Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Die Heiratsgulden

Doktor Ebenich, der gutmütige, saß vor seinem Schreibtisch und schrieb Zeugnisse zum Wohle der Menschheit. Kleine Mädchen, die nicht stricken wollten, Knaben, die nicht gerne turnten, Männer, die eine warme Stube dem Aufenthalt im kalten Nordsturm vorzogen, alle diese Mühseligen und Beladenen kamen und gingen getröstet und durch kleine Zettel gegen jede Nachstellung der Böswilligkeit gefeit von dem Doktor weg. Kein Wunder, daß sein Wartezimmer gefüllt war wie das Haus der Hexe von Endor, bei der man Liebestränke zu kaufen bekam. Und kein Wunder, daß es manchmal Streit gab unter all den Harrenden, denen des Wunderdoktors Scheine die Geldschränke der Krankenkassen eröffneten und die Türen der Gefängnisse schlossen.

Hub da nicht soeben wieder im Vorzimmer ein Gebrülle an? Doktor Ebenich hielt im Schreiben inne, spitzte die Ohren und erlauschte aus dem Nachbarraum folgendes liebliche Zwiegespräch: »Daß du dich keinen Schritt näher nach der Türe vorwagst, du 26 Bachstelze, du kecke! Hier muß Ordnung herrschen wie beim Galgen zu Beerfelden. Wer am längsten gesessen hat, ist der nächste zum Hängen.« So begehrte eine rauhe Männerstimme energisch auf, der dann eine kreischende Weiberstimme antwortete:

»Was reißt du mir die Röcke aus den Falten? Hast du Geld, mich von neuem herauszustaffieren, du abgenagter Schinkenknochen, an dem kaum noch eine Spitzmaus ihr Frühstück findet? Warte nur noch ein paar Tage, liederlicher Hund, und du wirst vor Neid aufplatzen wie eine Erbsenschote, wenn du sehen mußt, wie hier vor dem Doktorhause der Wagen mit meinen Gäulen hält.«

»Um dich ins Narrenhaus zu bringen, übergeschnapptes Zwerghinkel. Weil deine Mutter dich im Frankfurter Hirschgraben aufgelesen hat, denkst du mehr zu sein wie andere Leut'. Wart' nur, mit meinen Zimmermannsfäusten will ich dich Raison lehren. Sie sollen dich wie einen Zaunpfahl in den Boden schlagen, damit du das Stillstehen lernst, bis die Reihe an dich kommt.«

An dieser Stelle des Dialoges glaubte Herr Ebenich, in die Entwicklung des Dramas eingreifen zu müssen, und öffnete rasch die Tür ins Wartezimmer. Vor ihm stand ein ergrautes Weib mit Gesichtszügen, die in der Gegend nicht bodenständig waren. Zwei lebhafte Augen deuteten auf ein ungewöhnliches, begeisterungsfähiges Seelenleben, und 27 von einer edel geformten Stirne herunter leuchtete eine sieggewohnte Vornehmheit. Die Frau fiel dem Doktor auf, noch mehr, sie gefiel ihm sogar, und er sagte zu sich selber: »Wer immer sie geschaffen haben mag, ganz einerlei wie und wann, sie hat Grund, mit dem Bastard von England zu sagen: ›Dank dem Gebein, das sich für mich bemüht.‹« Ebenichs Interesse an der Patientin war geweckt, und er begünstigte dieselbe sogar, indem er ihr den Eintritt in sein Sprechzimmer sofort ermöglichte.

Mit verachtendem Siegerblick durchlöcherte das Weib seinen Gegner wie die Nadel das Knopfloch und trat über die Schwelle.

Der Arzt bot seiner Patientin einen Sessel an. ›Sie habe lange genug gesessen,‹ lehnte sie dankend ab, und außerdem von ihren Eltern gesunde Beine geerbt. ›Das heißt,‹ verbesserte sie ihre Rede, ›die hochseligen Beine ihres Vaters habe sie nicht gekannt. Er hätte ihre Mutter angeschmiert und sei von ihr weggegangen, als ein Kind in Aussicht gewesen sei. Das Kind sei sie gewesen, und weil sie danach keinen richtigen Vater gehabt habe, hätte man sie einen Bastard genannt. Darum sei aber der eine Mensch noch lange nicht schlechter wie der andere, denn schließlich könne kein Mensch beschwören, wer eigentlich sein Vater gewesen sei. Und wenn man nur von einer guten Art wäre, dann käme man schon wieder hoch, wenn man auch eine Zeitlang im Straßenschmutz gelegen hätte, 28 und sie wäre bereit, dem Herrn Doktor diesen Erfahrungssatz durch Beispiele zu erhärten.‹

›Alle Wetter,‹ dachte der Arzt, ›wenn du den Redefluß nicht abzudämmen verstehst, dann geht er über die Ufer, und du erfährst am Ende Dinge, die auch deinem Stammbaum nicht zur Zierde gereichen.‹

Er schrie deshalb der Erzählerin – er hatte gemerkt, daß sie schwerhörig war – aus Leibeskräften in die Ohren: »Aber, liebe Frau, diese Sachen mögen vielleicht Ihren Mann oder sonstwen interessieren, ich sitze hier als Arzt.«

»Mein Mann,« rief das Weib begeistert aus, »weil Sie doch gerade von dem reden, der war die gute Stunde selber. Denken Sie, er hat sich als Vater von meinem Kind einschreiben lassen, obwohl er mich erst kennen lernte, vier Wochen zuvor, eh' unser Büble den allerersten Schrei getan hat. Ach Gott, wer kann dafür? Mir war's gegangen wie meiner Mutter und in dem nämlichen Frankfurt. Nur, daß meine Mutter ein Mädel neben sich liegen hatte und ich einen Buben, und in denen Sachen da macht das Geschlecht was aus. Was können kleine Leut' aus einem noch so gescheiten Mädel machen? Wenn's gut geht, eine brave Schenkamme. Aber aus einem Buben, – Gott verzeih' mir die Sünd', wenn mir der Teufel den Gedanken in den Sinn gelegt hat – alles kann man aus Buben machen, sogar unsern heiligen Vater selber. Also ich war 29 besser dran wie meine Mutter, ich hatte einen Buben und außerdem einen Mann. Und wenn der letztere auch nur ein Maurer war, der mit drei Kreuzen und einem Tintenflecken den Ehevertrag unterschrieben hat, und wenn er auch ein Lump war, dem der Schnaps aus den Augen greinte, und wenn er mir auch zuweilen die Haut gegerbt hat, macht alles nichts, ich war besser dran wie meine Mutter. Ich hatte doch einen Mann, und der Bub hatte einen Vater. Nein, wie leicht man doch von der Wahrheit ab und in die Lüge fällt! Der Bub hatte sogar zwei Väter. Vom einen hat er nichts geerbt, als der gestorben ist. Ich meine nämlich den Maurer. Vom andern aber die Gescheitheit. Ich meine nämlich von dem Frankfurter. Der letztere ist Euch eines Tages leutscheu geworden, ist mit der Kasse übers große Wasser gegangen, und kein Mensch hat ihn bis heute auffinden können. Ich bitt' Euch, denkt nach und begreift, daß mein Sohn von dem Vater das Genierliche hat, was ihm von Geburt aus anhaftet. Er war auch immer am liebsten so für sich. Vorgedrängt hat er sich nur in der Schule. Weiter wie einen halben Kilometer war er nie vom ersten Platz entfernt. Er war sogar Meßdiener, wo doch von hundert Bauernbuben kaum einer das Confitibor behalten kann. Im Deutschen war er so schlagfertig wie im Latein. Als sein Maurervater begraben wurde, hat der Herr Pfarrer gesagt: ›Herr, gib ihm die ewige Ruhe‹, 30 und mein Kleiner: ›Und das ewige Licht leuchte ihm.‹ Und das hat der Bub so rührend gesagt, daß ich denk', der Himmel wird sein Gebet erhören. Übrigens viel Licht braucht so ein Maurer im Jenseits auch nicht. Lesen tut die Sorte nicht, und zum Pfeifenanstecken hab' ich meinem Seligen Feuerstein und Zunder in der Westentasche mitgegeben.«

Wie Vogelgezwitscher floß die Erzählung zum Wackeln der spitzen Mullhaube über die Lippen des redseligen Weibes. Wenn Ebenich sie so ansah, wie sie vor ihm stand, sich duckte und mit den Schulterblättern wippte, so mußte er in der Tat an eine Bachstelze denken, die soeben vom Tauchen kommt und sich die letzten Wassertropfen vom Gefieder schüttelt. Zugleich hatte er das Gefühl, daß er das Weib in seinem Schnattern gewähren lassen wolle, in der unbestimmten Ahnung, daß sich ihm noch ein schöner Ausblick auf einen interessanten Werdegang eröffnen könne. Er unterbrach die Redende deshalb nicht mehr. Er öffnete nur die Tür nach seinem Wartezimmer und bestellte einige der Anwesenden auf den folgenden Tag, dann ließ er sich breit in die Armlehnen seines Stuhles fallen, um fernerhin nur Ohr zu sein.

»Sie müssen nicht ungeduldig werden,« sagte die Frau, indem sie die Bewegungen des Doktors mit Mißtrauen beobachtete. »Wenn ein altes Huhn 31 gackert, dann liegt über kurz oder lang ein Ei im Nest. Darf ich fortfahren oder vielmehr noch einmal auf meinen Buben zurückkommen?« Ebenich nickte.

»Wie gesagt also, es hätte der Maurervater sein Teil an meinem Sohn unterm Uhrglas herumtragen können. Aber der Sohn sein Teil von diesem Vater gleichfalls, wenn man vom Namen absieht, der nicht gar so schön war. Alois Fahrschein, was wollte das groß heißen? Hätte einen auf solchen Fahrschein hin auch nur der geringste Eseltreiber aufsitzen lassen? Sein ganzes Leben lang hätte der Junge auf seinen Beinen laufen können, wenn er nicht die Mitgift von seinem Frankfurter Vater gehabt hätte. Zwar Gold war's auch keines, aber Gescheitheit, grausame Gescheitheit, und zwar soviel, daß sie der geschickteste Packer noch nicht in fünfzig Schulmeisterschädel hineingebracht hätte. Ich sag' Ihnen, der Bub hätte das Pulver erfunden, wenn's nicht schon erfunden gewesen wäre. Einen Schüler, wie mein Alois einer war, hat der Schulmeister nit alle Tage, und ich muß sagen, der Spinnenfresser hat sich auch ordentlich Müh' gegeben mit meinem Alois. Gleich nach der Konfirmation hätt' er schon Kaplan werden können. Wenn er sich nur e Brill' hätt' aufsetzen mögen, wäre er angestellt gewesen. Aber wie will der Mensch gegen seine Neigungen aufkommen? Der Aloisel hat Sympathie gehabt zum Schweizerkäs, und so ist er nach Mannheim gegange zu einem Kolonialkrämer. Das 32 war ein Umweg, aber kein großer. Er hat die Buchführung gelernt, und weil er sich derweil den Leiden am Käs gegessen hatte, ist er auf und davon.«

»Und wo ist er jetzt?« bemerkte Doktor Ebenich, um doch seinerseits auch einmal etwas gesagt zu haben.

»Wo der ist?« fuhr Frau Fahrschein im Tone eines tiefgekränkten Mutterstolzes auf. »Ei, Herr Doktor, waren Sie denn in den letzten paar Jahren sommers und winterüber zu Strümpfelbrunn hinterm Katzenbuckel im Heidelbeerlesen, daß Sie nicht wissen, was vorgeht in der Welt? Im »Starkeburger Bote« steht's zu lesen und dito im »Mannheimer Volksblatt«. Wissen Sie im Ernst nicht, daß mein Sohn Alois Fahrschein von Unterflockenbach beim Militär ist? Ha, und was ist er da?«

»Gewiß nichts Geringes,« sagte der Arzt, um wieder gut zu machen, was seine Unkenntnis von vorhin verdorben hatte – »vielleicht gar ein General?«

»Höher hinauf ins Gebälk,« kommandierte die Maurerswitwe.

»Admiral,« so steigerte Ebenich sein Angebot.

»Noch eine Sprosse höher müssen Sie auf der Leiter steigen, wenn Sie die Hohlziegel von der Dachfirst herunterholen wollen,« ermunterte Aloisens Mutter mit stolzem Angesicht, das keine Spur von Mitleid mit des Doktors verstiegener Lage erkennen ließ. Dem Letzteren schwindelte es. Er fühlte, daß er sich aufs 33 Bitten verlegen müsse, und er sagte demütig zur Mutter des großen Sohnes: »Gute Frau Fahrschein, wollen Sie mir nicht das Raten ersparen? Ich habe in so hohen Sphären nie geschwebt. Ich kann zur Not einen Gendarm von einem Feuerwehrmann unterscheiden, aber weiter hinaus kenn' ich mich nicht aus. – Wollen Sie mir nicht lieber sagen, was Ihr Herr Sohn gegenwärtig ist?«

»Korporal,« sagte Frau Fahrschein mit energischer Betonung der ersten Silbe. »Er ist in Darmstadt der oberste von allen. Was der sagt, müssen die anderen tun. Und wenn er sagte: ›Alle Kanonen aufs Rathaus!‹ so stehe se droben im Ratszimmer und der Bürgermeister dahinter. Ich wette mit Ihnen, er braucht nur zu kommandieren: ›Stillgestanden und keinen Knochen gerührt!‹ Und der Schnellzug von Frankfurt nach Basel bleibt vor dem ersten besten Kartoffelacker stehn. Ja, und dabei gar kein Stolz. Nicht soviel Hochmut, als mer unterm Augendeckel tragen kann. Stelle Sie sich vor: Er hat seine Goth eingelade zu seiner Hochzeit und meinem Mann seinen Bruder von Altneudorf und sogar den Kreuzunquer von Hammelbach, was en Mennonit ist und sein Kittel mit Hafte zusammenhängt. Na, und natürlich auch mich, seine leibhaftige Mutter, weil ich ihm doch die Ehr' angetan hab' und hab' ihn in die Welt gesetzt. Und am Donnerstag gehn wir nach Darmstadt, und in der Garlysolskirche wird er getraut, und im 34 Applonetheater ist das Mittagessen, und unter Lohrebeerebäume werden sie kopuliert, und sein Leutnant kommt dazu, sein Oberst und sogar sein Feldwebel . . . Ach, und all' die geputzte Stadtweiber. Heilige Mutter Gottes, wie wird sich denn unsereiner unter dene Damen ausnehmen, wo mer auch noch nichts sieht und e Gesicht hat, wie der Kopf von einer Schnitzelbank. Sehe Sie, mir wird's manchmal in den Haaren angst, wenn ich denk', ich könnt' mein Sohn so blamieren. Ich könnt' mit den plumpen Bauernfüß' stolpern und mit der Haustür in die Stub' 'neinfallen unter all die viele vornehme Leut'. Unsereiner hat sowieso e' Gangwerk wie e kreuzlahme Kuh, ach, und wenn mer auch noch nichts sieht, wenn mer auch noch nichts sieht . . . Ja so für daheimrum da wäre die Auge noch lang gut, aber für nach Darmstadt, für nach Darmstadt – –!«

Hier machte Ebenich einen zweiten schüchternen Versuch, die Sturzwelle weiblicher Beredsamkeit aufzufangen, indem er sagte: »Nun, gute Frau, wir können ja einmal nachsehen. Vielleicht ist dem Übel leichter abzuhelfen, als Sie denken. Manchem Auge schon ist mit einer kleinen Kur geholfen worden.«

»Ja,« fiel Frau Fahrschein dem Arzt ins Wort, »lang aber darf die Kur nicht dauern. Am Mittwoch abend bringt der Schuhmacher meine Stiefel, und am Donnerstag früh vor Tag fahren wir mit dem Kohlnikelsbauern seinem Bernerwägelchen ab, all die 35 Hochzeitsgäst' zusammengepackt in der Weidenzahn. Sie müssen wissen, daß wir über eine Stund' an die Eisenbahn haben.«

»Möglich, daß ich mit meiner Sache noch vor dem Schuster fertig bin,« bemerkte Ebenich und ging nach dem Brillenkasten.

Erst sträubte sich Frau Fahrschein gegen das Aufsetzen der Gläser, weil sie meinte, sie täte dann aussehen wie ein Aktuariatsschreiber, setzte dann aber den Versuchen des Arztes, eine passende Nummer für ihre Augen auszuwählen, keinen weiteren Widerstand entgegen. Sie wurde sogar still während des Manövers und harrte mit ängstlicher Spannung dem Augenblick entgegen, wo das große Wunder sich vollziehen sollte.

Indessen Ebenich nun geschäftsmäßig eine Brille nach der anderen mit ihr durchprobierte, sprang sie mit einem Male hoch, wie einer, der sich auf einen Igel gesetzt hat, hüpfte im Zimmer herum und schrie in einem fort: »Ich seh', ich seh', ich seh' alles, den Bürgermeister und die Lohrebeerebäume und die Stadtweiber all mit den Taftkleidern und mein Aloisel und die Braut im weißen Schleier mit dem Kränzel im Haar. Ja, so ist's recht, daß sie das trägt, damit mer auch sieht, daß es noch Mädel gibt, die Fraue werden könne, ohne vorher Schenkamme gewesen zu sein. Ach Gott! Ach Gott, wenn's nur so bleibt mit meine Auge bis Donnerstags abends. 36 Unsereiner wird doch auch einmal was haben können aus der Welt! Vom Freitag ab will ich ja gerne wieder, blind wie en Maulwurf, mit der Sichel an den Unterflockenbacher Böschungen herumkriechen.«

Ebenich ließ zuerst ihre Freude sich austoben und dann, als er dachte, daß die Gesichtshalluzination allmählich im Verblassen sei, wagte er die Frage: »Ob Frau Fahrschein denn ihre zukünftige Schwiegertochter schon einmal gesehen habe?«

»Gesehen,« sagte sie verwundert, »die brauch' ich nicht gesehen zu haben. Wer die Bäum' kennt, der weiß, was für Äpfel man im Gras um ihren Stamm herum aufheben kann. Da brauch' ich Ihnen nur zu verraten: Ihr Vater ist von Bisterschied, die Mutter stammt von Biebelried, und einen Onkel hat sie in Winterkasten. Damit ist alles gesagt, blank alles gesagt. Wer mehr wissen will, der kann hingehen und sehen, was die Schwiegeralten für sieben Geißen im Stall stehen haben, eine schöner wie die andere. Und den Speck im Rauchfang! Man könnt' ein Regiment Soldaten damit füttern, und wenn sie vom Train wären, sechs Wochen lang, sechs Wochen lang. 's sind Millionärsleut', und das kommt mir zugut. Wisse Sie, was mein Aloisel an seine Mutter geschriebe hat: ›Mutter,‹ hat er geschriebe, ›nun komme auch für Dich bessere Tage. Jetzt heißt's nicht mehr: Heute Nackte, morgen Geringelte und übermorgen Kartoffeln in der Muntur. Jetzt kannst 37 Du Dir zwischenhinein auch einmal einen Hering gönnen.‹

»Und das tu' ich auch, und da drüber wolle mer gleich schon am Donnerstag während der Hochzeit reden. Alle gute Geister, wenn nur die Regimentsmusik nit so laut spielen tät. Unsereiner muß aber auch alle sieben Fehler an sich haben, wie e alte Kaffeemühl'. Nit allein, daß mer scheel ist, nein, halber taub muß mer auch noch sein. Wisse Sie, Herr Doktor, spritze Sie mir die Ohre gleich aus, daß ich die Leut' versteh', was sie zueinander sage. Neugierig ist man ja schon auch ein wenig. Und dann die Red' vom Hochwürdige Herr Dekan, die muß ich höre. Da kommt doch sicher auch von mir was drin vor und vom Fahrschein selig, daß unsereins e bißchen greinen kann. Ach, wie ich mich dadrauf freu'. Sie glaube nit, Herr Doktor, was das für kleine Leut' für eine Wohltat ist, wenn sie so recht aus Herzenslust greinen können. Greinen können, und die anderen müssen zugucken und können nichts weiter tun, als wie die Mäuler aufreißen vom einen Ohr ans andere.«

Während dieser Expektorationen hatte der Arzt sein Handwerkzeug geordnet, die Spritze probiert, an den Gehörgang der Frau Fahrschein angesetzt und mancherlei Unrat ans Tageslicht gefördert, ohne daß die Patientin sich durch diese Manipulationen in ihrem Erzählen unterbrechen ließ. Es sprudelte 38 die Rede nur so aus ihr heraus wie neuer Wein aus dem Spundloch.

Plötzlich aber fuhr sie mit impulsiver Hast nach den Händen des Doktors und hielt sie fest, während aus ihren Augen das Feuer der Ekstase von neuem glühte. So mögen am Tage des großen Gerichtes die Erlösten in ihrer Verzückung aussehen. Die so redegewandte Frau suchte verlegen nach Worten, um verraten zu können, was in ihr vorging. Dann aber schrie es plötzlich aus ihr heraus, das Glück der Erlösten.

»Ich höre, ich hör', ich hör' die Regimentsmusik,« rief sie voller Jubel aus. »Einstweilen vergelt's Gott, Herr Doktor.«

Mit diesen Worten war die Maurerswitwe, hurtig wie ein Wiesel, zur Tür des Sprechzimmers hinausgeschlüpft.

* * *

Doktor Ebenich hatte bald darauf die Frau vergessen. Jede Stunde des ärztlichen Berufes bringt neue Eindrücke. Auch an die große Donnerstagsfeierlichkeit dachte der Medikus nicht mehr, als er in der Abenddämmerung über die Hauptstraße seines Heimatstädtchens schlenderte. Aus beträchtlicher Ferne tönte das plumpe Schlagen von Pferdehufen auf dem Pflaster und das kleinkalibrige Geknatter eines Bernerwägelchens. Auch lachende, jodelnde Menschenstimmen ließen sich hören, und im Lichtkreis einer 39 Straßenlaterne tauchte ein Fuhrwerk auf, überfüllt mit einer stimmungsvoll angeheiterten Bauerngesellschaft. Die Pferde selbst, die den Wagen zogen, schienen da irgendwo mitgefeiert zu haben. Sie wieherten ausgelassen und bissen im Springen einander mutwillig in die wallenden Mähnen.

Der Wagen mit seiner munteren Last hielt, als er auf gleiche Höhe mit Doktor Ebenich gekommen war. Dieser machte große Augen, als er die Darmstädter Hochzeitsgäste vor sich sah. Frau Fahrschein vor allem war nicht zu verkennen. Den Busen über und über mit Papierblumen besteckt, strahlte sie als Hochzeitsmutter aus der Masse heraus. Sie hatte sich erhoben, offenbar in der Absicht, eine Anrede an ihren Leibarzt zu halten. Da taten diesem letzteren die Pferde den Gefallen, mit großer Energie in die Stränge zu springen. Frau Fahrscheins Hinterteil wurde unsanft auf den Ledersitz gestaucht. Die Rede war verloren gegangen. Aber die angetrunkene Gesellschaft hatte noch Zeit gefunden, dem Arzt eine Tüte aus graugrünem Katzenpapier vor die Füße zu werfen. Dann verschlang die Dämmerung das davonjagende Gefährt.

Als Ebenich den Papiersack öffnete, um sein Geschenk zu besehen, fand er neben goldenen und silbernen Bonbonskapseln zwei allerliebste kleine Kunstwerke. Es war ein Feuersalamander aus einer Orangenschale geschnitzt und ein kleiner Mops aus 40 einer Käserinde gefertigt. ›Also auch die Plastik hat zu der pompösen Hochzeitsfeier ihre Vertreter geschickt,‹ dachte der Arzt und war im Innern seines Herzens der Frau Fahrschein dankbar, daß sie in all ihrem Glück seine Dienste nicht ganz vergessen hatte. –

Ein paar Jahre später begegnete dem Herrn Ebenich im Flockenbacher Tal eine blinde Frau, die eine Ziege am Strick hatte und sich von einem kleinen Mädchen nach einem Kleeacker hinführen ließ. Der Doktor redete die Blinde an. Sie erkannte des Helfers Stimme und gab ihm noch immer sehr geschwätzig Aufschluß über das, was die Jahre gebracht hatten.

Der allmächtige Korporal war mit der Regimentskasse durchgegangen. »Er hatte etwas zuviel vom Temperament seines Frankfurtvaters mit auf die Welt gebracht,« versicherte die Maurerswitwe. Die Korporalsgattin, die damals einem Töchterchen das Leben geschenkt hatte, war Schenkamme geworden und im Gewirr der Frankfurter Altstadtgäßchen verschollen. Die blinde Großmutter hatte aus dem Debacle eine Enkelin geerbt, die nun ihr Stab war und ihre Stütze.

»Und die Millionen derer von Biebelried und Bisterschied?« forschte Ebenich neugierig.

»'s waren Heiratsgulden, von denen hunderttausend in ein Batzenkrüglein gehen,« sagte die Alte und schritt mit Enkelkind und Ziege eine kleine Böschung hinauf zum nahen Kleeacker. 41

 


 


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