Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Heppendäpp der Wickler

Tobias Hebenstädt«, als solcher war er an einem Quatemberfasttage auf die Welt gekommen, und als solcher war er feierlich ins Taufprotokoll eingetragen worden. Nach einem Jahre, als er zu kodern anfing, änderte er eigenmächtig den altehrwürdigen Familiennamen um und nannte sich, so oft man ihn auch fragen mochte, wie er heiße, immer nur Heppendäpp. Es stellte sich an diesem Zeitpunkte heraus, daß ihm die Zunge etwas überzwerch in den Mund gewachsen und daß er ein kleiner Stotterer war. Die Leute akzeptierten die neue Namensform, und der Knabe Hebenstädt hieß noch immer Heppendäpp, als sich sein Sprachfehler längst verloren hatte, und er schon ein hochangesehener Lumpensammler war, der sein Geschäft mit einem komfortablen Leiterwägelchen und zwei Vollbluthunden vom edelsten Proletarierstamme betrieb.

Leider war das Stottern nicht das einzige, was man an Hebenstädt auszusetzen hatte. Ihm waren nämlich auch die Füße verdreht an die Beine 131 geschraubt, so daß sie sich beim Laufen kampfbereit gegeneinanderstellten, wie Schulze und Müller im Kladderadatsch. Doch sie taten einander nichts. Sie blieben nur zuweilen, wenn's pressierte, zärtlich aneinander hängen und brachten dann ihren Inhaber, als er noch Anfänger war in der Kunst des Gehens, zu Fall, unbesorgt darum, ob Dreckpfützen in der Nähe waren oder nicht. Als der Knabe aber gelernt hatte, seine Untertanen zu regieren, ließ er sie im Springen mit vieler Gewandtheit wie Doppelsterne umeinanderkreisen. Seine verehrlichen Mitbürger, denen dieses der Astronomie entliehene Bild etwas ferne lag, griffen nach näherliegenden Vergleichsobjekten und behaupteten prosaisch genug, der Heppendäpp wickele Garn. Und so hieß er auch zuweilen im Volksmund »Heppendäpp der Wickler«.

Gegen diese Spitznamen wehrte sich der Kleine während seiner Schulzeit oft mit verzweifelter Energie, wobei ihm seine Klumpfüße gute Dienste leisteten. Mancher seiner Kameraden, der ihn einen Wickler genannt hatte, lief wochenlang mit blauen Flecken herum, als ob er wie ein Briefkuvert auf einem Postbureau abgestempelt worden wäre. Gleichwohl war das nur das Werk von Hebenstädts Füßen.

Doch diese Gewaltmaßregeln halfen wenig gegen das Vorurteil der Landsleute. Wer stärker war als Tobias, nannte ihn ins Gesicht hinein einen Heppendäpp, und die Schwächeren taten's hinter seinem 132 Rücken. Der Fluch der Lächerlichkeit war nun einmal mit ihm verwachsen, und er mußte ihn wohl oder übel tragen.

Als Hebenstädt ein Mann geworden war, versuchte er es, von den Disteln Feigen zu pflücken. Er gründete einen Lumpenhandel, ließ sich von den Bauernweibern hänseln, »Wickler« und »Heppendäpp« nennen und hängte ihnen die alten Kleider ihrer Ehemänner ab gegen mißratene Kaffeetassen und verbogene Blechlöffel, die er als zurückgesetzte Ware billig erstanden hatte. Er gönnte den Leuten schon einmal einen kleinen Scherz mit seiner mißlungenen Persönlichkeit, wenn für seinen Geldbeutel etwas dabei heraussprang. Gab es doch noch andere Dinge, mit denen er sich gegen Dreistigkeiten wehren konnte. Seine Faust war nicht weniger berühmt als Götzens eiserne Hand, und seine Klumpfüße waren der bleibende Schrecken derer, die jemals von ihm niedergerungen auf der Erde gelegen hatten.

Auch wußte er äußere Umstände geschickt zu benutzen, um ein geheimnisvolles Gruseln um seinen Mut und seine Stärke zu verbreiten.

Er hatte an der Kirchhofsmauer ein einsames Häuschen billig erstanden, in dem eine Kartenschlägerin von einem Heiratsvermittler erdrosselt worden war. Furchtsame Leute – und wer wäre nicht furchtsam – mieden das Anwesen, und bei Tag und Nacht machten sie einen Umweg drum herum. Die 133 fromme Scheu kam unserem Einsiedler zugute. Er konnte jagen ohne Jagdpaß und fischen ohne Fischpacht vom Abendrot bis zum Morgengrauen. Gestohlenes Gut wäre im Vatikan nicht sicherer aufgehoben gewesen vor den Späherblicken der Polizei als im Hause Hebenstädt.

Respekt also und Grauen verhalfen dem Wickler zu einem behaglichen Dasein und nach und nach auch zu Ehrenstellen. Er war Totengräber geworden und Leichenschauer, und versah beide Ämter mit Liebe und Schwärmerei.

Hatte man irgendein entgleistes Menschenkind mit durchschossenem Schädel unter irgendeiner Hecke gefunden oder hatte der Rhein ein Pärchen angeschwemmt, das Romeo und Julien auf nassen Pfaden gefolgt war, dann war es der Heppendäpp, der ihnen das Bett zur langen Ruhe bereitete. Man sah ihn des Abends, wenn das Lumpengeschäft geschlossen war, mit einem Spaten über der Schulter nach dem Kirchhof eilen. Stand der Mond am Himmel, so ließ er sich von dem leuchten, streikte der aber, so trug er den rotglühenden Rüböldocht einer Laterne vor sich her. Er stieß die nie verschlossene Pforte des Leichenhauses zurück. Er konnte, ohne daß es sein Trommelfell zerriß, die von der Gittertür gequetschten Rheinkiesel schreien hören. Er bekam keine Gänsehaut, wenn die aufgescheuchten Speckmäuse auf ihrer Flucht ihm um die Ohren flatscherten. Ruhig 134 holte er seinen Meterstab hervor, nahm an den Leichen das Maß und fing dann im Freien an, das Grab zu schaufeln. Wenn er bei Kasse war und sich ein Pfeifchen Tabak während der Arbeit leisten konnte, dann kam er sich trotz seines traurigen Metiers glücklich vor und reich wie ein König. Wenn nur der Tag und die Lebenden nichts von ihm forderten. Mit der Nacht und den Toten kam er zurecht.

Man wird mir jetzt glauben, wenn ich sage, daß der Wickler trotz seiner Mängel ein ganzer Mann war. Keiner von denen, die man mit den Feueraugen eines hohlen Kürbiskopfes durch Weißdornhecken hetzen kann. Und doch – und doch. – Eine schöne, oder vielmehr häßliche Winternacht ließ ihn vor einem Nichts erzittern und vernichtete eine Lebensstellung, die auf dem persönlichsten Mut aufgebaut war. Hört die Geschichte des Ärmsten und weint über sein Schicksal, wenn ihr nicht darüber lachen könnt.

Kalt und dunkel war die Winternacht. Tobias Hebenstädt war eben vom Kirchhof nach Hause gekommen. Er hatte seine Laterne ausgelöscht, sich ins Nest gelegt und zog die Bettdecke bis zur Nase herauf. Bevor er einschlief, dachte er ein wenig über das Werk des abgelaufenen Tages nach. ›Hundertundsiebzig Zentimeter war sie lang. Für den Sarg kamen an Kopf und Fußende je fünf Zentimeter in Anrechnung, macht einhundertundachtzig. Das stimmte. So groß hatte er auch das Grab gemacht, da konnte 135 man sie morgen hineinlegen und zuschaufeln, und sie war weggewischt aus dem Antlitz der Mutter Erde. Aber war sie es auch in seiner Erinnerung? Nein, ihr Bild wird ihn noch lange quälen, das wußte er. Selten hatte er eine so häßliche Leiche gesehen. Das Gesicht mager, die vorstehende Zunge hart, die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirne in Falten gelegt. Zu dem allem noch eine große haarige Warze am rechten Nasenflügel. Gewiß, die Menschheit wird sich nicht nach der Toten sehnen und sie vom Mutterschoß der Erde zurückfordern. Hätte der Fluß sie doch lieber gleich ganz behalten. Was brauchte er sie noch einmal hier auszustoßen, daß die Leichenträger an ihr das Gruseln lernen konnten? Doch was konnte das ihn anfechten, ihn, den Tobias Hebenstädt? Bis wieder einmal die Rathausglocke die Zeit des Mittagessens verkündete, war die Ertrunkene eingescharrt, zu ihrer Rechten ein Kornwucherer, zur Linken ein Kaffeebohnenspekulant, alles Leute, die zu ihrer letzten Reise die Wasser des Rheines benutzt hatten. Was wird Petrus sagen, wenn sie miteinander angerückt kommen vors Himmelstor?‹

Poch, poch machte es mit einem Male da draußen. Und abermals poch, poch. Der Heppendäpp fuhr auf und kratzte sich den kurzgeschorenen Schädel. Abermals poch, poch.

›Was zum Teufel,‹ sprach er zu sich selber, ›sollten sie angerückt kommen, meine Namenlosen von da 136 draußen? Durchgebrannte Kassierer, Engelmacherinnen, Malzjuden und Hopfenchristen! – – Potz Höllendonner, dann sind sie letz. Meine Haustür ist doch nicht die Himmelspforte, ich nicht Sankt Peter mit dem Schlüsselbund!‹

›Feuerteufel und Wasserteufel, und schon wieder poch, poch geht es wie mit Holzschlegeln wider meinen Fensterladen.‹

Unserm Tobias war es unterdessen zum Bewußtsein gekommen, daß er nun wieder vollständig wach, und daß das poch, poch da draußen nicht geträumt sei, sondern eine sehr reale Ursache haben müsse.

»Nur einstweilen Wasser tragen, wenn der Rhein brennt,« schrie er, »gleich, gleich! Ich will nur erst mein Rasiermesser schleifen, um den Roßdieben den Hals abzuschneiden, wenn solche ins Dorf eingebrochen sind.«

Unter diesen Worten hatte Tobias die Decke zurückgeworfen und beförderte mit elegantem Schwunge seine Bügeleisenfüße auf die Diele. Er stieß den Laden auf, lehnte den Oberkörper zum Fenster hinaus und strengte aufs äußerste seine Augen an, um einen ausfindig zu machen, den er doch da draußen fortwährend mit bebender Stimme flehen hörte:

»Heppendäpp, ich wollte sagen, Herr Hebenstädt, um aller heiligen Nothelfer willen tut mir den Gefallen und bringt mich heim. Fühlt Ihr nicht, wie ich zittere? Merkt Ihr nicht, wie der Boden wackelt, 137 auf dem Euer Häuschen steht? Hört doch, wie der Wind heult und die Pappelallee schüttelt, daß die Äste nur so herunterfliegen! Ihr kennt mich doch? Kennt den Lehrer Liebetraut. So hört denn: Als ich eben auf dem Heimweg war, ging ein Prasseln nieder, als ob es Pflastersteine regnete. Ja, und denkt nur. Irgend etwas fuhr wider mein Bein, daß mir der Oberschenkel in der Pfanne knackste, daß ich keinen Schritt mehr gehen kann, nicht um eine Million, nicht um Frankfurt und Sachsenhausen zusammengenommen. Habt Erbarmen mit mir und macht Euch ein Bild von Weib und Kind zu Hause, – wie sie im Bette sitzen – wie sie auf den Mann und Vater warten – wie sie dem Horn des Wächters von Stunde zu Stunde lauschen – wie sie jeden Tritt, der auf dem Pflaster klingt, als den meinen erkennen – und wie sie enttäuscht sind, wenn der Drücker an der Türklinke ruhig bleibt. 's ist zu schrecklich, zu schrecklich, wenn ich denken muß, wie sie leiden werden. Seht, Wickler, verzeiht, ich wollte sagen, Herr Hebenstädt. Verzeiht und bedenkt, daß Ihr der einzige seid, der all' dem Jammer abhelfen kann. Der Himmel hat Euch Gelegenheit geboten, Euch einen Gotteslohn zu verdienen. Weist seine Gnade nicht von Euch. Bezwingt Euer Herz. Er hat Euch zwei Hunde geschenkt mit flinken Beinen. Diesen Renntieren ist es eine Kleinigkeit, einen Halbtoten in sein häusliches Lager zu bringen. Ach, ich glaube, daß ich 138 die Nacht nicht überlebe. Mit Mühe nur, daß ich mich aufrechthalte. Seid barmherzig, damit Euch Barmherzigkeit werde. Überlegt nebenbei ein klein wenig, welches Opfer ich selber bringe, indem ich in jeder Woche, die im Kalender steht, zweimal von Trippsdrill nach Rapperschwül laufe, einzig nur um Gott die Ehre zu geben und den gemischten Chor zu leiten, von dessen Vorzüglichkeit Ihr Euch überzeugen könnt, so oft eine Kirchenvisitation stattfindet oder ein Kriegsveteran begraben wird.«

Tobias Hebenstädt, der in dem Bittsteller da draußen längst den Lehrer von Rapperschwül erkannt hatte, war kein Unmensch, obwohl er nicht für weichherzig gelten wollte. Er öffnete die Tür seines verrufenen Häuschens und ließ den hinkenden Gast herein.

Wie der Mann doch sein Mitleid erregte. Er war so weiß wie ein Hochzeitshemd und zitterte wie ein Mohnkopf auf seinem Stengel. Da mochte Hebenstädt schon gar nicht an die Hunde denken, und ob die nächtliche Fahrt ihnen genehm wäre oder nicht. Der Lehrer Liebetraut konnte sein krankes Bein unmöglich mit dem gesunden heimschleppen. Da half alles nichts. Die Hunde mußten vor den Wagen, auf dem der Verunglückte in möglichst bequemer Lage einstweilen verstaut wurde. Tobias setzte die Pelzmütze auf, zog die Ohrenklappen herunter, und fort ging es in die Nacht hinaus, Herr Liebetraut auf dem Hundewagen, der Wickler mit seinen Klumpfüßen nebenher.

139 Anfangs hörte man außer dem Pfeifen des Windes noch das Schnaufen der Hunde und das ängstliche Seufzen und Stöhnen des Lehrers. Je mehr man sich aber dem Dorfe Rapperschwül näherte, um so weniger jammerte der letztere, obwohl doch der Wagen in der schlecht gepflasterten Gasse erbärmlich schlug und dieses Schlagen eigentlich seine Schmerzen vermehren mußte. Plötzlich schien er von allem Jammer erlöst zu sein und fing sogar an, redselig zu werden. Er sprach von Nichtigkeiten und machte seinem Fuhrmann von dem Abendbrot, das ihn zu Hause erwarte, eine appetitliche Beschreibung, während eben das Hundefuhrwerk am Marktplatz angekommen war.

Man sah am Schulhausfenster hinterm Tüllvorhänglein ein mattes Licht. Tobias steuerte die Tiere darauf los und streckte sich nach Möglichkeit, um mit den Fingerknöcheln an die Scheibe zu klopfen.

»Ihr werdet doch nicht?« wehrte Herr Liebetraut. »Wenn die Weiber einmal die ersten Jahre der Liebe hinter sich haben, machen sie kein fröhliches Gesicht, wenn der Mann spät heimkommt und sie aus dem Schlafe klopft. Ich bin außerdem sicher, daß ich mir allein ins Haus und Bett helfen kann.«

Bei diesen Worten stieg er mit der Fixigkeit eines Dorfbarbiers aus dem Wagen und eilte in Sprungschritten die Schulhaustreppe hinauf.

Tobias sah ihm mit großen Augen nach. ›Daß 140 dich der Affe mit einer Mistgabel frisierte,‹ sprach er zu sich selber, ›stellt sich das Schulmeisterlein halbtot wie ein frierender Maikäfer, und nun, wo es sein warmes Bett merkt, krabbelt es davon, als ob es vierzehn Beine hätte. Spielt das Herrlein mit dir Komödie, Tobias? Dann warst du doch ein rechtes Hornvieh, daß du dich von solch einem Süßschwätzer an dem Zwirnsfaden einer Lüge durch das verschneite Feld ziehen ließest!‹

Hebenstädt überlegte: ›Was fang' ich nun an, um meinen Ärger zu erwürgen? Ich will hinter ihm her und sehen, ob ich nicht wenigstens eine Flasche Wein aus ihm heraushebern kann. Ich will ihm das Abendessen vor dem Munde wegschnappen. Ich will ihm mit seiner Frau Hörner aufsetzen und so seinen Nachkommen meine Klumpfüße vererben. Das will ich, ja das will ich dieser giftigen Kreatur antun.‹

Unter derlei Gedanken war Tobias die Treppe hinaufgestiegen und ins Zimmer getreten. Die Lampe auf dem Tisch warf einen roten Schein über den rotgeblümten Kattunüberzug eines hochlehnigen Sofas, und von dieser roten Folie hob sich geisterhaft ab das wachsbleiche Gesicht des Dorfschulmeisters. Tobias korrigierte beim Eintritt ins Zimmer seine seitherige Auffassung dahin:›Nein, hier liegt eine Täuschung nicht vor. Irgend etwas Grausiges muß vorgegangen sein, was dies Gesicht derart entstellen konnte. Sollte 141 Liebetraut einem Rudel Wölfe begegnet sein? Das war doch gleichfalls nicht wahrscheinlich.

Tobias gedachte zuzuwarten, bis der bleiche Schulmeister eine Erklärung geben werde, und damit ihm die Zeit nicht zu lange werde, entkorkte er die Weinflasche, zog einen Teller voll Wurst an sich heran und guckte den Hausherrn mit Augen an, die deutlich genug die Frage verkündeten: ›Was wirst denn nun du essen und deine Kinder, wenn der Wurstteller fünf Minuten auf meinem Platze verbleibt?‹

Statt zu wehren, nickte der Lehrer dem Esser ermunternd zu. Auch das bewies, daß er zurzeit keinen Futterneid kannte, also gemütskrank, zum mindesten aber nicht normal gestimmt war.

Tobias aß, während Herr Liebetraut für ihn stellvertretend zu schnaufen schien, und es verschwand die Wurst so schnell fast, als ob sie in einen Löwenrachen gefallen wäre. Da der Lehrer immer noch nicht redete, erhob sich Tobias und schaute durch die Scheiben nachdenklich nach dem Himmel hinauf.

»Ihr wollt fort,« so brach der Hausherr jetzt das bange Schweigen, »nehmt noch ein Weilchen Platz. Ich bin Eurer Gutmütigkeit nebst meinem Dank noch eine Erklärung schuldig, bevor Ihr geht. So wißt denn zunächst, daß das nicht wahr ist, was ich Euch von dem Windbruch da vorgemacht habe. Das Unglück, das mir zustieß, kam nicht aus den 142 kahlen Pappelreisern. Es war überhaupt nicht von dieser Welt.«

»So werdet Ihr über einen odenwälder Besenbinder gestolpert sein, denn die sind ja bekanntlich hinterm Mond daheim.«

»Scherzt nicht,« sagte der Lehrer in verweisendem Ton. »Wer das gesehen hat, was mir heute nacht vor die Augen kam, der erschrickt auch nicht mehr, wenn eines Nachts zwei Monde am Himmel stehn.«

»Wenn die doch einmal kommen sollen, so wollte ich, sie täten's heute nacht. Das Öl in meiner Laterne ist knapp. Ich werde mich während der Heimfahrt auf meine vier Hundeaugen verlassen müssen, wenn ich alles heimbringen will, was ich mein eigen nenne.«

»Wenn dazu auch Euer Verstand gehört,« sagte der Lehrer, »so würdet Ihr am besten hier bleiben, den könnt Ihr verlieren und wißt weder wann noch wie. Hört zu, was ich Euch zu sagen habe.«

Tobias, der es nicht leiden mochte, wenn seine Hände unbeschäftigt waren, schlug derweilen Feuer, um sein Pfeifengeschirr in Gang zu bringen, während der andere fortfuhr:

»Ich brauch' Euch nicht zu sagen, daß der Weg von Trippsdrill nach Rapperschwül am Kirchhof vorüberführt. Ihr kennt da doch jeden Kilometerstein. Dies Gebiet ist sozusagen Euer Alimentfeld, in das Ihr Dinge säet, die allerdings auf dieser Erde nicht 143 mehr aufgehen sollten. Und doch – ich versichere Euch das bei meiner Seele Seligkeit – hat heute nacht einer von Euren Logiergästen sein Bett verlassen. Ihr müßt wissen, die Uhr vom Kirchturm zu Trippsdrill schlug eben zwölf. In der alten Linde, die dort steht, wo der Pfad zum Friedhof von der Straße abbiegt, war ein Käuzchen wach geworden und schrie Euch wie ein neugeborenes Kind. Die Nacht war schwarz, so schwarz und dick, daß man aus ihr Mäntel für Leichenträger hätte schneiden können. Ich sah nichts. Nicht die hohlen Weidenstämme rechts und links vom Wege, nicht die Hand vor meinen Augen. Ich hörte aber, wie das Kirchhoftor in seinem Lager knarrte, und wie der Kauz mit erschrockenem Flügelschlag das Weite suchte. Ich denke für mich: ›Hat je das Tor geknarrt, ohne daß einer aus- oder eingegangen wäre,‹ und ich denke an Euch, Hebenstädt, denn ich hatte im Dorf gehört, daß man eine Leiche geländet habe. Nun aber kommt das Schreckliche. Sitzt ruhig und behaltet Euern Kopf zwischen den Ohren, wenn Ihr könnt. Ein Licht erscheint am Kirchhoftor. Erst war es nur ein schwacher Schimmer, wie er zur Melkenszeit aus Futtergängen dringt. Dann ward's ein großes rundes Rad, dreimal so groß als wie ein Scheunentor, und mitten in dem Rad, so ungefähr wie in der Monstranz die Hostie, war ein großes hageres Weib, dem dünnes Haar, wie Flachs, um die dünnen Backen hing. Ihr 144 Blick war herb und fürchterlich. Der Mund war hämisch in die Breite gezogen. Wo Nase sein sollte, war eine Warze, groß genug, um tausend Säufer damit zu brandmarken, und leuchtend wie ein Kohlenmeiler.«

Als Liebetraut die Nase derart umständlich beschrieb, wurde der Heppendäpp aufmerksam. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fixierte sein Gegenüber mit den Augen eines Taubenstößers. Woher konnte dieser Fiedelbogen von Schulmeister wissen, daß seine Leiche, Hebenstädts Leiche, derart gezeichnet war? Wer außer ihm hatte sie denn überhaupt gesehen? In unserem Tobias erwachte der Gedanke, daß die Erzählung des Lehrers keine Lüge sein könne. Daß mindestens dem geschilderten Ereignis irgendeine richtige Beobachtung zugrunde liegen müsse. Aber er spielte den Freßdenteufel und sagte zum Hausherrn:

»Und dann seid Ihr doch auf die Nase zugegangen und habt Euren Zunder daran ins Brennen gebracht?«

»Scherzt nicht,« entgegnete der Lehrer. »Seht, ich bin auch keiner von denen, die vor einem Ziegenbock durchgehen. Aber vor dieser Erscheinung hatte ich nicht mehr Courage wie ein Wiesel, wenn der Habicht in der Luft steht. Ich hätte mich gerne ins erste beste Loch verkrochen. Da ich keines fand, so bin ich zu Euch gelaufen und habe die Geschichte mit dem Windbruch 145 erfunden, damit Ihr so gut sein möchtet, mich heimzubringen.«

»Bis hierher war alles recht schön zu Euerem Vorteil ausgedacht, mein lieber Schulmeister, und nun denkt Ihr weiter: ›Ich werde mich in mein weiches Bett legen, und der Tobias Hebenstädt mag sehen, wie er sich mit dem Geist herumbalgt.‹ Liebetraut, ich könnt' Euch für den Streich, den Ihr mir gespielt habt, den Katechismus mitsamt der biblischen Geschichte um die Ohren schlagen. Doch ich will mich anders an Euch rächen. Ich will nun allen Geistern zum Trotz nach Hause fahren, und morgen soll's die ganze Gegend wissen, daß Ihr ein Hasenfuß seid. Ein Kerl, der sich vor einer Vogelscheuche in ein Brillenfutteral verkriecht, und wenn Ihr morgen Eueren Schulbuben die Geschichte erzählt von dem Holofernes, der sich von einem Weibsbild den Kopf abhauen ließ, so könnt Ihr ihnen sagen, daß Ihr mit einem verwandt wäret, den eine Butterfrau mit einem Federwisch zum Lande hinausprügeln könnte.«

Nach diesen Worten erhob sich Tobias und ging zu seinen Hunden auf die Straße hinaus. Der Lehrer bemühte sich noch ein wenig, den Grollenden zurückzuhalten, indem er ihm sein Kanapee zum Übernachten anbot. Als er aber sah, daß der ritterliche Lumpensammler absolut sein Abenteuer haben wollte, ließ er ihn ziehen und beruhigte sich mit dem Gedanken:›Er hat acht flinke Hundebeine zur 146 Verfügung. Wenn's ans Ausreißen geht, je nun, so werden diese doch wohl imstande sein, zwei krumme Menschenbeine vor einem Gespenst in Sicherheit zu bringen.‹

Das Wägelchen ratterte das Pflaster hinaus. Herr Liebetraut ging in sein Zimmer zurück und stellte die Lampe ans Fenster.

»Daß er Licht findet, wenn er allenfalls umkehrt,« sagte er nach dem Bette hin, in dem die Frau Lehrer lag, »er geht schrecklichen Dingen entgegen. Laßt uns ein Vaterunser beten, daß Gott sich seiner erbarme.« Beide beteten mit halblauter Stimme, aus innerer Angst, der Teufel könne allenfalls hören, was sie dem lieben Gott zu sagen hatten. Dann war der Lehrer aufs Gestell gestiegen, hatte sich niedergelegt und hatte von der ehegemeinschaftlichen Bettdecke als rücksichtsvoller Gatte die größere Hälfte über seine Schultern gezogen.

Indessen waren Herrn Hebenstädts Hunde vorwärtsgestürmt in die Nacht hinein. Ihre Schritte beflügelte die Erinnerung an den weichen Lumpenhaufen, der zu Hause mit molliger Wärme ihrer wartete. Die Gedanken ihres Herrn waren mit anderen Dingen beschäftigt. Die Erzählung des Lehrers hatte von dem Augenblicke an, wo Herr Liebetraut die Warze an der Nase des Gespenstes erwähnte, für den Lumpensammler eine hohe Wahrscheinlichkeit erreicht. Man mußte mit übersinnlichen 147 Vorkommnissen gelegentlich wie mit Alltäglichkeiten rechnen. Jedenfalls wollte Heppendäpp, der Starke, sich von den Ereignissen nicht überraschen lassen.

Er arbeitete sich einen sorgfältigen Mensurplan mit Teufelsfratzen aus. Zunächst legte er den Schraubenschlüssel seines Wagens neben sich auf den kleinen Ledersitz. Er wollte probieren, ob er mit der gefährlichen Waffe dem Gespenst den Schädel einschlagen könne. Wenn dies aber nicht gelang, wenn solch ein Geist einen weichen Kopf hatte, der unzertrümmerbar war wie ein Federkissen? Nun gut, dann hatte Herr Hebenstädt an seinen Klumpfüßen noch zwei mit Zwergköpfen beschlagene Schuhe, mit denen man, wenn es sein müßte, die Panzerplatten eines Kriegsschiffes durchtreten konnte. Wenn solch ein Gespenst nicht wissen sollte, was Bauchweh wäre, dann mochte es nur kommen. Er, der Wickler, wollte ihm einen Begriff von der Kolik beibringen, daß es nach Hoffmannstropfen schreien sollte wie der Esel nach der Kleientränke.

Dergestalt für jede Eventualität wohlausgerüstet, sah der verwegene Lumpensammler im tollen Wirbel der Fahrt die Weidenbäume an sich vorübertanzen und kam der Stelle nahe, wo der Kirchhofsweg die Staatsstraße schnitt. Hier mußte die Kampfarena sein. Was Mut und Kraft vermochten, das sollten als einzige Zeugen die nächtlichen Sterne sehen und die kahlen Winterweiden. Ob die Leute in 148 Trippsdrill und Rapperschwül darum wußten, das sprach nicht mit. Um diese Krautköpfe brauchte man sich nicht zu kümmern. Eine große Tat blieb eine große Tat, einerlei ob ihr der Pferdestempel des Beifalls aufgedrückt war oder nicht.

Die Finger unseres Helden hatten den kalten Eisenstiel des Schraubenschlüssels umkrallt und ihn so heiß gemacht, daß man damit hätte Locken brennen können. Des Wicklers Klumpfüße waren in ein nervöses Rotieren gekommen und bearbeiteten sich gegenseitig die Hühneraugen auf das qualvollste. Die Augen waren wie bei den Fröschen auf Stiele getreten und durchstachen wie Dolche die Nacht, um das Gespenst zu suchen, – – das Gespenst hier auf dem Kreuzweg – das Gespenst, das es wagte, einem Tobias Hebenstädt und seinen Klumpfüßen gegenüberzutreten. –

Während nun unser kühner Freund mit all seinem Denken und Fühlen in der Geisterwelt weilte, ereignete sich eine überaus triviale Alltäglichkeit. Herr Hebenstädt fühlte sich von seinem Sitze emporgeschleudert, drehte sich wie der Turner beim Riesenschwung um eine ideale Horizontale, schlug mit dem Knie auf das vordere Spannholz des Wagens auf und lag nun glatt hingestreckt wie ein frischgebügelter Sommeranzug auf der Bleiche vor seinem ruhigstehenden Hundewagen.

Was war geschehen? Von allen Möglichkeiten, 149 die geschehen konnten, die einfachste. Der vordere Achsennagel des Wägelchens hatte sich bei der Raschheit der Fahrt gehoben und war schließlich aus seinem Loch herausgefallen. Die Hunde, von dem größten Teil ihrer Last plötzlich befreit, waren mit den Vorderrädern vergnügt, ohne ihren Lenker, zum Teufel gerannt.

Ich bin ganz sicher, daß von tausend Zuschauern des Ereignisses nennhundertneunundneunzig den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hier ruhig erkannt hätten. Ja, der Lumpensammler hätte es zu einer anderen Zeit todsicher auch gekonnt. In dem Augenblick aber, wo ihn die Heimtücke eines Nagels aus transzendentalem Gespensterverkehr auf die erbarmungslos harte Straße warf, war sein Geist nicht beweglich genug, sich in der Situation zurechtzufinden. Die Furcht nahm von seinem ganzen Wesen Besitz, und sein erster Gedanke war, jeder Kampftrophäe zu entsagen und sich durch die Flucht zu retten.

So rappelte er seine schlotternden Knochen vom Boden auf, fing an, seine Klumpfüße umeinanderkreisen zu lassen, und lief keuchend mit dampfender Haut und fliegendem Haar hinter seinen Hunden her.

Schon wandelten die Laternenlichter von den Häusern nach den Ställen herüber und hinüber, als Tobias todmüde vor der Tür seines Häuschens zusammenbrach. Bald war ein Haufen barmherziger 150 Frühaufsteher da, die den Ohnmächtigen aufhoben, auf sein Lager brachten und das Erlebnis mit offenen Mäulern umstanden. Noch fehlte es an einem Klugen, der in einen solchen Wirrwarr der Tatsachen einen aufklärenden Gedanken bringen konnte. Indes der Helfer in der Not war nicht fern. Doktor Ebenich mit seinem Chaischen kam des Wegs daher. Man umringte ihn und führte ihn ans Lager des Herrn Hebenstädt, der indessen den Gebrauch seiner Sinne wieder erlangt hatte und nun zum Besten gab, was er in der Nacht erlebt hatte.

Der Doktor rieb sich eine Weile das unrasierte Kinn und strich mit der Hand über die Stirne, als ob er einen Nebel entfernen wollte, der vor seinen Augen schwebte. Plötzlich rief er aus: »Weiß einer von euch, wann sie den Bauer Sauerbrot begraben haben? War's nicht gestern vor acht Tagen? Ganz recht, ich erinnere mich, es war an einem Donnerstag. Seht, Leute, seit diesem Zeitpunkt fehlt dessen Witwe jede Nacht in ihrem Bett. Ich weiß das von deren Magd. Möglich, daß der Kummer die Ärmste um den Verstand gebracht hat. Geh doch mal einer und frag', ob die Bäuerin zu Hause ist.«

Statt eines gingen drei, und sie kamen mit der Nachricht wieder, daß vor einer Stunde etwa, in ein weißes Laken gehüllt, Frau Sauerbrot, aus der Richtung des Kirchhofs kommend, über die Schwelle ihres Hauses getreten sei.

151 Somit war Licht gekommen in die dunkle Angelegenheit. Lehrer Liebetraut war kein Aufschneider. Den Ruhm der Wahrheitsliebe hatte er gerettet, den der Tapferkeit hatte er um so gründlicher verloren. Er sowohl wie Herr Hebenstädt, den die Leute von jetzt ab den »kuraschierten Heppendäpp« nannten, litten viel unter dem Spott der Menge. Der Lehrer lernte es allmählich, sich unter sein Schicksal zu beugen. Hebenstädt aber, der nun alles eingebüßt hatte, was ihn seither den Menschen respektabel und fürchterlich erscheinen ließ, war vernichtet. Der große Friedrich konnte mit der Schmach von Kunersdorf weiterregieren, bei dem Lumpensammler aber war die Basis seiner Existenz erschüttert. Er verkaufte sein Häuschen und zog sich mit seinen Hunden aus dem sonnenbeschienenen Rheintal ins Dunkel des Pfälzerwaldgebirges zurück. Dort hinter Taubensuhl ist die Spur von seinem Dasein und von seinen Klumpfüßen verloren gegangen. 152

 


 


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