Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Die Gerbergrethe

S' ist ein trauriger Anfang. Herr Lederhos, ein alter Gerber, kam zum Ende. Das Dasein hatte ihm des Angenehmen nicht allzuviel geboten. Warum hätte er da nicht gerne aufs Leben verzichten können, zumal er keine Kinder hatte? Aber er hinterließ ein Geschäft und eine noch wenig angegraute Frau, und beiden wünschte er nach seinem Weggange aus der Zeitlichkeit eine gesicherte Zukunft. Der Doktor hatte erklärt, daß die Reise ins Jenseits voraussichtlich bis zum Abend des nächsten Tages angetreten werden könne. Es hätte seiner Weisheit nicht bedurft. Ein alter Gerber versteht auch schon etwas von den Vorgängen im inneren Menschen, und Lederhos wußte, daß man mit dem Viertel eines halben Lungenflügels nicht mehr lange am Lebensstrange ziehen konnte. Also rief er sein rundes Weib ans Bett und sprach zu ihr: »Greth, wenn ich tot bin, so sorge, daß mir die Gerberei nicht verkommt. Die Zeiten sind augenblicklich nicht gut. Die Lederfabriken, die verdammten Lederfabriken, ja, wenn die 56 nicht wären! Doch das ändert sich. Indem diese Geschäfte sich gegenseitig überbieten wollen, macht eines das andere tot, und dann kommt die Zeit wieder, wo der Spruch gilt:

Häutchen wie stinkste,
Gelbchen wie klingste.«

Die Meisterin hatte bei diesen trübseligen Worten die Schürze vor die Augen genommen und sagte mit weinerlicher Stimme: »Ja, so höre doch! Wie soll ich das Geschäft über Wasser halten, da ich doch kaum die Haarseite eines Felles von der Fleischseite unterscheiden kann? Gott stehe mir armem Weibe bei, wenn die Sattler nicht zahlen und die Schuhmacher die Forderung abschwören. Ja, wenn ich dann nur den Gerichtsvollzieher auf meiner Seite hätte!« Huh, huh, heulte sie herzbeweglich in die Schürze hinein: »Die Mannsleut' halten zusammen, und eine Witfrau – – wer hat Respekt vor einer Witfrau!«

»Für einen Taler kopuliert dich der Pfarrer zum zweiten Male,« bemerkte der Todeskandidat, »so wirst du deine Witwenschaft los und gibst dem Geschäft einen tüchtigen Verwalter. Da ist der Sohn meiner Schwester in Amerika, er ist ein gelernter Gerber. Ja, wenn man dem seine Adresse wüßte. Aber er hat seit Jahren nicht mehr geschrieben. Er wäre die richtige Kraft, die mich ersetzen könnte bei dir und in der Werkstatt.«

57 »Heißt er nicht Rindsfuß?« stotterte die Fünfsechstelswitwe. »Wenn dem so ist, dann braucht man keinen Steckbrief hinter ihm herzujagen. Hier liegt ein Brief in einem gelben Kuvert, und unterschrieben ist er: Rindsfuß. Soll ich Euch den Inhalt des Schreibens mitteilen? Eure Augen werden schwach sein. Dieser Rindsfuß möchte nämlich gerne wissen, ob Onkel und Tante denn immer noch am Leben wären, und ob er nicht bald auf eine gehörige Erbschaft rechnen könne. Die Zeiten wären schlecht in Amerika, und es gäbe in Buffalo gar viele Einhufer, die von Aschermittwoch bis wieder Aschermittwoch Fastenzeit hätten. Auch er stünde augenblicklich nicht bis zu den Knien im Haferhaufen, und wenn der Onkel Geld entbehrlich hätte, so möge er es schicken. Wer dem Grabe so nahe sei wie seine lieben Verwandten, der täte weise daran, wenn er sich allmählich vom Irdischen loslöse und sich dem Himmel zuwende.«

»Schreibt er so?« fragte der Kranke. »Nun gut, er soll mich nicht knickerig finden. Nimm zwei Taler und schicke sie ihm.«

»Ist das nun der ganze Inhalt des Kuvertes?«

»Von einem Porträt abgesehen, war sonst nichts darin. Hier nimm den Karton, ich vermute, daß er das Bild deines Neffen und meines zukünftigen Mannes darstellt. Himmlische Heerscharen steht mir bei, wir werden einen Möbelwagen mieten müssen, wenn ich mit diesem Elefantenkalb zum Standesamte fahren soll.«

58 »Was mokierst du dich über ihn. Wie sieht er aus, meine Augen sind trübe, ich kann ihn nicht mehr richtig sehen,« erkundigte sich der Kranke.

»Wie drei Petroleumfässer, die man aufeinanderstellt,« jammerte Frau Lederhos, »den trägt keine Lokomotive, um wieviel weniger unser Bettgestell. Hört nur zu, da am Rande des Bildes schreibt er von sich selber: ›Das bin ich, und ich wiege zweihundertunddreißig Pfund.‹«

»Zweihundertunddreißig Pfund,« wimmerte eine schwache Stimme aus den Bettfedern hervor, »die kommen nicht über Nacht. Da muß einer schon Welschkorn füttern, wenn er ein gutes Schwein soweit bringen will. Zweihundertunddreißig Pfund! – Zwei von seiner Sorte am Wagebalken aufgehängt geben das Gewicht eines dreijährigen Stierkalbs. Hör', Grethe, der Kerl hat an einer besseren Krippe gestanden wie wir. Folge mir und schicke die zwei Taler nicht ab. Hole eine Flasche Wein dafür. Ich werde sie wohl nicht mehr ganz verbrauchen, und wenn etwas übrigbleibt, so trinke du es. Das Geld ist an uns beiden besser angelegt als an diesem Simmentaler Doppelochsen.«

Die Gerbergrethe ging und kam mit einer Flasche wieder. Der Wein aber mundete dem Kranken nicht. Er setzte das Glas ab, um zu reden. Das Schlucken der Flüssigkeit drohte, ihm die Luft zu entziehen, und 59 er brauchte doch seinen Atem, um seine irdischen Angelegenheiten zu regeln.

»Frau,« sagte er, »mein Plan mit dem Amerikaner ist mir zerrissen, aber heiraten wirst du dennoch. Es sind fünf tiefe Gruben mit Roßhäuten belegt. Seit dem Kriege, wo die aus Frankreich heimgeschickten Pferde nichts kosteten, stecken sie schon im Loh. Sie müssen ein vorzügliches Sohlleder geworden sein, nach dem die Landbriefträger und Botengänger greifen werden. Laß mir, ich bitte dich darum, die Häute nicht verstinken, denn sie werden ein schönes Stück Geld einbringen. Nimm dir einen Gerber von der Straße hinweg, wo er auch herstamme. Gerber sind immer rechtschaffene Leut'. Tue es dir, tue es mir und den Häuten zulieb, nur laß es einen aus der Zunft sein.«

Die arme Frau, die zwischen zwei Männern gefährlich eingezwängt war, gab unter vielen Tränen endlich nach und versprach dem Sterbenden in die Hand herein, daß sie mit Gottes Hilfe den richtigen zu finden hoffe, und daß sie heiraten werde, sobald sie einen halbwegs angänglichen Gerbergesellen gefunden haben werde.

Eine Stunde nach dieser Unterredung läuteten die Glocken und verkündeten den Leuten, daß der Meister Lederhos sich und seine Rechtsansprüche in ein besseres Jenseits zurückgezogen habe. Dies war an einem Dienstag. Am nächstfolgenden Donnerstag 60 war das Trauerhaus voller Menschen, die gekommen waren, den Meister selig noch einmal zu sehen, bevor der Sargdeckel sich über seiner Nase wölbte. Auch die Witwe war selbstverständlich da. Sie hielt den Trennungsschmerz gebändigt, und stand in anständiger Trauer neben dem Sarge bis zu dem Augenblick, wo in schäbiger Kommunaluniform vier schwarzgekleidete Leichenträger erschienen, um den Sarg zu schließen. Bei deren Anblick stürmte der Gedanke auf die Witwe ein, daß sie es den Zuschauern schuldig sei, einen wilden Schmerz rückhaltlos zu entfesseln. Sie fuhr sich mit den schönen Händen in die blauschwarzen Haare; sie sank ein wenig in die zitternden Knie. Ihr runder Busen hob und senkte sich in konvulsiven Erschütterungen, und das Ganze wäre, wenn auch eine traurige, doch noch eine schöne dramatische Darstellung gewesen, wenn Frau Grethe es verstanden hätte, den Mund zu halten. Doch ein überstarkes Gefühl in ihr hatte sich ihrer Zunge bemächtigt, und aus einem Wirrwarr von Gefühlen, die auf sie einstürmten, tönte die bewegliche Klage heraus: »Er ist tot. Gott steh' mir bei, jetzt muß ich wieder heiern, jetzt muß ich wieder heiern.«

»Jetzt muß ich wieder heiern?« Hatten die Leute aus der Trauerversammlung recht gehört? Der eine war noch nicht begraben, und schon war der Gedanke an den anderen geboren. Der Gedanke, ja, der hätte schon vorhanden sein dürfen, aber das Wort! 61 So was spricht man doch nicht aus – nein, das war schon nicht mehr bloß unvorsichtig, das war schon geradezu lächerlich. Und die Leute lachten denn auch einander fröhlich zu, und selbst die schwarzen Leichenträger schmunzelten vergnüglich, als sie die Tragbahre mit dem Sarg auf ihre Schultern hoben und den toten Gerber von dannen trugen.

Radschuh, der Wagner, war Nachgeschwisterkind zu dem Heimgegangenen, deshalb folgte er den Leichenträgern auf dem Fuße, direkt hinterm Sarg. Neben ihm schritt Zwergkopf, der Schuster. Er war nur durch das Kontobuch der Firma Lederhos mit dem Heimgegangenen und seiner Gattin verschwägert. Die beiden, Radschuh und Zwergkopf, stießen mit den Ellenbogen aneinander und raunten sich, während ihre Augen ins Gebetbuch starrten, bedeutungsvoll zu: »Eine gute Partie! Se hat noch Holz vor der Tür.«

»Und Fleisch ums Nierenstück, mein lieber Gevatter.«

»Nachbar, die braucht sich nicht ausschellen zu lassen.«

»Für die kommt schon noch einer, Vetter.«

»Schade, daß wir beide nicht mehr jung und ledig sind.«

Der geheimnisvolle Dialog endete, als der Leichenzug auf dem Kirchhof angekommen war. Man senkte den Gerber in die Grube und hänselte am gleichen 62 Tage noch beim Leichenschmaus seine heiratslustige Witwe nach Kräften.

Dann aber ward's ruhig im Dorf. Frau Lederhos merkte natürlich auch, daß sie am Begräbnistag ihres Seligen eine Ungeschicklichkeit begangen habe, und zog sich in die Stille ihres Hauses zurück. Nur durch das Küchenfenster guckte sie zuweilen in die Welt hinaus. Man konnte von diesem heimlichen Luginsland die weiße Straße übersehen, die in die blaue Ferne führte, und der jungen Witwe war es so, als ob da drunten heraus aus der dämmernden Weite über kurz oder lang etwas Geeignetes für sie kommen müsse. Härter und härter wartete sie von Tag zu Tag auf dieses Fremde, denn ach, das Heimische bot des Ärgerlichen und Verdrießlichen mehr als genug. Hatte sie nicht eben erst einen heftigen Auftritt gehabt mit dem Wetterhuber, dem buckligen Faktotum ihres Mannes selig? War der nicht wie ein Kind, daß er auch gar nichts aus eigener Einsicht heraus tun und lassen konnte, daß er immer kommen mußte mit seinen dummen Fragen: ›Meisterin, wie soll ich dem Felljuden das Kilo Rindshäute bezahlen?‹ Oder: ›Welchen Preis soll ich für den Zentner Lohrinde anlegen, wenn er aus einem zwölf- oder welchen, wenn er aus einem fünfzehnjährigen Eichenbestande herstammt?‹ Woher sollte sie denn diese intimen Zunftgeheimnisse alle wissen? War er denn nicht die rechte Hand ihres Seligen gewesen und in die Verhältnisse eingeweiht? Warum 63 handelte er denn nicht nach seinem Gutdünken, statt immer nur zu kommen und zu fragen und zu fragen? Heute war sie ärgerlich geworden, hatte sich von ihrem Unmut ein wenig hinreißen lassen und hatte dem Verwachsenen die überzwerche Frage hingeworfen: »Ei, einfältiger Dachshund, wozu bist du mir nütze? Es scheint, ich hab' dich nur zum Fressen wie die Mäuse?«

Diese gewundene Redensart hatte der Bucklige krumm genommen, hatte gekündigt und sein Wanderbuch verlangt. Nun stand sie ganz allein da, ohne Rat und ohne Beistand den Metzgern ausgeliefert, denen ja so wenig zu trauen ist wie den Müllern. Nähten nicht die Spitzbuben kunstvoll an den Häuten die Löcher zu, um einen höheren Preis zu erzielen? Aber dann kam später der Lederhändler, entdeckte den Schaden im Fabrikat und machte an der Rechnung einen gehörigen Abzug. Wehe dem Ehrlichen, der zwischen so vielen Dieben eingezwängt schnaufen mußte. Und Frau Lederhos war ehrlich. Zum mindesten sehnte sie sich ehrlich nach einem Manne und zwar nach einem Gerber, um ihr Versprechen zu halten. Kam einer, so sollte zugegriffen werden. Ein Adelsdiplom konnte füglich nicht verlangt werden und wurde nicht verlangt.

Von dem Aufruhr derartiger Gefühle umbrandet, stand sie am Küchenherd, kochte Linsen und warf aus ihren Feueraugen wie ein Leuchtturm aufklärende 64 Blitze durchs Küchenfenster auf die weiße Landstraße hinaus.

In staubiger Ferne sah man zwei Handwerksburschen das Tal heraufwalzen. Man sah den Rauch ihrer Tabakspfeifen im Morgenwinde kräuseln. Man sah die Felleisen über den Schultern der Wanderer tanzen und sah die Knotenstöcke lustige Wunden in die Lüfte schlagen.

›Mutter Gottes von Dettelbach, wenn da der richtige dabei wäre,‹ dachte die Witwe und strengte ihre gierigen Wolfslichter an, um die Wandergesellen zu mustern, während ihre Hand über dem Linsentopf ideale Kreise ins Leere, statt in den Brei rührte. Was Wunder, daß die Linsen anbrannten. Die gute Frau erschrak heftig, als ihre Nase sie belehrte, was in der Nähe vorging, während ihre Blicke in der Ferne weilten.

Indessen das Unglück war da und zunächst nicht zu ändern, denn in diesem Augenblick pochte es draußen an der Küchentür. Frau Lederhos verließ den Herd, strich die Schürze glatt und öffnete die Tür. Da standen zwei stramme Bengel wie vom Himmel gefallen vor ihr, griffen nach der Mütze und sagten mit starker Betonung: »Gott schütze das Handwerk. Wir sind reisende Gerbergesellen und bitten um ein Almosen.«

Die Meisterin gab, da ihr Herz vorläufig noch keine Auswahl getroffen hatte, jedem einen Groschen 65 und forderte die Wandernden auf, da es gerade die Zeit des Mittagessens sei, zu bleiben und sich gütlich zu tun an ihrem Tisch. Die beiden ließen sich nicht nötigen. Sie traten in die Stube, hängten Mütze, Felleisen und Knotenstock an den Nagel und hockten sich breit und behäbig wie Ochsenfrösche hinter die Teller. Von einer Unterhaltung konnte zu Beginn des Mahles nicht die Rede sein. Wie Diebe beim Stehlen steckten die Fremden zunächst nur schweigend in sich hinein, was in sie hineinging, obwohl sie bei dem Linsengericht ein wenig die Mäuler verzogen. Dann erst, als die Schüsseln leer und die Gesellen gesättigt waren, gaben sie der Meisterin auf ihr Woher und Wohin eine knappe Auskunft. Es schien, als ob der Freitisch nicht der richtige Schlüssel gewesen wäre, die Verschlossenheit ihrer Herzen zu entsiegeln. Sie suchten offenbar aus dem Hause loszukommen, trotz der vielversprechenden Blicke der Gastgeberin. Rasch erhoben sie sich, und indem einer von ihnen wie zum Hohne sagte: »Immer und ewig können wir nicht zusammenbleiben,« gingen sie dem Haken zu, der ihre Habseligkeiten an der Zimmerwand festhielt.

Die Meisterin fühlte, daß sie den Stier bei den Hörnern packen müsse, wenn sie nicht wollte, daß der Stall leer blieb, und sie vertrat dem jüngeren der beiden den Weg: »Du bist ein tüchtiger Gerber, ich seh's an deinen Händen, Bursche. Was willst du 66 dich länger auf den Straßen herumtreiben?« sagte sie resolut, »du findest bei mir Arbeit und, falls du anstellig und fleißig bist, einen guten Lohn.«

»Und angebrannte Linsen,« höhnte der andere und suchte seinen Nebengesellen am Ärmel nachzuziehen. Eine Weile schwankte der Gezogene und wußte nicht, ob er gehen oder bleiben solle. Dies Zaudern ermutigte die Meisterin, und sie riskierte einen kühnen Flankenangriff: »Hier ist kein Mann mehr im Haus,« verkündete sie verheißungsvoll, »wer hier in die Speichen des Rades greift und den Karren nach oben schieben hilft, kann möglicherweise auch einmal auf dem Ledersitz in der Zahne hocken und die Gäule nach seinem Willen lenken.«

Die Schelmenaugen der beiden Zugereisten sahen sich zwinkernd an, bis der ältere den jüngeren auf die Seite zog und ihm leise ins Ohr flüsterte: »Sie hat's auf dich abgesehen! Wenn du Lust hast, dann bleib'. Ein alter Topf bricht leicht, und für die Scherben nimmt einer manchmal soviel ein, daß er sich einen neuen kaufen kann.«

Der Junge drehte sich um. »Wenn Ihr nicht alle Tage Linsen kocht, so will ich bleiben,« sagte er und ging in die Tiefe des Zimmers hinein. Der Alte ging durch den Hausgang ins Freie hinaus.

Nicht viele Wochen waren vergangen, und die Witwe, die wieder »heiern« mußte, war verheiratet; war aus einer Frau Lederhos eine Frau Schlitz 67 geworden. Ferdinand und Grethe Schlitz hieß die neue Firma, deren männlicher Teilhaber aus Westfalens roter Erde entsprossen war.

Im Anfang aller Dinge muß das Geld gewesen sein, denn ich kann mir nicht denken, daß jemand um nichts und wieder nichts die Welt erschaffen haben soll. Auch dem Ferdinand Schlitz tat kein Mensch und keine Seele irgend etwas umsonst. Als er neue Maschinen anschaffte, hielten die Lieferanten ihm die leeren Hände hin, und ehe noch das alte Gelorch der Gerberei ein wenig modernisiert aussah, war das Lebensversicherungsgeld des Herrn Lederhos selig verpulvert.

Nun erhob sich zwischen den ehelichen Turteltauben das erste Gezänke. Sie schimpfte ihn ein Großmaul und einen westfälischen Hinterschinken, und er nannte sie kurz und bündig »ein süddeutsches Swien«.

Als er sagte: »Du kannst gegen mir nicht 'raufrutschen,« entgegnete sie schlagfertig: »Und du kannst an mir 'runterrutschen.«

Titulierte er sie »Skuppnudel«, so nannte sie ihn »Pumpernickel«. Kurzum, es zeigte sich, daß der Streit, den die Not des Lebens entfacht hatte, durch die nationalen Gegensätze von Süd und Nord noch wesentlich verschärft wurde. Um die bunte Serie der Verbalinjurien eines solchen Zankes abzuschneiden, ging der Hausherr eines Tages entschlossen nach dem 68 Kleiderschrank, zog Überzieher und Handschuhe an und verschwand unter der Haustür, seiner Gattin keine andere Auskunft zurücklassend, als: »Ich muß nach Frankfurt von wegen das Wildleder.«

»Von wegen das Wildleder,« fing sie an zu grübeln, als sie am Abend allein das gemeinsame Ehebett drückte. »Das Wildleder? Zu was er das wohl brauchen will?« Der selige Lederhos war doch niemals dem Wildleder nachgelaufen. Freilich, ihr jetziger Mann war ja auch jünger, und die Neuzeit konnte Bedürfnisse haben, die dem altmodischen Eigenbrödler fremd waren. Die Gerbersgattin fing an, ihren Ferdinand vor sich selber zu entschuldigen, und bereute ihre Heftigkeit ihm gegenüber, wozu sie eine ganze Nacht Zeit hatte, denn der Ausreißer war nicht nach Hause gekommen. Am Morgen stellte sich bei ihr die Sehnsucht nach dem Entschwundenen stärker ein, aber sie blieb noch reichlich zwölf Stunden ungestillt. Erst die Abenddämmerung brachte den Vermißten wieder und – dem Himmel sei's geklagt! – in welchem Zustand. Er sah wahrhaftig aus, als ob er unter den Frischlingen in einem Wildpark biwakiert hätte. Die Haare waren steil gestellt und sehnten sich von seinem Schädel weg. Die Augen hatten sich hinter die geschwollenen Lider verkrochen und blitzten da scheu heraus wie Spitzmäuse aus ihren Löchern. Die Halsbinde war zerknittert, die Schirtingweste befleckt, und der ganze Kerl war so lummerig und gehaltlos, daß er wie 69 ein leerer Sack nicht stehen konnte, ins Bett fiel und schlief.

Als Frau Grethe Schlitz wortlos vor diesem Haufen Unglück stand, erwachten in ihr allerlei Vorstellungen über den Inhalt des Wortes »Wildleder«. Ein Verdacht stieg in ihr auf. Sie fing an, nach Indizien zu suchen, und als sie in der Rocktasche ihres Eheliebsten einen zerdrückten Veilchenstrauß fand und einen Champagnerpfropfen, da wurde ihr – so weltunerfahren sie sonst auch war – mit Schrecken klar, daß es unterirdische Kanäle geben müsse, durch die auch ein tiefer Brunnen auslaufen könne, um wieviel mehr der ihrige, der ohnedies nur mit wenigem, dazu noch brackigem Grundwasser gefüllt war. »Wehe über die ersparten Groschen meines Seligen,« jammerte sie. »Bald wird sich der Bedarf nach ›Wildleder‹ wieder einstellen, und die runden Taler werden nach Frankfurt rollen. Daß der Tote mich aber auch mit gebundener Marschroute im Leben zurückließ,« grollte sie schwer verwundet in sich hinein. »Ein Zimmermann hätte die Ausrede des Wildleders nicht gehabt, und das Geld wäre im Geschäft geblieben.«

Grethe Schlitz sah sorgenvoll ein großes Stück den Lebensweg hinunter. Ganz unten bemerkte sie den Gerichtsvollzieher mit einem Bündel Akten unterm Arm. Ihr Mann, der Bruder Liederlich, war durchgebrannt, und sie stand allein und hilflos einem Haufen Gläubiger gegenüber. Ihr Bett, ihr Schrank, ihr Tisch 70 waren fortgetragen. Ach, wie war sie doch so durchaus elend und verlassen, und das alles nur, weil sie so gutmütig war, den Rat ihres Mannes befolgt und einen Gerber geheiratet hatte. Doch auch bei dem kläglichsten Zusammenbruch war nicht alles verloren. Frau Schlitz hatte immerhin noch eine Reserve. Hatte der Sterbende ihr umsonst das Geheimnis seiner fünf Gruben verraten? Kein Mensch wußte darum, daß unter einem festgetretenen Haufen Lohkäse ein Juwel begraben lag, den die Schuhmacher mit Gold aufwiegen würden. Dieser verzauberte Schatz sollte ihre ultima ratio sein, wie die Kanonen die der Könige. Keinem Menschen gegenüber wollte sie davon reden und ihrem Manne gegenüber erst recht nicht. Wenn der Bruder Liederlich kein Geld hatte, und keines roch, dann verging ihm vielleicht die Lust zum Reisen nach dem Wildleder.

Am anderen Morgen bekam Herr Schlitz das stark gewürzte Paprikagulasch einer Gardinenpredigt vorgesetzt. Schweigend und zerknirscht hörte er zu, und in der Tat, er wurde sogar gebessert; für einige Wochen mindestens. Er ging still zur Arbeit, saß am Abend hinter seinen Büchern und fand beim Lampenscheine seine Gattin so hübsch, daß er an ein Vertauschen des alten Topfes nur noch selten dachte. Grethchen heimste zuweilen einige Zärtlichkeiten ein, war damit zufrieden und wünschte mit dem alten Handwerksburschenlied sehnlichst: »Ach, wenn es nur immer so blieb'.«

71 Vielleicht wäre es so geblieben, wenn nicht den Eheleuten eines unseligen Tages ein Hund zugelaufen wäre. Selten ist ein Tier – selbst Faustens Pudel nicht – mit so großem Mißtrauen betrachtet worden wie dieser biedere Jagdhund. Man verstehe mich wohl: nur Frau Schlitz war es, die so den Eindringling beargwohnte. Selbst auf das »zugelaufen« erstreckte sich ihr Verdacht, »zugeschickt« schien ihr den Tatsachen näher zu kommen. Sie vermutete stark, daß an dem Halsband des Vierfüßers allerlei hängen könne, ein Jagdgewehr, ein Pulverhorn und sonstige Ausrüstung eines modernen Nimrods.

Herr Schlitz seinerseits leugnete derartige Ambitionen insoweit, daß er den Hund sogar Leda taufte, statt Feldmann oder Waldmann, daß er ihn am Gerbhaus an die Kette legte und ihn nur gelegentlich mitnahm, wenn er in Geschäften über Land mußte.

Die Rindenernte war da, und sie bedingte hie und da einen Ausflug in das im Osten liegende Gebirge. Fünf Stunden von der Ebene entfernt lebte dort auf einem Hammerwerk ein Herr Hutten, der viel Schälwaldungen hatte und einen wohlgefüllten Weinkeller. Er war auch »Westfälinger« und somit ein Landsmann des jungen Gerbermeisters, und es war selbstverständlich, daß die beiden sich die Gastfreundschaft anboten und hielten. Da gab es oft im Zimmer des Hammerwerkbesitzers ein Kneipen bis in 72 den lichten Tag hinein, dann ein eifriges Geschäft an der Rindenwage, ein Fordern und Feilschen, ein Drücken und Kneifen der drallen Bauernhände und dann wieder zum Schluß des Handels ein Gelage, wobei Hunde, Hasen und Weiber den unerschöpflichen Gesprächsstoff lieferten.

Als Leda zum ersten Male bei Huttens ihre Aufwartung machte, war sie der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, die sich noch steigerte, als ihr Herr von ihren Talenten und Großtaten die unglaublichsten Dinge erzählte. Neulich hatte die Hündin ein durchgebranntes Rind am Schwanze gepackt und in den Stall zurückgezogen, einen Milchwagen übersprungen und einen vierzigjährigen Handwerksburschen apportiert. Kurzum, es gab scheinbar kein Ding, das den Angriffen des Wundertieres zu widerstehen vermochte.

Jetzt war das Aufschneiden dem Hutten zu dick geworden, und er fing an zu höhnen: »Ferdinand, war's nicht auch dein Hund gewesen, der den Scherenschleifer mitsamt dem Schleifstein verschluckt hat? Schämst du dir nicht, hier herumzulügen, als ob du ein Zigeunerbaron wärst? Guck, deinen Elendsköter will ich mit einem Zahnstocher in der Hand von hier bis ins Württembergische hinüberjagen, diese Hundekreatur, die nicht mehr Mut hat wie ein Kaninchen.«

»Hutten, Hutten, daß du dir nicht verrechnest,« 73 mahnte Schlitz. »Dir will ich morgen in deiner Rindenscheuer statt eines Zahnstochers eine Heugabel in die Hand geben. Du magst dich wehren, wie du kannst, und ich sag' dir doch, in fünf Minuten treibt dir mein Hund die Schließeleiter hinauf bis auf das Gebälk.«

»Ferdinand,« entgegnete der Hammerwerksbesitzer ruhig, »wenn mir dein Hund auf das Spind hinauftreibt, dann kannst du auf der Tenne von meinen Rinden laden, soviel du willst und solange ich oben bin. Sie kosten dir keinen roten Heller.«

Schnell schlug der Gerber dem Hammerschmied die Wette zu, und der nächste Morgen schon sah dies seltsame Duell zwischen Mensch und Vieh.

Ferdinand Schlitz behielt recht. Hutten saß nach kurzer Zeit mitsamt der Gabel im Gebälk seiner Scheune, während der Hund mit fletschenden Zähnen die Leiter bewachte. Ferdinand und seine Leute schafften wie die Schanzgräber. Die Rindenbündel flogen durch die Luft, und die Last des Wagens wuchs über die Heuleitern hinaus. Dem Hutten ward es bange oben zwischen den Spinnweben seiner Dachsparren.

»Ferdinand,« flehte er in erbärmlichem Tone, »nun laß es genug sein und ruf' das Biest von Hund ab.«

»Nein, noch nicht,« gab Schlitz mit lachendem Munde zurück: »Ich hab' die Dorfmusikanten bestellt, 74 die müssen dir erst ein Ständchen bringen, und die ganze Gegend muß wissen, was du für ein erbärmlicher Herkules bist.«

Zehn Minuten, und die Musikanten kamen und stellten sich auf der Tenne auf. Und sie strichen ihre Fiedeln zu einer Schleifermelodie und sangen dazu das einzige Lied, das ein jeder von ihnen auswendig wußte:

Es sitzt im Gras ein Häsel,
Am Hintern hat's en kurzen Schwanz
Und im Gesicht 'n Näsel,
So wunzig wie 'e Wanz.

Hutten, der sich sagte: ›Und wenn ich vor Zorn zerplatzen sollte, ich werde mich nicht ärgern,‹ stimmte in das Lied ein und sang von dem Spind herunter mit.

»Das klingt nicht recht zusammen,« sagte Ferdinand Schlitz, »komm' und stell' dich mit meiner und des Hundes Erlaubnis zu den Musikanten. Aber einen Kranz mußt du mir noch besorgen auf den vollen Leiterwagen.«

»Soll sein, Ferdinand! Hab' ich dir die Pfeife gestopft, kann ich dir auch noch den Zunder reichen.«

Hutten kam die Leiter herunter, und es gab einen kleinen Triumphzug mit Musik von der Rindenscheuer nach dem Wohnhaus zu, wo das Mittagessen wartete. Man aß und trank und ging ohne Verstimmung 75 auseinander, der Hammerschmied in seine Werkstatt, der Gerber nach seinem Heimatstädtchen.

Als letzterer am Stadttor ankam, schwankte gerade der bekränzte Wagen im Abendscheine über das Pflaster.

»Himmelsakra, was ist da los?« sagten die Leute und rissen die Fenster auf. Der Fuhrmann klapperte mit der Peitsche, lächelte geheimnisvoll, sagte aber nichts.

Na, einer muß sich doch finden, der den Herold für Ledas Großtaten macht. Also setzte Ferdinand Schlitz, nachdem er seine Grethe kurzhin gegrüßt hatte, den besseren Hut auf und ging an die Stammtische in den verschiedenen Wirtshäusern. Man hörte mit offenem Munde die unglaubliche Kunde. Man ließ den siegreichen Hund und seinen Herrn hochleben. Man trank viel und nichts Schlechtes, und Ferdinand Schlitz zahlte. Als das Horn des Wächters zwölf Uhr tutete, war Leda so berühmt wie das Roß des großen Alexander, wie der Hund des Alcibiades. Allerdings muß gesagt werden, daß dreimal soviel vertrunken war, als das Biest und der Lohrindensiegespreis wert waren.

Frau Schlitz ahnte wohl, daß nicht alles, was Leda verdient hatte, als Reingewinn verbucht werden könne. Aber sie fütterte gleichwohl das edle Tier besser als vordem und streichelte es zuweilen. Sie hatte sogar nichts dagegen einzuwenden, als ihr Mann 76 eines Tages den Vorschlag machte, daß er zur Erzielung einer edlen Nachkommenschaft mit dem Hunde eine kleine Reise machen müsse, – nach Frankfurt – kam es verlegen heraus.

Das war doch diesmal keine faule Ausrede wie dazumal mit dem »Wildleder«. Hundezucht, das war ein Geschäft, das rentabel werden und das ausgelegte Fahrgeld eines Tages überreich einbringen konnte.

So rechnete die kluge Meisterin, als sie ihrem Manne den ausgebürsteten Hut überreichte und glückliche Reise wünschte.

Ferdinand Schlitz zog aus, um für seine Leda einen Schwan zu suchen. Als er am Abend des folgenden Tages wiederkam, hatte er für sich einen Affen gefunden. Bleich, übernächtig und schmutzig lag er mehr tot als lebendig auf seinem Bette. Frau Grethe sah ihn so in seinem Elend liegen und sagte zu sich selber: ›Mit meinen Knochen wirft der Erbärmel keine Nüsse herunter, obwohl ich älter bin wie er. Nun, wie Gott will. Wenn der Gutedel mir vom Himmel abverlangt wird, ich geb' ihn her.«

Sie blickte nämlich wieder einmal etwas in die Zukunft voraus. An ein gutes Ende war nirgends zu sehen. Der Gerichtsvollzieher im Gesichtsfeld war größer und drohender geworden. Kein Wunder, er stand jetzt dem Hause näher als vordem. Mit wärmerer Innigkeit dachte jetzt Frau Grethe wieder an die 77 verborgenen Gruben und ihren Inhalt. Vielleicht ließ sich mit dem Erlös aus diesem Schatz das Anwesen erhalten. Vielleicht, vielleicht – an was denkt man nicht alles – ließ sich auch aus der Hundezucht etwas herausschlagen, wenn Leda die Hoffnung rechtfertigte, die man in sie setzte.

Als am nächsten Morgen Frau Schlitz die Wirkung einer guten Gardinenpredigt auf ihren Gatten abermals versuchte, war sie sehr erstaunt über den geringen Erfolg ihrer Worte. Ihr Eheliebster war bockbeinig geworden, behauptete, daß seine Frau ein dummes Luder wäre, die von nichts nicht ein Verständnis hätte. Solch ein Hund, wie die Leda einer wäre, sei mehr wert wie die ganze lumpige Lohgerberei. Dem Tiere müsse nur noch die nötige Dressur beigebracht werden, dann solle einer gommen und ihm unter dausend Daler dafür bieten, und er werde ihn kopfüber die Treppe hinunterwerfen. Noch heute werde er gehen und sich einen Jagdpaß lösen. Er selber werde das Tier führen und ihm beibringen, was »Daun« heißt und »Suchverloren«.

Mit diesen Worten verließ er Bett und Haus, und als er wieder heimkam, hatte er eine Hubertusmütze auf dem Kopfe, die von einem nickenden Fasanenschwänzchen überragt war.

Wochenlang sah Frau Grethe von ihrem Gatten kaum mehr als Ledergamaschen, die am Ofen trockneten, Rucksäcke, die mit Blut beschmiert waren, und 78 Transtiefel, deren Dunst die Luft verpestete, bis er ihr eines Tages selbst auf einer Tragbahre vor die Augen gebracht wurde. Einer seiner lieben Weidgenossen hatte ihm eine Ladung Rehposten ins Genick gejagt. Der Weidwunde sah blaß und elend aus, hatte aber noch Kraft genug, die erforderlichen Anordnungen selbst zu treffen. Er verlangte, daß man gleichzeitig den Arzt und den Veterinär rufe. Der kranken Kuh seines Lehrherrn habe kein Tierarzt helfen können, da habe sie ein Menschendoktor in die Reihe gebracht. Alles in der Welt sei relativ. Der Reis könne bald den Zucker brauchen, bald den Paprika; je nachdem er ein Brei werden solle oder ein Gemüse. Kurzum, er verlangte beides: Zucker und Paprika, Veterinär und Menschenarzt.

Man tat nach seinem Willen, und die Stiefbrüder aus dem Samen des Äskulap erschienen am Krankenbette des Gerbers. Beide sahen einander mit bedenklicher Miene an, und beide schüttelten sie die Köpfe.

»Man wird ihm das ganze Hornfleisch hinwegschneiden müssen,« sagte der Kollege vom anderen Vieh, und der vom einen nickte dieser Ansicht Beifall zu. Frau Grethe sagte: »Spart daran nicht,« denn sie dachte, daß ihr Mann weniger stößig wäre, wenn ihm das Nackenfleisch fehle.

Die beiden Ärzte machten sich über den Gerber her und säbelten so eine gute Stunde an ihm herum, 79 wobei er immerhin noch genug Rehposten im Fleisch, aber kein Blut mehr in den Adern behielt. Man unterbrach die Operation und legte den Verwundeten ins Bett. Er delirierte leicht. Sah überall Hasen laufen und hetzte seine Leda hinter ihnen her. Man reichte ihm ab und zu einen kühlen Trank und machte ihm kalte Aufschläge auf die Stirne.

Gegen Mitternacht war dem Verwundeten die Besinnung auf einige Augenblicke wiedergekehrt. Er setzte sich auf und sah sich in der Stube um. »Wo ist der Tierarzt?« fragte er, als er den stämmigen Alten vermißte. »Er ist auf einen Augenblick hinausgegangen,« gab man ihm zur Antwort, »er wird gleich wiederkommen.«

»Er gommt nich mehr. Er hat mir aufgegeben,« sagte der Sohn der roten westfälischen Erde, legte sich um und ging mit einer letzten Sünde gegen den deutschen Sprachgebrauch vor den Richterstuhl Gottes.

Als man drei Tage später den Sarg in die Erde gesenkt hatte, war Grethe Schlitz auch ihren zweiten Gerber los. Diesmal aber dachte sie nicht: ›Nun muß ich wieder heiern,‹ sondern: ›Wie werd' ich meine Schulden los.‹

Sie ließ die verborgenen Gruben öffnen und hoffte, aus dem Erlös des Sohlleders ihre Gläubiger befriedigen zu können. Aber o weh, die Häute waren richtig verstunken und brachten wenig ein. Die 80 Gerberei kam unter den Hammer des Auktionators und von da in andere Hände.

Leda, die jetzt die letzte Trägerin der letzten Hoffnung war, kam mit sieben Jungen in die Wochen. Aber als man sich die Sorte besah, waren's lauter ordinäre Schnautzer, die allseitig zurückgewiesen wurden, als man sie verschenken wollte. Frau Schlitz trug den Erfolg der zweiten Frankfurter Reise ins Wasser und zog mit Leda aus dem Lande; und während aus ihrer einstigen Gerberei eine große Lederfabrik wurde, ward aus ihr eine fleißige, ausnahmsweise stille Waschfrau. 81

 


 


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