Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Die Trappenjagd

Doktor Ebenich lebte anno dazumal in der Nähe der Nibelungenstadt auf sagenreichem Boden. Und doch, das Land war so poesielos, wie Runkelrübenfelder und Kartoffeläcker nebeneinander gelegt nur sein können. So war's im Sommer. Nun aber gar erst im Winter. Eine schneebedeckte Ebene, so weit das Auge reichte. Schnurgerade Pappelalleen, mit deren kahlen Gerten der Wind spielte. Das Ganze lichtlos sich herausschälend aus einem bleigrauen Nebel, der aus dem Rohrgeflüster der Altrheinsümpfe emporstieg. Nichts konnte trauriger, öder, schwermütiger sein als das Wandern über diese verlassenen Pfade, die dem Auge so gar nichts Bedeutungsvolles zu bieten hatten. War der stinkende Nebelbrei zuweilen etwas dicker geraten, dann sah man überhaupt nichts und wanderte dahin, als ob man von aller Welt verlassen den Nordpol suchen solle und nicht finden könne.

Im engen Felde eines solchen genau abgezirkelten Nebelkreises bemerkte Herr Ebenich, als er von einem 82 Krankenbesuche nach Hause strebte, eines Vormittags ein ungewohntes, fremdartiges Leben. Auf langen Hälsen hoben und senkten sich schwere, länglich zugespitzte Vogelköpfe, die fast einem Steinschlegel glichen. Auf stämmigen Beinen wiegten sich rostbraun gefiederte Vogelleiber. Hier und da ein flatscherndes Flügelschlagen. Dann wieder ein ruhiges Versenken und Suchen stark gebauter Schnäbel unter der leicht gefrorenen Schneedecke.

›Was könnte das sein?‹ fragte sich Herr Ebenich und fing an, in dem Inventar seiner zoologischen Kenntnisse herumzuwühlen. Strauße hier im Eis und Schnee des fünfzigsten Breitengrades? Nein, das verstieß doch gar zu sehr gegen die Naturgeschichte. Aber gab es nicht in diesem Geschlechte eine kältegewohnte Abart, die sich Trappen nannte und die zuweilen den Nibelungenweg von der Donau bis zum Rheine nahm, oder auch vom hohen Norden zuwanderte? Trappen, ja richtig, Trappen müssen dies sein, so triumphierte Herr Ebenich und brachte seine Beine in forcierte Pendelschwingungen, nicht seinetwegen, o nein. Der Eifer seiner Bemühungen sollte einem ganz anderen zugute kommen.

In dem Kirchdorf über dem Rohrgewoge des Altrheins drüben wohnte sein Kostherr. Dieser war ein zugewanderter Bierbrauer, der sich durch Sparsamkeit und Fleiß zu einem erträglichen Wohlstand emporgearbeitet hatte. Leider stand die Größe seines 83 persönlichen Ansehens noch nicht ganz auf der Höhe seines Sparkassenkredits. Die eingesessenen Feudalbauern estimierten ihn noch nicht ganz für voll, obwohl er bereits seine Familie in einem Landauer auf die Nachbarkirmes fahren konnte. Der Neid über seine Erfolge suchte ihm allerlei anzuhängen, und der Volksmund nannte ihn noch den »Reingeplackten«, als er schon Mitglied der ehrwürdigen Schützengilde geworden war, deren erhabene Jagdtrophäen aus Rebhühnerschwänzen und Hasenpfoten bestanden. Diesem Manne, den er schätzte, wollte Ebenich zu einem ungeahnten Triumphe verhelfen. Er sollte eine Trappe erlegen und damit ein vielbeneidetes Unikum werden unter all diesen Hasenwürgern und Hamsterfängern. Deshalb das Schnaufen seiner hochgetragenen Brust, und deshalb auch die Eilfertigkeit seiner langen Schenkel.

Als Herr Ebenich in die Stube seines Kostherrn trat, saß dieser mit seinen Knechten um den Tisch und löffelte seine Suppe. Der Arzt winkte den Brauer zu sich in den Hausgang, um ihm die wundersame Mär von der Ankunft so fremder Gäste geheimnisvoll unter vier Augen mitzuteilen. Und nun war es interessant, zu beobachten, welcher Stimmungswechsel sich im Gesichte des angehenden Nimrod vollzog. Zuerst erschien ein lächelndes Zweifeln auf der Bildfläche, dann ein überraschtes Erstaunen. Nach diesem aber flammte eine ungezähmte Habgier auf, wie sie in 84 Seeräubergesichter schlägt beim Anblick einer Kauffahrteiflotte. Der Mann war wie umgewandelt. Eine wilde Unruhe war plötzlich über ihn gekommen. Es schien, als ob er sich selber nicht mehr fassen könne, keinen Platz mehr hätte, weder in seiner Haut noch in seinem Haus. Er stürmte los. Er mußte die seltene Kunde im Dorfe verbreiten.

Nach einer Viertelstunde stand die Wirtsstube gestopft voll mit Leuten, die wie zu Bärenjagden mit allerlei Geräten gefährlich ausgerüstet waren. Der arme Doktor bei seinem Mittagsmahl hatte so wenig Ellenbogenfreiheit, daß er kaum sein Fleisch schneiden konnte. Man hatte ihn umringt. Man bestürmte ihn mit Fragen. Man zerrte ihn an seinen Kleidern. Man konnte nicht begreifen, wie er noch sitzen und essen mochte. Man wünschte, daß er mit hungrigem Magen aufstehe und den Führer mache zu den nordischen Zugereisten.

Als er zu dieser Mission zunächst keine Lust zeigte, fielen hämische Bemerkungen, wie: »Er fürchte sich wohl, daß so eine große Gans ihn beißen könne«, oder: »Wenn es sich herausstellen sollte, daß einer sich erlaubt hätte, mit anderen Leuten einen Aprilscherz zu treiben, so werde dieser eine demnächst erfahren, daß man die Ladestöcke zu gebrauchen wisse.«

Die letzte Bemerkung, die dem Doktor ziemlich unverschleiert eine Aufschneiderei in die Schuhe schob und dafür eine Tracht Prügel in Aussicht stellte, 85 rüttelte das Ehrgefühl in ihm wach. Selbst wenn die Trappen abgestrichen sein sollten, so mußten sich deren Fußabdrücke im Schnee finden lassen und mußten für die Wahrhaftigkeit der Berichterstattung reden. Falls man wenigstens die Stelle zeigen konnte, wo sie sich aufgehalten hatten. Herr Ebenich erklärte sich bereit, den Beutezug mitzumachen, und bekam eine Flinte über die Schultern gehängt. Das letztere geschah trotz seines lebhaftesten Protestes und trotz der Versicherung, daß er noch nie ein Tier getötet habe, außer etwa eines solchen, das man zwischen zwei Fingernägeln umbringen könne. Man verstand die Anspielung und wollte sich schier totlachen über die Harmlosigkeit des witzigen Doktors. Aber man zerrte ihn mit. Nun stapfte man los, und alle kamen vom Fleck, trotzdem der Gewehrkolben des Doktors seinem unglücklichen Träger alle Augenblicke recht unsanft zwischen die Schienbeine pendelte.

Beim einsamen Gange über den Knütteldamm des Altrheinsumpfes sammelte ein alter Jagdbrahmine die Jünger des heiligen Hubertus noch einmal um sich. Er gab ihnen umständliche Auseinandersetzungen über die Gepflogenheiten der Watvögel im allgemeinen und der Trappen im besonderen. Schlaue Ratschläge, wie man die Schlauheit der Schlauen überlisten könne, flossen wie Koransprüche belehrend über seine Lippen. Gähnen und Husten waren beim Weidwerk schlimmere Verbrechen als Gotteslästerungen. Nießen war 86 eine Sünde gegen den heiligen Geist alter geheiligter Jagdregeln.

Dem Herrn Ebenich, als dem unerfahrensten der Spießgesellen, wurde von dem Alten auf das nachdrücklichste eingeschärft, daß er sich ja nicht bewegen solle, sich nicht räuspern, sich nicht kratzen müsse und nur im Falle äußerster Notwehr schießen dürfe.

Nachdem noch der ganze Haufe aufmerksam gemacht worden war auf die Gefahr, die dem Jagderfolg und jedem einzelnen Jäger von seiten des ungeübten Doktors drohe, war man über den Knütteldamm hinübergekommen und übersah einigermaßen das flache Kulturland. Der Jagdbrahmine war einige Schritte vorausgegangen und hatte die Watvögel richtig entdeckt. Nun kam er wie eine Tigerkatze gebückt mit vorsichtigen Tritten zurückgeschlichen und stauchte, indem er mit seinen Vorderpranken den Jagdgenossen auf die Schultern schlug, einen jeden auf seine halbe Größe zusammen. Es ging ein geheimes Flüstern durch die Runde, und dann fing man an, die fremden Wandervögel heimtückisch auf allen vieren zu umschleichen. Der Doktor brauchte die Kriecherei nicht mitzumachen. Ihn hatte man hinter einige Pappelbäume versteckt.

»Da sind Sie am sichersten aufgehoben. Da richten Sie keinen Schaden an und werden von den Trappen nicht in den Grund getreten,« hatte der 87 Alte gesagt und war mit gesenkter Nase wie ein Vorstehhund davongeschlichen.

Da stand nun der Medicus plötzlich ganz einsam und äugte hinter einem Weidenstamme hervor nach den geflügelten Gästen des Nordens hinüber. Wo mochten sie herkommen? An welchem Felsenspalt, in welchem Geäst mochte das Nest gehangen haben, dem sie entstiegen waren? Gerne hatten sie die Heimat gewiß nicht verlassen. Sie kamen ja vom Hunger getrieben, und was sie suchten, war doch nur ein wenig Klee unter der gefrorenen Schneedecke. Und nun kam der Mensch, dies gräßlichste aller Raubtiere, und suchte aus ihrer Not seinen Vorteil zu ziehen. Und er umschlich sie und suchte sie niederzuknallen, um mit ihrem Balg zu renommieren oder vielleicht ihr Fleisch auf seinen Tisch zu bringen. Und sie würden nie mehr heimkehren zu Wesen und Dingen, die seither ihre Freude waren. Herr Ebenich wurde weich und machte sich Selbstvorwürfe, weil er es doch am Ende war, der die Vögel diesen aberwitzigen Hohlköpfen vor die Schießprügel geliefert hatte. Er hätte seinen Fehler gutmachen, hätte aufschreien und die Tiere warnen mögen. Doch er war zu feige, um es mit seinen ortsgewaltigen Protektoren zu verderben. Ohnedies schienen glücklicherweise die Trappen auf die drohende Gefahr aufmerksam geworden zu sein. Sie drehten die Hälse, hoben die Köpfe, als ob sie in den Lüften nach irgendeiner Witterung der Gefahr suchten. 88 Dann flatscherte einer oder der andere mit den Flügeln und machte einen Schritt vorwärts mit den starken Beinen in den Schnee hinein.

›Nun werden sie sich gemeinsam in die Lüfte erheben. Wenn sie nur nicht am Ende gar ihren Zug nach deiner Richtung nehmen. Du müßtest ja dann schießen,‹ sagte sich der Doktor und umkrallte trotzdem die Flinte fester.

Aber schon war an der Sache nichts mehr zu ändern. Die Vögel hatten ihre Verfolger eräugt. In Sprungschritten waren sie vorwärtsgestürmt. Mit hüpfenden Bewegungen hatten sie sich in die Luft geworfen, und ihre Flügel hielten sich fest in dem beweglichen Element. Eine bleigraue Federwolke kam drohend näher und wälzte sich rauschend wie Hagelsturm über den Doktor hin.

Und nun geschah etwas, was keiner vermutet hatte. Herr Ebenich, der weichherzige Mann, erhob gleichwohl die Flinte, rührte mit dem Lauf ein wenig in der Luft herum und paff, paff hallte ein Flintenschuß über die zitternden Rohrkolben des Altrheins hin.

Dieses paff, paff hatte wohl den Winterschlaf der Natur gestört; aber sonst war kein Unheil angerichtet. Die Vogelschar segelte wie eine kleine Fischerflotte in den Nebel hinein und war verschwunden. Dafür tauchten andere, weniger friedliche Gestalten auf. Wie Abruzzenräuber – jeder ein halber 89 Fra Diavolo – kamen die Weidgenossen angerückt. Über das Giftgrün ihrer Jacken hatte sich ein verärgertes Gallengrün in ihre Gesichter gelagert. Sie waren nicht in rosiger Laune, das war klar ersichtlich und deutlich hörbar. Ein Millionendonnerwetter aus einem der Mäuler weckte den Widerhall in einem ganzen Dutzend. In das dumpfgrollende Donnern mischten sich aber auch deutlichere Laute: »So ein Erbärmel,« hatte Doktor Ebenich sagen hören, und er ahnte, wer gemeint sein konnte.

»Wer hat nur das Käsegesicht mitgehen heißen?« fragte ein magerer Wilddieb, und »wer hat diesem Bärenkerl aus Baumwollbiber, den ein fauchender Gänserich über den ganzen Marktplatz vor sich herjagen kann, eine Flinte in die Hand gegeben?«

»Einen Heuwagen voll Federvieh über sich und nichts zu treffen!« – –

»Wenn er nur wenigstens einen Luftsprung riskiert hätte! Mit den Händen hätte er ein halbes Dutzend Trappen herunterlangen können!«

»Da solle einer sagen, daß Tiere keinen Verstand hätten. Wie wären sie sonst imstande gewesen, sich von der großen Gesellschaft den dümmsten herauszusuchen, um ungefährdet über ihn wegzusegeln.« So gingen die Redensarten zu Ebenichs Verdruß herüber und hinüber.

Wer nicht Witz genug hatte zum Schimpfen, fluchte derweilen ruhig weiter und stampfte den Schnee 90 aus den Ledergamaschen heraus, indem er die Wegrichtung nahm nach dem Dorfe zu.

Man kam, in Nebel und verdrossenes Schweigen gehüllt, vor den ersten Häusern an. Da ging die Tür einer Schnapskneipe auf, und einige Kleinbürger im Schurzfell traten auf die Steintreppe. »Sollen wir einen Heuwagen über den Altrhein schicken oder werden die Trappen mit der persischen Kamelpost ins Dorf befördert?« so fing einer der Frühschöppler zu hänseln an.

Ein anderer meinte: »Sie haben das Federvieh gleich aufgefressen. Guck' nur, dort schaut ja einem ein Vogelschwanz hoch über das Hutband heraus.«

Unter den Spießruten derartiger Bemerkungen fiel den Weidmännern das tapfere Herz in die Hosen. Sie wurden klein und wären gerne in Mäuselöcher hineingeschlüpft. Manch einer erinnerte sich plötzlich, daß da in der Nähe herum ein alter Vetter von ihm wohne. Er stahl sich durchs Hoftor ins Haus hinein und versteckte seinen Schießprügel in den Uhrkasten.

»Man hätte jetzt keine Zeit, das Ding da mitzunehmen. Es würde am Abend abgeholt, und auch die Jagdtasche und das Pulverhorn konnten ja wohl so lange bei dem Vetter bleiben,« so gingen die verlegenen Redensarten.

Der Argonantenzug löste sich auf. Die Herren hatten sich der Waffen entledigt. Einzig nur der Doktor, der nirgends einen Vetter wohnen hatte, 91 schleppte seinen halbverrosteten Vorderlader über das Pflaster hin nach seinem Kosthaus.

Im Zimmer angekommen, traf er seinen Hausherrn unbegreiflicherweise schon in den Pantoffeln an. Der Biedere tat dem Doktor und auch seinen Gästen gegenüber so, als ob er den lieben langen Vormittag auf seinem Bureau gesessen hätte und von dem Abenteuer gar nichts wüßte. Er wollte nur von einem Jagdkollegen im Vorübergehen gehört haben, daß Herr Ebenich vorbeigeschossen, aber möglicherweise doch eine Trappe getroffen habe. Denn einer der Vögel wäre im Davonfliegen hinter der Schar der anderen auffallend zurückgeblieben. Wäre das Tier auch nur leicht geflügelt, dann komme es wohl schwerlich über den Rhein. Es werde wohl in der Gemarkungsgrenze aufgefunden werden, und sein Kostgänger werde dann mehr Neider haben, als er jetzt Widersacher und schadenfrohe Spötter besitze, fügte er tröstend bei.

Das Wort »geflügelt« tat dem Doktor wehe. Er sah, wie der arme Vogel, von seinen Genossen verlassen, einsam in den vereisten Feldern herumhumpelte. Wie er seinen lahmen Flügel als Stelze benutzte auf dem Eis der Tümpel. Wie er zu gehen, zu fliegen versuchte und doch nicht von der Stelle kam. Wie ihn die Angst vor den Füchsen quälte, und wie der Hunger ihn matter und matter werden ließ, bis er endlich den stolzen Hals zur Erde beugte und auf 92 den Tod wartete, der seiner weiten Wanderfahrt ein Ziel setzte. Doktor Ebenich kam sich wie ein Judas vor. Er verwünschte den Augenblick, wo er die harmlosen Zaungäste seinem Kostgeber verraten hatte, und noch mehr jenen, wo er den Finger an den Drücker gelegt hatte, um die Schrotkörner hinauszuschießen auf arme Tiere, die einmal nur, ach nur ein einziges Mal versucht hatten, ihren Hunger auf den übereisten Feldern der Rheinebene zu stillen.

Um seinen Selbstvorwürfen zu entfliehen, ging er auf sein Zimmer, warf einen dicken Holzklotz ins Feuer und steckte den Kopf in seine Bücher.

Die Ofenwärme und späterhin der freundliche Lampenschein hüllten den Doktor in eine weiche Atmosphäre der Gemütlichkeit ein. Er steckte sich eine Pfeife an und blies blaue Ringe in die Zimmerluft hinein. Der Samowar sang neben ihm auf dem Tisch und prophezeite einen kräftigen Abendtee. Jagdabenteuer und Trappennot waren vergessen. In vorgerückterer Stunde allerdings störte ihn ein zudringliches Stimmengewirr, das überlaut aus der Schankstube heraus an sein Ohr drang. Er hörte ab und zu seinen Namen nennen. Was hatten sie nur wieder, diese dreigedrehten Manschettenbauern? Kauten sie immer noch an dem Knochen des verunglückten Beutezuges? – – Er mochte es nicht ergründen. Alles Bauerngetue war ihm verhaßt. Er blies die Lampe aus und ging zu Bett.

93 In der Morgenfrische des anderen Tages wanderte der Arzt nach der nächsten Bahnstation, nahm ein Billett und ließ sich nach der benachbarten Großstadt fahren. Das Herumflanieren in den lebhaften Straßen, das Einkehren in den besseren Restaurants, das Essen und Trinken von feingedeckten Tischen herunter bedeutete für ihn ein Jungbad, in dem er viel Rustikales, das die Maurerkelle des Alltaglebens an ihn geworfen hatte, für einige Zeit wenigstens wieder von sich herunterschwemmte. Traf er gar einen alten Bekannten, so verlor er sich mit ihm in ein Gespräch über vergangene Tage, vergaß sich selber und die Zeit und dachte zumeist erst spät und ein wenig angeheitert an die Heimkehr.

So war es auch heute gewesen. Ein voller, klarer Sternenhimmel überspannte das Dorf mitsamt seinem Glockenturme, als Doktor Ebenich seinem Kosthaus erleichtert entgegenschritt. Wilde, überlaute Gesänge trafen an der Türschwelle sein Ohr, während seine Nase sich von einem süßen Bratendunst umschmeichelt fühlte. Trotzdem trat er nicht in die Gaststube, sondern schlich sich auf der Hintertreppe zu seinem Zimmer empor. Er wollte allein sein. Er war noch von seinem Ausflug her zu sehr urbaner Kulturträger, als daß er sich schon wieder unter die Bauern hätte mischen können.

Doch wer entrinnt seinem Schicksal? Eben bückte sich der Doktor, um den stets wanderlustigen 94 Stiefelzieher unter dem Bett hervorzuholen, als ein schüchterner Finger zaghaft an die Stubentüre pochte.

»Herein,« rief Ebenich und schaute, als er sich umdrehte, seinem Kostherrn ins Gesicht.

»Sie werden doch nicht gekränkt sein über das, was der vorgestrige Tag Ihnen Übles brachte« – sagte der Eindringling ein wenig verlegen – »die Leute sind hier herum aus hahnebüchenem Holz geschnitzt und, rein äußerlich genommen, etwas roh. Ich selber habe mich als Ortsfremder an sie gewöhnen müssen. Aber die Bauern hier meinen es nicht so schlimm, wie sie's sagen. Wen sie heute einen Lumpenhund heißen, dem bieten sie morgen die Gevatterschaft an. Geht ihnen also nicht aus dem Wege, heult mit den Wölfen, kommt herab, und der heutige Abend wird gut machen, was der ehegestrige Tag verdorben hat.«

Als Doktor Ebenich noch immer keine Lust zeigte, mitzugehen, fuhr der Versucher fort: »Ihr müßt wissen, daß man Euch eine Genugtuung schuldig ist und sie geben will. Denkt nur, während Ihr weg wart, kam der Wächter des Rheindammes und brachte eine Trappe. Es ist Euer Trappe, wenn er auch nicht als solcher ins Grundbuch eingetragen ist. Er ist von Eurer Flinte getötet und Ihr habt über seine Verwendung zu verfügen. Da er aber dreiundzwanzig Pfund wiegt, so haben wir gedacht, Ihr werdet ihn nicht allein verzehren können und haben für Helfer in der Not gesorgt. Euere Jagdbeute ist zu einem 95 Jagdessen hergerichtet worden. Kommt herab und eßt mit! Die Kochkathrin behauptet, seit der Hochzeit zu Kanaan sei niemals mehr ein zärteres Fleisch in irgendeiner Pfanne gar geworden.«

Der Doktor fühlte trotz aller Großstadtschlemmerei noch so einen leisen Hunger in der Magengrube und war deshalb nicht allzuschwer zu verführen. Er stieg in die Schankstube hinab und wurde mit einem vielstimmigen »Weidmannsheil« in Empfang genommen. Man setzte ihn auf einen Stuhl und trug ihn wie einen römischen Triumphator im Zimmer herum. Er stieß den Kopf an den Durchzugbalken an und wäre schier in die große Suppenschüssel gefallen, in der soeben das Trappenragout serviert wurde. Diese bedenkliche Möglichkeit dämpfte den Enthusiasmus der begeisterten Hurraschreier. Man wollte dem Helden des Tages nicht die Festhosen entweihen und vor allem, man wollte sich selber nicht um den so seltenen Genuß eines Trappenschmauses bringen. Man stellte also gemächlich den Sessel zur Erde.

Bald saß alles, schweigsam essend, um den Tisch. Man hörte nur das Krachen zerbissener Vogelknochen und zuweilen das begehrliche Winseln der Jagdhunde, die sich zwischen den Rohrstühlen der Schmausenden herumtrieben und auf ein Übrigbleibsel hofften. Daß sie nicht auf ihre Rechnung kamen, daran waren mancherlei Ursachen schuld. Zu vernichtend wütete der Heißhunger ihrer Herren. Auch hatte im Augenblick 96 niemand Zeit, an diese armen Schlucker zu denken. Denn gerade hatte sich der gesättigte Dorfschulmeister erhoben und hielt eine Rede darüber, daß das Unzulängliche Ereignis geworden, und daß das Unbeschreibliche glücklich getan sei. Seit Siegfrieds Tagen zum ersten Male wieder sei, was niemand erwarten und keiner erhoffen konnte, eingetreten. Es sei durch den hochzuverehrenden Gemeindedoktor ein Tier zur Strecke gebracht und nun glücklich verzehrt worden, wie man es sich nur mit Hilfe von der Vorzeit grauen Lügen an die Wand zu malen getraut habe. Ein Held, dem diese hehre Tat gelungen, verdiene, daß man ihn wie Sankt Georg, den Drachenspießer, aus Blech ausschneide und an einem langen Arme über die Wirtshaustüren hänge. Und nicht nur das, auch Dichter sollten sich für ihn begeistern. Und das sei Tatsache, daß dem Ehre gehöre, wem Ehre gebührt, und er fordere deshalb die Anwesenden auf . . .

»Die Trappe wieder herauszugeben,« rief plötzlich die Stimme eines Unbefugten, den niemand zu dem Mahle gebeten hatte.

Man reckte unwillkürlich die Hälse. Man wendete die indignierten Gesichter der Türe zu. Was war das? Stand da nicht frech und patzig in voller Uniform der windschiefe Polizeidiener von Drecklingshofen? Ja, und was wollte der Tropf? Er kam im Auftrage seines Bürgermeisters, um allen Ernstes den eben aufgegessenen Watvogel zurückzufordern. Selbiger 97 sei auf Drecklingshofer Gemarkung von dem Bürgermeister eigenhändig geschossen worden. Dafür könnten glaubhafte Zeugen herbeigebracht werden in der Person des Taglöhners Ofenloch und des Korbflechters Ohnehenk.

Na, so was – – So was war doch unerhört! – – Wäre der Polizeidiener eine halbe Stunde früher gekommen, er wäre bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen und in den Schornstein gehängt worden. Jetzt aber, wo man satt war, brauchte man nicht gar so barbarisch mit ihm umzugehen. Man begnügte sich damit, dem Hüter der öffentlichen Ordnung die Geflügelsauce in die Uniformtaschen zu leeren, und füllte ihm die Dienstmütze zum Ärger und Nachteil der Jagdhunde mit den übriggebliebenen Knochen.

Nachdem man ihn derartig ausstaffiert hatte, beförderte man ihn ohne Rücksicht auf seine Uniform und seinen amtlichen Charakter pietätlos mit einigen Fußtritten in die kalte Winterluft hinaus.

Nach diesem Akt kurpfälzischer Höflichkeit, der den Bauernjägern gut zu Gesicht stand, begann eine wüste Orgie der Trinkerei. Die Leute rückten einander näher mit den Schoppengläsern, stießen an, trieben sich die dickfilzigen Hubertusmützen in die Köpfe hinein und sangen das tausendstrophige Lied vom »Jäger aus Kurpfalz«.

Späterhin kamen Stichelreden auf den Doktor und sein Weidmannsglück, von Schimpfereien und 98 Drohungen gegen den Bürgermeister von Drecklingshofen durchschossen, an die Reihe. Als man in einem späteren Stadium der weihevollen Stunde anfing, sich gegenseitig mit abgetretenen Stuhlbeinen zu widerlegen, ging Doktor Ebenich nach seiner Kammer und legte sich mit schwerem Kopf ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte er einen Brummschädel, Beulen hinter den Ohren, und die Überzeugung erlangt, daß es eine gefährliche Sache sei, auch nur für einige Stunden den vergötterten Heros der Volksseele vorstellen zu müssen.

Acht Tage später erbleichte Herr Ebenich vor einem Strafmandat von dreißig Mark, das auf seinem Schreibtisch lag. Unbefugtes Ausüben des Weidgewerbes erscheischte diese Buße. Andere Jagdteilnehmer wurden von ähnlichen Forderungszetteln mit ähnlicher Motivierung heimgesucht. Das war die Rache des Bürgermeisters von Drecklingshofen und zugleich das Ende von des Doktors Weidmannsruhm und Weidmannserlebnissen. 99

 


 


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