen einen Teller brauchten. Hatte sie am Ende gar gegen seine süße Leidenschaft etwas einzuwenden? Hatte sie ihn deshalb am Morgen so unsanft aus der Türe gestoßen, daß er jetzt noch den Druck ihrer Faust auf seinem linken Schulterblatt zu spüren vermeinte, weil er geschnupft hatte?

Wenn dem so war, so war Lottens Kaprice sehr verwunderlich, allein Lorenz wollte seinen Ehefrieden erhalten wissen und suchte deshalb die Spuren seines Verbrechens hinter sich zu verwischen.

Zu diesem Zweck blieb er einen Augenblick stehen, drückte mit dem Zeigefinger das rechte Nasenloch zu und jagte durch das linke einen gewaltigen Sprühregen, der einem Mistkäfer auf der Landstraße rack das Kreuz eindrückte. Als er auf der anderen Hemisphäre seines Riechorgans das gleiche Manöver vollführt und ein Schneckenhaus vom Felsen heruntergepustet hatte, fuhr er sich mit den Rockärmeln ein paarmal säuberlich unter der Nase her und putzte 161 dann als einer, dem die Reinlichkeit über alles geht, seine Hände an einem überhängenden Ginsterstrauch gewissenhaft ab.

Und diesen Greuel weltenferner Unkultur hatte Lottchen – Geheimrats weißgeschürztes Lottchen von gestern – heute an ihrem Eheliebsten mitansehen müssen!

Das Denken der jungen Frau verwirrte sich – verwirrte sich derart, daß sie sich selber ein scheeles Hinkel nannte, das von tausend Körnern, die bunt verstreut um sie lagen, das schalste und schmackloseste aufgelesen habe.

Als sie allerdings mit mathematischer Kritik die tausend Körner betrachtete, fiel aus den Logarithmen ihrer Berechnung der einzige Aktuariatsaspirant Verdrießlich heraus. Der aber konnte heute abend, wie weiland Saul, Tausende mit der Macht seiner Persönlichkeit erschlagen. Je wärmer in Lottchen diese Überzeugung wurde, um so kälter wurde der Empfang, den sie ihrem Eheliebsten bereitete. Sie brachte es fertig, eine zersprungene Kaffeetasse auf der Herdplatte zu zerschmettern, stolperte beim Auftragen der Abendsuppe über die Hauskatze und wäre sicher in eine Badewanne kochenden Wassers gefallen, wenn eine dagewesen wäre.

Den Selbstvernichtungsversuchen seiner Gattin setzte Herr Überdruß, indem er glaubte, zum Ausgleich der Gegensätze das Menschenmögliche auf dem 162 Heimweg bereits getan zu haben, eine starke Passivität entgegen. Er hatte sich einen Stuhl an den Tisch herangeangelt, empfand mit Wohlbehagen, daß er gut sitze, und fing mit großem Eifer eben zu löffeln an, als die Gleichgewichtslage seiner Seele dennoch durch einen schrillen Notschrei seines Lottchens in etwas erschüttert wurde. Indem er sich erschrocken umdrehte, gewahrte er, daß sein Weib händeringend vor ihm stand, und fing an zu ahnen, daß eine neue Ungeheuerlichkeit passiert sein müsse. Ein Stoß zwischen seine Schulterblätter beförderte ihn von seinem Sitz herunter, und nun merkte er nicht ohne Herzeleid, daß er auf Lottchens frisch gebügelter Bluse gesessen hatte. Lorenz war einsichtsvoll genug, um mit Schmerz zu erkennen, daß die teuere Gattin diesmal Grund zur Klage habe, und er hätte sich vielleicht zu unüberlegten Entschädigungsversprechungen hinreißen lassen, wenn Lotte den Verlust mit Würde getragen hätte. Allein diese kreischte auf wie vom Teufel besessen und wühlte mit den Händen in den Haaren herum wie eine Verrückte. Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis das Jammergeheul in ein gemäßigtes Weinen überging, dem meerestiefe Seufzer folgten, bis ein schwerer Fall aufs Bett allem Getue für heute ein Ende machte.

Da lag Lottchen, das Gesicht der Wand und die Kehrseite der Medaille der ganzen Menschheit zugedreht. Letztere war allerdings durch nicht mehr 163 Exemplare repräsentiert, als man in dem schweißbefleckten Tag- und Nachthemd des Lorenz Überdruß unterbringen konnte. Von des Steinbrechers Standpunkt aus mußte der Blick auf dieses Jammertal oder vielmehr diesen Jammerberg nicht allzuviel des Reizvollen geboten haben, denn Lorenz wurde des Anblicks müde, schob mit beiden Händen den ganzen Klumpen Menschenelend vollends der Wand zu, schaffte für sich derartig einen Platz auf dem Familienbette, streckte sich aus und schlief in Gesellschaft eines guten Gewissens beruhigt ein.

Lotte schlief nicht. In ihrem Kopfe hüpften die Gedanken wie junge Geißen in der Hürde wild übereinander. Das also war es, was sie aus dem Glückshafen des Zufalls an Ehefreuden für sich herausgeangelt hatte. Er, den der Standesbeamte für sie eingepökelt hatte, war ein richtiges Stück Schweinefleisch. Pfefferte das Ungetüm nicht einen Teil von sich – die Nase nämlich – selber mit Schnupftabak und schneuzte es sich nicht wie ein Eber in das große Taschentuch der Natur?

O Geheimrats, wenn ihr eine Ahnung davon hättet, in welchen Abgrund von Schmutz euer adrettes Lottchen herabgerutscht ist? Aktuariatsaspirant, wenn du wüßtest, wie sehr ein armes getäuschtes Menschenherz nach deiner reinen Gegenwart verlangt? O weiße Taschentücher, fühlt ihr nicht die Schmach, die euch zugedacht ist? – – Lottchen weinte wieder, vom 164 ungeheuren Mitleid mit sich selber tief niedergedrückt in die Kissen.

Plötzlich sprang ein anderer Gedanke hoch und übertrampelte die ganze weiche Sentimentalität der Seelenstimmung. Der Gedanke nämlich an die zerknitterte Hochzeitsbluse. Lottchen kam in Wut, krallte die Finger zum Kratzen und hätte am liebsten ihre Nägel in die Backenhaut ihres Bettgenossen eingegraben. Aber »in dem Gedanken nur gefiel sie sich.« Die Tat selber durfte sie nicht wagen. Daß sie ihr Handeln zügeln mußte, entfesselte dagegen nur die Zügellosigkeit ihrer Gedanken. Sie nahm sich vor, ihren Mann vornehm zu ignorieren, zu hassen, zu verachten, und, obwohl sie wußte und vom Standesbeamten klar und deutlich gehört hatte, daß der Vorname ihres Mannes »Lorenz« war, so nannte sie ihn vor sich selber vorbehaltlos einen »Stoffel«.

Nach vollbrachter Resolution war ihre Kraft erschöpft, und sie schlief nun wirklich ein. Doch nicht allzulange dauerte die erquickliche Ruhe nach dem Sturm. Ein erfreuliches Traumgesicht mußte die junge Frau auf den rechten Weg zurückgeleitet haben. Leise erhob sie sich. Leise schlich sie sich von dem schnarchenden Engelsbild des Geliebten hinweg. Leise stahl sie das runde Glasfläschchen aus der Westentasche. Leise verbarg sie es unter den Spitzenhosen ihres Weißzeugschrankes. Leise wollte sie sich wieder an die Seite ihres Gatten herannisteln. O wehe, 165 fast wäre der ganze schön angelegte Plan mißlungen. Ein liebliches Geknatter, ganz dem ähnlich, wie es beim Ankurbeln eines Automobils entsteht, betäubte für einige Zeit das Ohr. Lotte erschrak und fürchtete Schlimmes. Doch es trat tiefe, definitive Stille ein in dem Haus und außer dem Haus. Auf leisen Sohlen schritt indes die schwarzgekleidete Nacht dem rosageputzten Morgen entgegen.

Als die Aveglocke das enge Tal mit frommen Klängen füllte, kauerte Frau Überdruß vor dem Herde und blies ihre Erregung in das Kienholzfeuer hinein, über dem die ehegemeinschaftliche Morgensuppe kochte. Die Richtung ihrer Blicke war eine durchaus andere, als ihre Körperstellung vermuten ließ. Die Sehachse lief nämlich über ihre rechte Schulter hinweg nach dem Treiben des Ehegatten hin, der in der Stube stand, die Hosenträger über die Schultern gezogen hatte und nun mit den Händen suchend an sich herumtastete. Zuweilen schüttelte er nachdenklich den Kopf und sah mit Mißtrauen die Hauskatze an, als ob sie möglicherweise im Magen haben könnte, was ihm in der Tasche fehlte. Auch an der Außenseite seiner Gattin suchten seine Späherblicke schweigsam auf und nieder, um auszukundschaften, ob nicht eine Falte des Kattunkleides einem entschwundenen Kleinod einen Unterschlupf gewährt haben könnte. Als sich dem Verdachte nirgends Nahrung bot, starb er an Entkräftung, während Lorenz Überdruß sein 166 Frühstück hinunterwürgte. Letzteres Geschäft war kurz, denn der Steinbrecher hatte einen weiten Schlund und nebenbei die Absicht, im Laufe des Tages einige Kubikmeter Pflastersteine von der Granitwand herunterzusprengen. Nach wenigen Minuten war die dicke Bohnensuppe in den Magen befördert, nebst einem Stück Schwarzbrot, das nicht viel kleiner war als der Holzschuh eines Gerbergesellen. Der sattgegessene Mann erhob sich, steckte den Steinschlegel hinter seine Hosenschnalle und schritt mit einem unartikulierten Laute, den er seiner Eheliebsten als Gruß hinwarf, über die Schwelle, während ein leichter Morgennebel vom Bache heraufgezottelt kam.

Lottchen sah mit schadenfrohen Blicken dem Davoneilenden nach, indem sie stillbefriedigt zu ihrer frommen Seele sagte: »Heute soll Aschermittwoch für seine Nase sein. Hat dies Organ nur erst einmal die Hälfte der Fastenzeit überstanden, dann wird es von Oculi ab auch ohne diese leidige Tabakvorspeise existieren können.« Von dieser sonnigen Perspektive entzückt, machte sie sich langsam über ihr Tagwerk her.

Sie putzte und scheuerte allen Hausrat blank und zuletzt sich selber, denn sie wollte zunächst ihren Augen und dann auch denen ihres Lorenz gefallen, wenn er zur Vesperstunde heimkäme. Seht, da biegt er eben um den Felsenvorsprung mit etwas müden Beinen und schlaffen Schultern. Aber er bleibt heute nicht stehen und bringt mit Schnauben die Welt der 167 Tausendfüßler in Lebensgefahr. Nein, er schreitet ohne Aufenthalt seiner Wohnung zu. Er grüßt mit rauhem, aber ehrlichem Handschlag seine Hausfrau, ißt mit gesundem Appetit, geht früh schlafen und schnarcht.

So ging die Zeit mit gleichmäßigem Pendelschritt durch Tage, Wochen und Monate, bis für die Schnupfnase des Steinbrechers Überdruß der Sonntag Oculi vorüber und Lätare gekommen war. Die Spatzen wetzten ihren Schnabel zu Frühlingsliedern, und das siegesfrohe Lottchen hätte mit ihnen zwitschern mögen und sang eines Tages in der Tat, als zur Mittagstunde eine betagte Nachbarin zu ihr in die Küche trat. Frau Lotte war mitteilsamer Art und konnte ebensowenig ihren Schmerz für sich tragen wie ihre Freude. So währte es denn nicht lange, und die morsche Alte wußte, daß es nicht der Frühling allein war, welcher der Jungen die Zunge löste zu Liedern, sondern auch das Triumphgefühl der siegreichen List, die der überlegenen Männerkraft mit Rosenketten Schlingen legte und sie niederrang. Die Nachbarin, die durch eine stark gebuckelte Brille mehr als dreimal solange ins Leben geguckt hatte als unser Lottchen, hörte eine Zeitlang den Bekenntnissen einer schönen Seele zu und sagte dann, als sie sich schon zum Gehen gewendet hatte, im Ton gutmütigster Belehrung:

»Junge Frau, Ihr müßtet vielvermögender als 168 ein Engel sein, wenn Ihr von den Weibern das Naschen und von den Männern das Schnupfen nehmen könntet. Dankt allen Heiligen dafür, daß der Eurige nur schnupft. Mir hat der Himmel einen Unflat beschert – – ich sag' Euch – – nicht allein, daß der den Tabak raucht und schnupft – nein, das Untier kaut ihn auch noch und schluckt ihn 'runter wie der Eber das Erbsenstroh. – – Und doch, was will ich machen? Ich muß ihn für einen Mannskerl hinnehmen, weil ihn Gott geschaffen hat, obwohl er mißraten und eine Wildsau geworden ist. Der Herrgott hat manchmal seine wunderlichen Launen, und Ihr könnt ihm keine Vorschriften machen, wie er das Mannsvolk schaffen soll, und noch weniger darüber, was für ein Exemplar er für Euch bestimmen will. Tragt Euer Kreuz und verlangt nach keinem anderen.«

Die Alte spuckte ein wenig vor sich hin und troddelte hinkenden Schrittes über die Schwelle. Lottchen sah ihr nach, das Herz von Mitleid bewegt. Nein, welch ein Leben mußte das doch sein, so neben einem Tabakskauer. Rauchen, ja, das taten alle Männer, sogar Herr Geheimrat hatte zuweilen geraucht, wenn die Gnädige einmal kein Kopfweh hatte, aber geschnupft – nein, geschnupft hat er sicher nie. Lottchen hätte diese negative Tatsache auf ihren Eid nehmen können, denn sie hatte doch seine Taschentücher gewaschen. Schnupfen war und blieb etwas 169 Plebejisches, selbst dann noch, wenn die Geschichte es von Königen berichten sollte. – Ihr Geheimrat war tadellos von den Lackstiefeln bis zu den Haarsardellen, mit denen er den Kahlhieb seines Schädels tapezierte. Kein Zweifel, er war ein Muster von einem Manne, und nach diesem Muster wollte sie den ihrigen formen, wenn ihn auch der Herrgott verpfuscht hatte. Der Anfang war gemacht und vielversprechend. Einmal und nicht wieder hatte sie ihren Lorenz schnupfen sehen, und seit sechs Wochen bereits war das Schmalzlefläschchen in guter Hut ihrer Kommode geborgen. Aber auch fernerhin mußte Vorsicht – Vorsicht das Haus hüten. Wer nicht bestohlen sein will, soll sich einen Hund halten. Lottchen wollte die Steuer sparen und den Hund selber machen. Sie wollte die Ohren spitzen und die Augen öffnen. Denn wer wollte bei Männern gar viel für gute Vorsätze geben, da doch der ganze Weg zur Hölle mit solchen gepflastert ist?

Von jetzt ab wurde kein Sternbild jemals so genau beobachtet wie unser Lorenz. Jedes Zufrüh und jedes Zuspät wurde bemerkt in seiner Bahn und rief die tiefsinnigsten Betrachtungen hervor. Als aber sogar unser Planet statt im Westen unter-, eines Abends im Osten aufging, da schien es, als ob für Frau Überdruß der Weltuntergang nahegerückt wäre. Wie konnte er nur unbemerkt an ihrem Observationsfenster vorübergekommen sein? Gab es denn, 170 wie in alten Klöstern, unterirdische Wege, auf denen das Laster schleichen konnte, vom Sonnenblick ungestört. Oder führte drüben am anderen Bachufer ein Pfad durch die Hecken, auf dem man sich hinschleichen konnte zu den Quellen der Sünde?

Der Verdacht, der hinter Lotte stand, wie der Teufel hinter Faustens Gretchen, flüsterte der jungen Frau ins Ohr: ›Er geht zum Krämer, um sich Schnupftabak zu kaufen.‹ War die Vermutung richtig, dann mußte das Phänomen des verdrehten Sternenaufgangs sich mit Regelmäßigkeit wiederholen, ja sich mit mathematischer Präzision berechnen lassen.

Um herauszubringen, wieviel ein Schnupfer an Schnupftabak ungefähr verbrauchen könne, schnupfte Lottchen selber, und zwar aus dem runden Schmalzlefläschchen, das sie aus der Tasche ihres Eheherrn gestohlen hatte. In acht Tagen war der Inhalt aufgebraucht, und dieser Zeitpunkt fiel mit dem verkehrten Planetenaufgang am Himmel wunderbar zusammen. Um das Exempel auf die Rechnung zu machen, ließ sie das Glas beim Krämer nochmals füllen. In dieser Versuchswoche war sie eher fertig als ihr Mann. Also immer noch zuwarten, immer noch beobachten, bis der Indizienkreis rund und geschlossen war.

So vergingen mehrere Wochen, vielleicht waren es auch Monate, während welcher Lottchen im Nebenberuf die Rockärmel ihres Mannes beroch und 171 seine Handtücher beaugenscheinigte. Endlich war sie des Indiziensammelns müde geworden. Nun wollte sie zugreifen und ihren Mann in flagranti ertappen.

Die Feierabendstunde war da und Lorenzens Arbeitsstelle leer. Lotte zog die weiße Zierschürze aus ihren Geheimratstagen an, nahm ein kokettes Körbchen an den Arm und trat beim Krämer in den Laden. In einem Haufen Kinder drinnen stand einer wie der Storch im Hühnerhofe und ließ sich seine Dose füllen. Und dieser eine – Schmerz laß nach – war ihr Lorenz. Lotte zog sich nicht indigniert zurück. Sie war auch nicht zartfühlend genug, um dem ertappten Bösewicht das Erröten zu ersparen. Sie pflanzte sich breit in die Ladentür hinein und nahm ihren Mann beim Arm, als dieser sich nach einer kräftigen Prise zum Fortgehen wendete. Sie vergaß, daß sie Schmierseife, Lebertran und Stiefelwichse hatte einkaufen wollen. Das waren jetzt alles nebensächliche Dinge. Sie war mit ihrem höheren Zwecke gewachsen. Sie fühlte sich als der Gendarm, der einen Verbrecher dingfest gemacht hat. Auf dem Heimweg bewahrte sie ein wundervolles Schweigen dem Gefangenen gegenüber, vor allem schon deshalb, weil sie eine Gardinenpredigt ausarbeitete, die den Überführten zermalmen sollte. Sie wollte mit den Worten Heimtücke, Hinterlist, Treulosigkeit, Verschwendungssucht als mit Ehescheidungsgründen nicht geizen. 172 Er sollte mürbe werden wie das Beefsteak unter einem Tatarensattel.

Während des Gehens verflüchtigte sich die starke Dampfspannung ihrer überhitzten Leidenschaftlichkeit, und als sie über die Schwelle ihrer Wohnung trat, war eine Explosion schon nicht mehr zu besorgen. Ein milder Dauerregen aus Lottens Augen kühlte außerdem noch die Gewitterschwüle merklich ab. Ein fernes Donnergegroll ließ allerdings ahnen, welch schweres Unheil über dem Hause des Steinbrechers verderbendrohend hing. Lorenz erfuhr im Abklingen der Naturerscheinung zu seiner Verwunderung, daß Lottchen um eines Unwürdigen willen auf vieles verzichtet habe. Daß es einen Mann gegeben habe und noch gäbe, der nach ihrem Willen leben und sie zu höheren Sphären emportragen, um ihretwillen gerne entbehren und sich kasteien wolle. Daß sie dies alles in den Wind geschlagen habe und einem gefolgt sei, der für sie nicht einmal das Opfer einer Schnupftabaksprise bringen wolle – – Hier entstand eine Kunstpause, die Lorenz dazu benutzte, ebenso geräuschvoll wie gefühllos seine Nase zu füllen und dann die Dose mit einladender Gebärde seiner erregten Gattin zu präsentieren. Diese, durch die langen Vorversuche an das anspruchslose Genußmittel bereits gewohnt, verbiß ihren Groll und langte mit zierlichen Fingern zu. Somit war die Einigkeit hergestellt im Hause Überdruß.

173 Nach dem Sündenfalle dachte Lottchen über Vergehen und Verbrechen wesentlich anders als vorher. Was war denn nun dabei, wenn ein Mensch sich die Nasenlöcher mit Tabak füllte? Hatten dies vordem nicht schon ganz andere Leute getan? Hatte Lottchen nicht bei Geheimrats einmal gehört, daß sogar der alte Fritz geschnupft habe, und den hatte sie doch selber noch als honetten Menschen gekannt. Er war ein Orgelstimmer gewesen, der ab und zu seinen Rausch im Chausseegraben ausschlief, Schnaps trank, wie ein Flickschuster schnupfte und trotz alledem in seinem grauen Halbzylinder und seinen schwarzen Glacéhandschuhen eine gute Figur machte. Nein, in allen Dingen brauchte ihr Lorenz dem Geheimrat nicht zu gleichen. Kleine Abweichungen der Kopie vom Original konnte man sich gefallen lassen. Sie erhöhten durch Variation den Wert des Kunstwerks.

Überhaupt Steinbrecher und Schweinezüchter hatten ihre eigenen Lebensbedingungen und brauchten einen Nasenschutz gegen Pulverdampf und Stallgeruch. Hatte sie nicht selber den Schnupftabak als eine Himmelsgabe empfunden, wenn sie in der Morgenfrühe zu ihren Ferkeln ging, um ihnen die Streu zu erneuern? Mochte es fortan so bleiben. Der Mann mochte schnupfen, während die Frau schnüpfelte. Aber aus dem ersten Schützengraben verdrängt, wollte Lotte sich in den folgenden nur um so zäher verteidigen, und damit war's ihr heiliger Ernst.

174 Unter Waschen und Scheuern, Schweinefüttern und Holzspalten hatten die Jahre unsere Heldin zermürbt. Die Lotte von heute ähnelte dem Lottchen von dazumal nicht mehr als die Raupe dem Schmetterling. Strähnig und ungekämmt hing das Haar über die Augenhöhlen nieder. Welk und schlampig schlotterten die Brüste in dem blaukarierten Luftsack herum, und eine Schürze, die den niedlichen Schweinemäulchen nicht selten als Serviette diente, hing über die spitzen Knie hernieder. Lotte ging gebeugt in ausgetretenen Nagelschuhen, und nur, wenn sie zufällig mal dem ehemaligen Herrn Aktuariatsaspiranten, jetzigen Herrn Aktuar, begegnete, straffte sich für Augenblicke ihre Wirbelsäule, und sie versuchte es, Haltung anzunehmen und die Dame zu markieren.

Während sie der Wohnung ihrer Seele nur wenig Aufmerksamkeit zuwendete, behandelte sie die Wohnung ihres Leibes mit ausgesuchter Zärtlichkeit. Weißer Sand, den sie in Arabesken zu kräuseln wußte, überdeckte die Diele ihres Schlafgemaches und streckte sich tief unter die Bettstelle hin, über deren Holzgestelle eine rotgestreifte Zudecke sich mit Gänsefedern blähte, als ob sie ihre Nähte sprengen wollte. Lotte selber betrat den geheiligten Raum über Tag nie, und selbst dem seltensten Besuche war nur ein Durchblick durch die offene Kammertür nach der Bundeslade gestattet. Daß sie ihrem Lorenz des Abends den Eintritt zum Sanktissimum nicht verwehren konnte, erfüllte sie 175 mit stillem Groll, der unablässig an ihrer Seele nagte.

Und Lorenz seinerseits sah auch schon nicht mehr so aus, als ob man ihn wie eine Nippsache auf eine Mahagonikommode hätte stellen mögen. Wirr und ungepflegt war Bart und Kopfhaar. Die aufgeschürzten Hemdsärmel entschleierten zwei Arme, die hart und kantig waren wie Eichenschälprügel. Die reflektierte Sonnenglut des Granitsteinbruches hatte sie ausgetrocknet. Die mageren Konturen seiner Schenkel zeichneten sich anspruchlos ab in der steifen Röhre einer ölbefleckten Arbeitshose. Lotte hatte einsehen gelernt, daß man aus dem Steinbrecher keinen Geheimrat machen konnte. Ja selbst der Orgelstimmer selig und nun gar seine Durchlaucht, der Herr Aktuar, schlugen ihren Mann an Eleganz der äußeren Erscheinung. Was wollte sie aber machen? Sie mußte ihn dulden, weil er sie ernährte. Sie mußte ihn sogar in ihr Schlafzimmer lassen, trotzdem seine feuchten Barfüße gräßliche Bärentatzen zwischen ihre Sandarabesken stellten, und trotzdem es zuweilen vorkam, daß er mit barbarischer Energie in die Stube spuckte. Nein, so was war Lotte von Geheimrats her nicht gewöhnt. So was hätte sie auch bei dem andern sicher nicht zu erleben brauchen. Schmuck und appetitlich war der immer gewesen. So kam's, daß manchmal in ihrer überkrusteten Seele ein stilles Heimweh nach dem verschmähten Freier erwachte.

176 Lorenz fühlte wohl, daß nicht mehr alles war, wie es sein sollte. Allein er nahm das Liebeserkalten wie eine unabweisbare Selbstverständlichkeit hin, und je schroffer seine Zärtlichkeiten von Lotte zurückgewiesen wurden, um so inniger wendeten sie sich dem Tabak zu. Wie es so im Liebesrausche zu gehen pflegt, steigerte sich die Leidenschaft zum halben Wahnsinn, und Lorenz fing an, den Gegenstand seiner Anbetung zu fressen, oder wenigstens zu kauen. Wenn er zur Arbeitsstelle aufbrach, nahm er ein Priemchen zwischen die Backenzähne und entfernte es erst, wenn er sich nach vollendetem Tageslauf dem heimischen Herde nahe fühlte. Daß dieser sein Hochgenuß eine verbotene Frucht war, die in Heimlichkeit gebrochen und genossen werden mußte, steigerte nur den Kitzel seiner anspruchsvoll gewordenen Geschmacksnerven.

Wie lange es dauerte, bis Lotte ihren Mann auf diesen neuen Schleichwegen des Lasters ertappte, wissen wir zurzeit nicht anzugeben, glauben aber, daß es erst geschah, als sich bei dem Steinbrecher eine Backentasche ausgebildet hatte, die seiner linksseitigen Gesichtshälfte eine starke Ähnlichkeit mit einem Brotbeutel verlieh. Lotte hatte seit Jahren das Antlitz ihres Mannes weder mit kritischen noch mit verliebten Blicken beobachtet. Sie tat es zufällig einmal wieder, als Lorenz eines Sonntags in der Kirche das Abendmahl nehmen wollte, und sie ihm das Halstuch zu 177 einem Knoten binden mußte. Da ward die Backentasche und ihre Ursache erkannt.

Platzregen und Wolkenbrüche unter die feurigen Schrecken eines solchen Familiengewitters, wie es sich jetzt über den Ehehimmel der Familie Überdruß heraufwälzte. Lotte trampelte vor Wut auf den Hühneraugen ihres Mannes herum, spuckte ihren Ärger in die gute Stube hinein und vergaß sich in ihrer sittlichen Entrüstung soweit, daß sie ihren Eheliebsten ein Stachelschwein nannte. Daß Lorenz diese Verbalinjurie auf das prompteste mit der Realinjurie einer Ohrfeige kompensierte, lockerte leider die Rosenbande ehelicher Zusammengehörigkeit so weit, daß Lotte sich ohne Heimwehschmerzen in den Kaninchenstall und Lorenz sich in eine benachbarte Schnapskneipe zurückziehen konnte.

Diesem »Sonntag hell und klar« folgten Wochen, Monate und Jahre stumpfer Verdrossenheit, untermischt mit allerlei Scharmützeln des Guerillakrieges.

Lotte schmuggelte ihrem Mann Baldrian und Rhabarberblätter unter den Tabak.

Lorenz rächte sich und fraß die Abendsuppe allein auf, so daß Frau Überdruß mit leerem Magen zu Bett gehen mußte.

Lotte entfernte den sauberen Überzug von der Zudecke.

Lorenz legte sich mit den ölgetränkten Arbeitshosen ins Bett.

178 Lotte unterließ es, die Stube mit Streusand zu verschönen.

Da fing Lorenz an, seine Pfeife auf die Dielen auszuklopfen.

Mit der Hartnäckigkeit verbissener Wut tat jedes der beiden ausschließlich nur das, was dem andern zum Ärger gereichte. Zu einer endgültigen Entscheidungsschlacht, die den Streit entwirrt hätte, kam es nicht mehr, da Lotte die entschlossene Schlagfertigkeit ihres Mannes kennen und fürchten gelernt hatte.

Was Lorenz von dieser Phase seines Ehelebens innerlich dachte, wissen wir nicht, da er schweigsam und verschlossen war. Lotte vertraute ihre geheimen Gedanken nur dem schwerhörigen Himmel, diesem aber zuweilen so nachdrücklich, daß auch die Nachbarschaft durch Selbstgespräche erfuhr, wie es Frau Überdruß ums Herz war. Es wurde derart bekannt, daß es der Frau Überdruß einerlei sei, wer den verfluchten Tabakstinker zur großen Armee abrufe, Gott oder der Teufel, wenn es nur bald geschehe. In diesem frommen Gebet unterschlug sie beiden, dem Himmel und der Hölle, einen Wunsch, der in ihrer Seele wie das Immergrün wucherte und nicht verwelken konnte. Herr Verdrießlich, der Aktuar, war nämlich noch immer nicht mit einem Weibe behaftet, und Frau Überdruß glaubte steif und fest daran, daß ihr Bild in seinem Herzen niemals durch ein anderes 179 verdrängt worden sei. Wer konnte wissen, was geschah, wenn – –!

Eines Abend hatte es der Lorenz gut. Er brauchte seine Beine nicht zu bemühen, um heimzukommen. Zwei Spitalbrüder hatten ihn kurz vor der Feierabendstunde auf einer Tragbahre in seine Wohnung gebracht. Er war abgestürzt und lag nun besinnungslos unter seiner Zudecke. Da hätte nun ein Mensch sehen sollen, wie die Seele der Frau Überdruß von Reue und Selbstanklagen geschüttelt wurde. Ihr fuhren die Hände bald über dem Kopf zusammen, bald in die wirren Haare hinein. Ihr Rumpf wand und krümmte sich, als ob ein breitgehörnter Teufel, der mit allen ihren Untugenden gemästet war, aus ihm heraus und in die Lüfte wollte. Und es war so, der Böse verließ sie. Lotte schied sich in diesem Augenblicke von allen sieben Todsünden. Sie entließ die Hoffart, den Neid, den Zorn und die Unduldsamkeit und ließ Nachsicht und Geduld in ihrer Seele einkehren. Wenn ihr die Vorsehung den Lorenz zu weiterer Nutznießung ließ, dann wollte sie ihn hinnehmen, wie er war, mit all seinen geistigen und leiblichen Gebrechen. Das versprach sie dem Himmel und jedem, der es hören wollte.

Und ihr Gebet wurde erhört. Nach sechsunddreißig Stunden ungefähr öffnete der Verunglückte die Augen, sah sich mit staunendem Befremden in seiner eigenen Stube um und schloß sie wieder, 180 offenbar weil er nichts gefunden hatte, was ihn interessierte. Seine Frau neigte sich zu ihm nieder und schrie ihm in die Ohren, ob er irgend etwas zu erhalten wünsche. Er schwieg und gab auch nicht durch das geringste Lebenszeichen zu verstehen, daß er die abgebrochenen Ehestandsbeziehungen wieder anzuknüpfen wünsche. Am folgenden Tage hatte der Betäubte abermals einen lichten Augenblick, der länger dauerte als der erste. Lotte benützte ihn, um dem Kranken mit der Stimme eines Turteltäubchens zuzuflüstern, ob ihm vielleicht eine Pfeife, oder Prise, oder ein Priemchen gefällig sei. Lorenz hatte wohl verstanden. Man sah es an dem Flackerlicht in seinem Auge, aber er schüttelte traurig den Kopf.

»Er ist ein anderer geworden,« triumphierte Frau Überdruß. »Hat man es nicht schon erlebt, daß einer sich als Sünder auf das Schmerzenslager legte und als Heiliger wieder aufstand? Konnte nicht auch bei ihrem Manne mit der Heimsuchung die Gottesgnade eingekehrt sein?« Sie fing an, für sich und ihren sauberen Fußboden zu hoffen.

Die Genesung des Steinbrechers machte erfreuliche Fortschritte. Er konnte schon wieder die Beine aus dem Bett hängen, und konnte sich manchen Bedarfsgegenstand selber vom Fensterbrett herunterlangen. Nur hörte er noch verteufelt schlecht, so schlecht ungefähr wie ein Holzheiliger im Kreuzweg-Bildstöckele. Lotte mußte außer ihren Stimmbändern die Fäuste 181 brauchen, wenn sie mit ihm Fraktur reden wollte, und heute mußte dies unbedingt sein, denn sein Gesicht hatte sich verändert. Die rechte Backentasche war wieder voller geworden.

»Sollte der Teufel abermals Gewalt über seine Seele gewonnen haben?« fragte sie sich selber. Über diesen Punkt wollte sie unbedingte Gewißheit erlangen, selbst wenn sie dem Genesenden Löcher in seine beiden Trommelfelle reden müßte. Nach einem kräftigen Rippenstoß legte sie den Verunglückten aufs linke Ohr und schrie ihm mit der Kraft eines Nebelhorns in das rechte hinein: »Deine Backe ist dick, du hast also doch wieder Tabak genommen.«

Verwundert darüber, wie ein Mensch zu solcher Annahme komme, drehte der Genesende den Kopf ein wenig auf die Seite und parierte die lästige Frage mit der naiven Gegenfrage:

»Gell, du meinst ins Maul?«

»Ei wo denn sonst hin, du Hornvieh,« schrie das fassungslose Weib, von dessen Seele der Zornteufel abermals Besitz ergriffen hatte.

Daß ihr das »Hornvieh« nicht den gleichen klingenden Lohn eintrug, wie seinerzeit das »Stachelschwein«, hatte sie nur der Taubheit ihres Mannes zu danken. Lorenz hatte die Beleidigung überhört. An Kraft, sie zu strafen, fehlte es ihm schon nicht mehr.

Vier Wochen nach diesem Auftritt war im Hause 182 Überdruß wieder alles im alten Gleise. Lorenz rauchte, schnupfte, kaute und bohrte Löcher in die Felsen. Frau Lotte schnupfte, fütterte Schweine und hätschelte den Gedanken, daß der Aktuar doch noch der Ihrige werden könnte, wenn nur Lorenz die Abreise ins Jenseits einigermaßen beschleunigen wollte.

Die Sache hatte in der Tat Eile, denn Herr Verdrießlich wurde zusehends alt. Daß Lotte noch jung sei, konnte sie sich selber einreden, solange sie sich hütete, an irgendeiner ungelegenen Stelle vor einem unparteiischem Spiegel ihr Aussehen zu kontrollieren.

Eines Abends bimmelten bei Frau Lotte die Kirchenglocken gar so traurig zum offenen Fenster herein. An dem dreimaligen Aussetzen des Geläutes merkte die bekümmerte Alte, daß der Glockenklang einem galt, der ihn nicht mehr hören konnte. Sie lief ans Fenster und fragte den ersten besten Vorübergehenden, wer denn gestorben sei?

»Und das wißt Ihr nicht,« erwiderte der Angeredete. »Euch ist unbekannt, was jedes Kind weiß, nämlich, daß der Herr Aktuar Verdrießlich vor einer Stunde in der Amtsstube tot von seinem Drehstuhl heruntergefallen ist, in seinen Papierkorb, oder vielmehr direkt in den Schoß Abrahams hinein?«

Nun wäre auch Lotte am liebsten tot hingefallen, wenn sie nicht noch mit dem Schicksal eine kleine Rechnung zu begleichen gehabt hätte. Das also war das Ende all der glänzenden Hoffnungen, die sie 183 zeitlebens schmeichelnd umgaukelt hatten! An einem einzigen Fehlgriff hatte es gelegen, daß sie auf der Leiter des Glückes um keine einzige Sprosse emporzuklimmen vermocht hatte! Mochten nun die Männer rund um sie versinken, vor allen aber jener, der durch seine rücksichtslose Lebensenergie die Verwirklichung ihrer Träume vereitelt hatte. Warum konnte er nicht damals tot auf dem Platze bleiben, als er im Steinbruch abgestürzt war? Warum mußte ihr erstes Flehen um seine Genesung erhört werden? Etwa deshalb, weil er damals gerade die Steine sprengte zu einem neuen Kirchenbau? Hätte das nicht auch von einem anderen besorgt werden können? Übrigens, seit einem Jahre stand der Bau fertig da. Welche Ausrede hatte der Himmel jetzt, daß er sie nicht – für einige Wochen wenigstens – Frau Aktuar werden ließ? Die Vorsehung hatte ihr den Gefallen nicht erweisen wollen. Mochte ihr Mann nun weiter leben. Sie wollte sterben. O, das Schicksal hatte schwer an ihrem Glücke gefrevelt. Der Erwählte ihres Herzens, der Höfliche, der Feine war fort und den ordinären Tabakstinker hatte sie noch. Lotte wünschte allen Ernstes, mit dem jetzt Verschiedenen in einem Grab zu liegen, und sie weinte lange, lange und schmerzlich.

Allzulange jedoch hing Lotte ihrem Schmerz um den Heimgegangenen auch nicht nach. Das Leben faßte sie derb an, und wenn sie unter seinem Griffe nicht zerbröckeln wollte, mußte sie hart sein. 184 Abermals war der Steinbrecher in horizontaler Lage in seine Behausung gebracht worden. Abgestürzt war er diesmal nicht. Auf ebener Erde war er nach dem Zeugnis von Zuschauern ins Wanken gekommen, und unbehilflich wie ein Gerüstbalken war er hingefallen. Doktor Ebenich, dessen Hilfe man angerufen, hatte gesagt, daß den Steinbrecher der Schlag gerührt haben müsse. Diese Erklärung genügte aber nicht für Frau Überdruß. Was wollte ein solcher Doktor Sprüche machen und Urteile fällen über Dinge, wovon er nichts verstand? Kannte er etwa die Naturgeschichte ihres Alten? Wußte er, daß Überdruß rauchte, schnupfte, kaute und sich zuweilen einen anduselte? Nichts von alledem war ihm bekannt. Wert hatte mithin sein Urteil nicht. Lorenz war betrunken. Das war ein Glaubenssatz, den Lotte sich von niemand rauben ließ. Der nächste Morgen mußte ja die Richtigkeit ihrer Ansicht der ganzen Welt offenbaren, der Nachbarschaft, dem Dorf, dem Bezirk und auch den Spitalbrüdern, die ihr den Mann mit samt der Ansicht des versimpelten Doktors ins Haus gebracht hatten.

Am nächsten Morgen, als Frau Überdruß ihre Schweine fütterte, fiel ihr ein, daß der Kranke das Aufstehen vergessen könne. Als sie sich nach seinem Bette hin bemühte, da war dem auch so. Lorenz lag lautlos da wie einer, der mit einem Murmeltier um die Wette schlafen will. Alles Schütteln und 185 Rütteln half nichts. Er ließ sich in seiner Ruhe nun einmal nicht mehr stören. Selbst Doktor Ebenich, den man herbeigerufen hatte, vermochte nichts über den Schläfer und verschanzte sich schüchtern hinter die Bemerkung, daß den Lorenz gestern am Ende doch der Schlag gerührt haben könne und daß er dafür heute mausetot sei!

Lotte ärgerte sich, daß der Brillengucker recht behalten solle, und hielt dem Lorenz die offene Tabakstüte unter die Nase. Doch er zog den süßen Duft des AB-Reiterpäckchens nicht mehr in die Lungen. Er hatte ausgelebt. Kein Zweifel mehr: er war tot.

Warum war er gestorben, ohne seiner Frau von diesem seinem Vorhaben die geringste Mitteilung gemacht zu haben? Warum war er gestorben, da doch nun sein Abgang keinen Nutzen mehr schaffen konnte? Warum war er gerade jetzt gestorben, wo er doch ein neues Päckchen Tabak eben erst in Anbruch genommen hatte? Was sollte aus dem Tüteninhalt werden, da keine konsumkräftigen Erben da waren?

Lotte beschloß, die Beantwortung dieser Fragen dem lieben Herrgott zu überlassen, der sich nach ihr mit ihrem Manne herumzuärgern haben würde. Indes begrub sie den Toten in aller Stille an der Seite des Herrn Aktuars Verdrießlich.

Die Sorge um die Gräber trug die Witwe nicht lange. Als sie nun ganz allein war und niemanden mehr hatte, auf den sie hoffen und mit dem sie zanken 186 konnte, fing sie an, ihren Lorenz schmerzlich zu vermissen.

»War er dir nicht ein treuer, besorgter Gatte gewesen,« so redete eine innere Stimme aus ihr heraus, »warum hast du ihm die billigen Genüsse vergönnt, die ihm sein herbes Arbeitslos erträglich machten?«

Die Reue nagte an Lottens Herzen, und sie wünschte den Lorenz für ein paar Jährchen zurück ins Leben, damit sie gutmachen könne, was sie an ihm gefehlt hatte. Doch er kam nicht. Da schickte sie sich an, ihm abermals nachzulaufen, und zwar ins Jenseits hinüber.

Lotte lag mit schweren Atemzügen auf ihrem Strohsack. Der Pfarrer war dagewesen und hatte die letzte Ölung gespendet. Die Sterbende, zu allem bereit, hatte fromm die Hände gefaltet. Eine barmherzige Schwester wollte die Finger der Hinscheidenden lösen, um ihr das Sterbekreuz zur letzten Reise mitzugeben. Zu ihrer Überraschung fand sie in den verklammten Fäusten ein Päckchen Tabak vor, echten AB-Reiter, und gleichzeitig klangen von den todesbleichen Lippen der Sterbenden die verängsteten Worte in ihr Ohr: »Laßt mir's, um des Himmels willen laßt mir's. Ich muß ihm doch was mitbringen.«

So fanden Kreuz und Tabak nebeneinander friedlich Platz, und vermutlich ist Lotte mit beiden Dingen zusammen selig in den Himmel eingegangen. 187

 


 


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