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Doktor Ebenich hatte in seiner Sprechstunde mit Hörrohr und Perkussionshammer an einer Bauerndirne von einfältigem Aussehen herumgehorcht und herumgeklopft. Nun war er mit seiner Untersuchung fertig. Er lehnte sich in seinen Schreibtischsessel zurück und ließ gedankenlos die Daumen umeinanderkreisen. Fast schien es, als ob er einschlafen wolle. Das Mädchen hüstelte verlegen und trat geräuschvoll von einem Absatz auf den andern, um den Doktor aufzumuntern. Der aber rührte sich nicht.
›Er hat dich vergessen,‹ dachte die Kleine, ›wenn du dich nicht regst, so stehst du in einer Stunde auch noch hier, und du hast doch einen langen Heimweg, weit ins Gebirge da hinten hinein.‹
Sie hustete kräftig. Der Doktor ließ scheinbar nachdenklich den Kopf sinken, sprach aber keine Silbe.
Da faßte sich das Mädchen ein Herz, trat an den Stuhl des Alten heran und fragte schüchtern mit einem ungewissen Tone in der Stimme:
261 »Wenn Ihr mir, wie es scheint, nichts verschreiben wollt, könnt Ihr mir dann nicht wenigstens sagen, was mir fehlt?«
»Was dir fehlt?« stieß Herr Ebenich heraus, »ja so, was dir fehlt, willst du wissen! Mein Kind, dir fehlt gar nichts. Im Gegenteil, du hast zuviel, was dir allerdings nichts frommt und wofür dir manche doch viel Gold gäbe, wenn du es ihr überlassen könntest. Allerdings, es ist richtig, eine Kleinigkeit fehlt auch dir. Nämlich ein rechtschaffener Mann, der deinem Kinde ein Vater werden könnte. Allein diesen herbeizuschaffen, ist nicht Sache des Doktors und Apothekers, es ist deine Sache. Hast du schon daran gedacht, wann du Hochzeit machen willst?«
»Hochzeit?« fragte erstaunt das Mädchen, »Hochzeit machen, nein, daran hab' ich nicht gedacht, das kann ich auch nicht.«
»Das kannst du nicht?« rief der Arzt, »ist dein Liebster etwa noch unter den Soldaten?«
»Keineswegs, aber es geht doch nicht.«
»Es geht doch nicht, und warum das? Sag' mir den Grund, und ich weiß vielleicht einen guten Rat für dich.«
»Der Grund ist einfach und doch auch wieder nicht. Kennt Ihr den Fall, daß ein Mann gleichzeitig mit zwei Weibern verheiratet war?«
›Ja,‹ sagte Doktor Ebenich zu sich, ›der Graf von 262 Gleichen. Und noch ein Beispiel, das weit zurückliegt, in den Patriarchentagen Abrahams kenne ich.‹ Zu dem Mädchen aber sagte er:
»Ich errate, was du mir nicht sagen willst. Du hast dich mit einem Ehemanne eingelassen. Wie kommst du nur dazu, so etwas zu tun?«
»Einfach genug, er war doch mein Herr.«
›Eins Moses einundzwanzig,‹ murmelte der Arzt vor sich hin, ›Hagar, die Ägypterin, im Hause des Erzvaters. Und er soll dein Herr sein. Ein uraltes Hörigkeitsverhältnis hat also die Feudalzeiten überdauert und lebt im Volke heute noch. Wollen sehen, ob da nicht auch noch eine Sarah zum Vorschein kommt, die sich gegen diese Institution auflehnt.‹
Und nach einer kleinen Pause laut:
»Mädchen, wenn ich dich recht verstanden habe, so hast du soeben gesagt: ›Er war doch mein Herr.‹ Dieses war deutet auf etwas Vergangenes. Also ist er es heute nicht mehr, und du bist von ihm fort. Warum tust du das? Die Diener, so unterm Joch sind, sollen bleiben und ihre Herren alter Ehre wert halten, sagt der Timotheusbrief.«
»Gern wär' ich auch bei ihm geblieben, denn er war gut zu mir. Aber sie – – sie – –«
›Jetzt muß die Sarah kommen,‹ sagte sich der Doktor und forschte weiter.
»Sie – sie – mit diesem sie – da meinst du doch wohl die Bäuerin?«
263 »Wen anders? Und sie ist's gerade, sie, die mir den Aufenthalt im Hause und Hof verleidete. Und was sie nicht alles zu mir gesagt hat! – –«
»Hat sie denn vielleicht dein Verhältnis zu dem Bauern entdeckt?«
»Ja, sie beobachtete uns aus einem Winkel heraus, wo wir sie nicht vermuteten.«
»Na und da?«
»Na und da, da hat sie gesagt: Ich wär' ihr wie Salz im Kaffee, und sie tät's nicht leiden, daß ich auf dem Hofe bliebe.«
»Und da bist du denn fortgegangen, mein gutes Kind?« sagte der Doktor gerührt von soviel Offenherzigkeit. »Man kann dir daraus keinen Vorwurf machen. Leute, die dem Nebenmenschen auch gar nichts gönnen, verdienen keine Anhänglichkeit. Ich und tausend andere an deiner Stelle, wir hätten nicht anders gehandelt als du.«
Während dieser Worte hatte die Unschuld vom Lande sich langsam nach der Türe hingeschoben und war auf leisen Sohlen geräuschlos verschwunden.
Doktor Ebenich erhob sich aus seinem Sessel und ging im Zimmer auf und ab. Er fuhr sich mit der Hand nach der Stirne und sagte in leisem Selbstgespräch zu sich selber:
»Lebt da nicht das ganze Alte Testament vor einem auf. Wie sagt doch Sarah im Verse 10, erstes Buch Moses, Kap. 21: ›Treibe diese Magd aus mit ihrem 264 Sohne; denn dieser Magd Sohn soll nicht erben mit meinem Isaak‹; und in Vers 11 heißt es: ›Das Wort gefiel Abraham sehr übel, aber er gehorchte.‹ So kam Ismael um seinen Vater.«
›Und unser neuester Ismael, wenn's einer wird, was wird aus dem?‹ fragte sich der Doktor gedankenschwer: ›Ein Lump, ein Galgenvogel, weil das moderne Gesetz die Bigamie bestraft.‹
Um Trost zu suchen, schlug der Doktor die Bibel auf und fand das Wort des Herrn: »Auch will ich der Magd Sohn zum Volk machen, darum daß er deines Samens ist.«
»Da wären demnach die Aussichten des Bastards nicht einmal gar so schlecht,« tröstete sich der Alte, und er nahm sich vor, ein Auge zu haben auf die Frucht dieses patriarchalisch ehrwürdigen Liebesverhältnisses.
* * *
Seine Praxis führte den Arzt oft weit ins Gebirge hinein, und er erfuhr gelegentlich nach wenigen Monaten, daß Hagar in der Tat eines Knäbleins genesen sei.
Nach etlichen Jahren legte irgendeiner, während der Kutscher einen Schoppen trank und der Arzt am Krankenbette weilte, dem Pferde des Doktor Ebenich brennenden Zunder ins Ohr. Das Tier wurde scheu und rannte mit dem kleinen Chaischen durch die 265 Dorfgasse, bis das Vehikel zerschellt war und an jeder Straßenecke ein Fetzen von seinem Gefüge hing. Die Diener der heiligen Hermandad führten nach einer halben Stunde eifrigen Suchens, an beiden Ohrläppchen sorgfältig festgehalten, einen kleinen Strolch vor, in dem Herr Ebenich nach einigen Kreuz- und Querfragen den hoffnungsvollen Sohn der Hagar erkannte.
* * *
Und wiederum brüteten die Jahre an dem Schicksalsei des Bastards. Da mußte eines Tages der Doktor hören, daß Ismael seinem Lehrherrn, einem Sattler, eine Zylinderuhr und dreizehn Mark in bar entwendet und mit diesen Schätzen den Weg über die französische Grenze genommen habe.
»Er wird den Werbern in die Hände gefallen sein und seinen Weg nach Algier gefunden haben,« setzten die guten Landsleute dem ersten Bericht vermutungsweise hinzu.
Auch diese üble Zeitung raubte dem Doktor noch nicht alle Hoffnung. Mit Hilfe des ersten Buches Moses richtete er seinen Glauben an Ismaels Zukunft wieder auf: »Und Gott war mit dem Knaben. Der wuchs und ging in die Wüste und ward ein guter Schütze.« Wer wollte sagen, ob der moderne Hagarsohn nicht einer der altgriechischen Kolonien am Nordrand der Sahara zu neuem Glanze verhalf!
* * *
266 Immer wieder und wieder mußte Herr Ebenich gelegentlich nach seinen alttestamentlichen Gestalten forschen. Und so erfuhr er nach und nach, daß Abraham in Konkurs geraten war und Sarah mit Handkäsen und Eiern handelte. Hagar war zu einem Fuhrwerk gekommen, in der Art freilich, daß sie an dem Karren eines Zinkgießers schieben durfte, der sie zu seiner legitimen Gattin erhoben hatte. Wo aber steckte Ismael, aus dessen Samen der Herr ein Volk machen wollte? Er war und blieb verschollen.
* * *
Den Doktor Ebenich hatte sein Wandertrieb wieder einmal über das Mittelmeer hinaus verschlagen. Er saß in Kairo, um das Museum von Bulak zu studieren. Als er eines Tages, von seiner Arbeit nach dem Nilhotel zurückkehrend, über die Muskistraße hinschritt, erinnerten ihn zwei runde Messingschüsseln daran, daß er lange kein Rasiermesser mehr auf den Backen gehabt habe. So trat er denn in die Barbierstube ein und setzte sich in einem bequemen Sessel zurecht, während hinter ihm ein blonder Jüngling in einer Porzellanschale Schaum schlug. Ebenich konnte im Spiegel jede Bewegung des Bartkünstlers genau verfolgen, und kein Mienenspiel des Gesichtes entging seinem Forscherauge. Er kannte den Jüngling und hätte doch zur Stunde um tausend Gulden nicht sagen können, woher. Die Ungewißheit quälte ihn, 267 und er suchte ihr durch ein Gespräch mit dem Verschönerungsrat ein Ende zu machen.
»Ihr seid ein Deutscher, junger Mann,« so redete er über die Schulter hinweg mit seinem Rätsel, »die Farbe Eurer Haare wenigstens spricht für diese Annahme.«
»Da Ihr ein Landsmann zu sein scheint, so kann ich Euch dies zugeben. Säße ein Franzose da, wo Ihr sitzt, so müßte ich mich als Amerikaner vorstellen.«
»Ihr scheint der Dame Frankreich gegenüber kein gutes Gewissen zu haben. Umsonst würdet Ihr Euch wohl nicht den Knebelbart des Bruder Jonathan unters deutsche Kinn kleben.«
»Offen gestanden, ich bin der Französin davongelaufen, obwohl ich ihr die Treue beschworen hatte. Meinen Tornister mit dem Marschallstab habe ich ihr zurückgelassen.«
»So stakt Ihr wohl in der Uniform eines Fremdenlegionärs und seid ausgerissen, junger Mann?«
»Ausgerissen, durchgegangen, davongelaufen, wie Ihr's nennen mögt. Die Hauptsache ist, daß die Sache geglückt ist. Kugeln, Steckbriefe und dergleichen, was die Leute so hinter einem herschicken, dürfen einen eben nicht erreichen. O, ich versichere Ihnen, das Über-die-Grenzen-laufen erfordert Courage und gesunde Beine. Man darf keine Erbsen in den Schuhen haben wie einer, der nach irgendeinem 268 Heiligenknochen wallfahren geht. Allein, wenn der Mensch guten Willens ist, dann hilft ihm auch das Glück und er lernt mit der Zeit allerlei durchzufechten.«
»Gut gesprochen, Eure Stelzen scheinen Euch schon über verschiedene geographische und andere Hindernisse geholfen zu haben; wohl auch über die deutsche Grenze?«
»Gewiß, auch über die deutsche,« war die Antwort.
»Erinnert Euch einmal, ob Ihr damals nicht dreizehn Mark bares Geld und eine silberne Zylinderuhr in der Tasche hattet?«
Der Barbier sah seinen Kunden verlegen an, wurde rot und verstummte. Ebenich aber wußte, daß er den Sohn der Hagar gefunden hatte, der bei Ber-Saba in die Wüste gegangen, bis jetzt aber noch zu keinem Volke geworden war. 269