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Das Bambusröhrchen

Sie saß unter dem letzten der schiefen, zerfallenden Pfahlbauten des Dorfes, schon dicht am Geisterplatz, dessen grellrote Sträucher warnend aus dem höhlengleichen Baumdunkel leuchteten. Der unheimlich hagere Leib war lehmbestrichen, das seit Jahren ungekämmte Haar fiel in unzähligen, wurmartigen schwarzen Strähnen über Stirne und Nacken und die irdischen Güter des »Seligen« – seine Armbänder, seine Lieblingspfeife, das Halsband aus Beutelzähnen, der Kinnknochen eines alten Feindes und das zur Wurst gedrehte, lehmgetränkte Lendentuch – hingen vorne zwischen den eingefallenen Brüsten nieder, die eingeschrumpften Krokodilhautsäcken mit einem schwarzen Knopf zum Abschluß glichen. Um den Hals zog sich eine kleinere, auch lehmdurchsogene, gelbbraune Wurst, aus der es an einer Stelle matthimmelblau schimmerte. Das sollte, nach Angabe der Wortkargen, das Lendentuch ihres Kindes gewesen sein.

Einige halbwüchsige Jungen mit einem Schamtuch von der Größe eines Feigenblatts und sonst nur im ungewaschenen schwarzbraunen Geburtshemd, stürmten von Hütte zu Hütte und schrien etwas ins fensterlose Innere, in dem schwarze Tontöpfe, leere Kokosschalen, die zu Wasserhältern benützt wurden, Tarokörbe und etwas verschüttetes Sagomehl bunt durcheinanderlagen oder kleine nackte Kinder durch eine Spalte im Boden »Regenmann« spielten.

Zuletzt blieben sie etwas verlegen unweit der Alten stehen. Der eine Junge untersuchte seine Pfeile, die anderen drehten unschlüssig ihre scharfdornigen Speere.

»Eh, Kato lepieng, weißt du schon, daß der Giap Giap = Kreisrichter. von Monumbo mit der Areng Taming (Schwiegermutter) des Weißen kommt, den die Berghunde von Apenang totgeschlagen haben als der Yammond noch klein gewesen?«

»Laßt eure Beine stark werden, damit ihr laufen könnt, wenn die Berghunde kommen!« erwiderte sie griesgrämig.

»Ha, wir ...!« begann der Aelteste von ihnen, aber sie unterbrach ihn mit dem Spottruf: –

»Ha, wir ...!« sagte die Iguana als sie der Henne die Federn ausriß, um sie von den Eiern zu jagen; » aiii ... ich!« röchelte sie als sie das Buschmesser im Nacken fühlte. Geht, geht! Krabben seid ihr, deren Schale noch nicht hart geworden ...«

Die Knaben kniffen sich gegenseitig mit der großen Zehe warnend in die Waden. Wenn es nicht gerade Kato lepieng oder »Schon-im-Loch« gewesen wäre, würden sie sich nicht so ohne weiteres getrollt haben, aber die Alte stand im Gerüche der Zauberweisheit und kannte Gifte, von denen einige Tropfen schon genügten. Sie vermochte sogar jemand schon schwere Wunden anzuzaubern, indem sie mit dem Daumen sieben Kreise um die Fußspur zog und bei dem letzten Kreise darauf spie. Unwillkürlich verwischten sie bei diesem Erinnern den Abdruck ihrer eigenen Füße im losen Sand.

»Wir brachten dir Kunde!« sagte Atjiek mit verletzter Manneswürde. »Nun gehen wir!« Und erleichtert liefen sie mit viel Geschrei einem unsichtbaren Vogel nach.

*

Die sechs oder acht Fahrgäste der »Mataram«, die den Ausflug nach Bohia gewagt hatten, überfluteten den Dorfplatz, feilschten um Palmenstrohkörbe, Speere, Bogen und Pfeile, Kakadufedern und Muschelarmbänder, versuchten Nasenstäbe aus unwilligen Nasen zu ziehen oder kreischten scheinentsetzt auf, wenn ein Mann mit einem Fleckchen Rindentuch zwischen den Beinen sich unbekümmert vor ihnen die Schuppen des Ringwurms von Brust und Bauch kratzte.

Die Gattin eines Fruchthändlers aus Sydney, die zur Erholung die Inselreise mitmachte und sich folglich ganz Weltdame deuchte, berührte lässig den Arm einer Mitreisenden, die sich notgedrungen in diesen »plebejischen Verkehr« ergab – den man allerdings nur hier unter den Wilden dulden durfte! – und bemerkte, während sie vor dem Dorfältesten stehen blieben: –

»Dieses arme, unterdrückte Naturkind bewundert unsere glänzenden Schuhe, unsere hellen Kleider ...«

»Glauben Sie?« Und die Augen der Angeredeten fielen prüfend auf den Alten, dessen Hauptgewand der langzahnige Kamm im buschigen Haar war.

Unterdessen überlegte das »Naturkind« –

»Nachdem die Lawalawas abgezogen wären, bliebe wenig von diesen weißen Menschstöcken übrig. Die Hüfte der einen Taming ist nicht übel, hat noch etwas Fleisch daran.« Wie ein Berufsmetzger zerlegte er sie im Geiste. »Das Bein würde ich selbst essen und das andere, das nicht ganz so gut scheint, dem Häuptling von Apenang als Aufmerksamkeit schicken. Brüste haben diese Knochengebilde aus fremdem Land leider nicht. Bah! Den Rest ließe ich unsere Kinder abnagen – es klebt so fast kein Fleisch daran! Schlechte Ware!« Er spie an den beiden vorüber und kratzte sich im Gebiet der Lauskolonie.

Frau Grove war dem Giap oder Kreisrichter von Monumbo gefolgt.

»War es hier?« forschte sie gedämpft.

»Höher oben im Busch,« erwiderte er, »bei Apenang.«

Ein Raunen ging durch den Rest der Gesellschaft.

»Wurden in der Tat Schwiegersohn und Enkelkind Frau Groves vor einigen Monaten von diesen Leuten gefressen?« flüsterte man.

»Vom Häuptling von Apenang« murmelte ein ganz Eingeweihter.

»Ach nein ... wie furchtbar interessant!«

Sie drängten sich mit lüsternem Gruselbegehren um die Beraubte, die vor der Hütte Kato lepiengs stehen geblieben war. Unbekümmert um die Fremden starrte das alte, eingetrocknete Weib auf das Bambusröhrchen zu seinen weitausgestreckten Füßen. Die knorrigen Finger schlugen mit einer Palmenblattrippe auf den weißlichen Sand.

»Was tut die Alte?« fragten die Frauen und schüttelten ihre soeben und viel zu teuer erstandenen Kurios.

»Sie wacht,« entgegnete der Giap ausweichend, der nicht gerne eingestehen mochte, daß nur eine dünne Sandschicht irgendeine Leiche deckte, die da langsam verweste.

Kato lepieng wandte das Haupt, warf plötzlich einen durchdringenden Blick auf Frau Grove und murmelte etwas zwischen den vom Betelkauen schwarzen Zahnresten.

»Was sagt sie?«

»Daß ihre Arme leer sind – daß sie kein Kind hat,« übersetzte der Giap und versuchte die müßigen Touristen zum Weitergehen zu bewegen, denn soeben kroch ein dicker Wurm aus dem Bambusröhrchen, fiel über den Rand und wurde von der Alten mit der Palmenblattrippe in zwei sich noch windende Teile geschlagen.

Frau Grove vermochte es nicht zu sagen, warum ihr die Worte des schmutzigen Weibleins so sehr zu Herzen gingen. Vielleicht weil all die anderen schwarzen Frauen ein Kind in der Schulterschlinge aus Rindentuch sitzen hatten; vielleicht weil es aus der Halswurst der Alten so ähnlich blau schimmerte wie das letzte Kleidchen, das sie ihrem eigenen Enkelkind genäht und geschickt. Für ihre Tochter war es besser – Scheidungen wirbeln so viel nutzlosen Staub auf! – aber für sie, die Großmutter, war es bitter. Wie süß war das Kind gewesen! Sie hatte es zweimal verlieren müssen! Durch die Handlung ihrer Tochter und nun auf so schreckliche Art. Die Alte hatte recht: Die Arme waren leer ohne Kind ...

»Sind sie ... in der Nähe begraben?« fragte sie halblaut den Giap.

»Nein, weit draußen im ... im Busch.«

Es war überflüssig der alternden Frau zu gestehen, daß ihr Schwiegersohn in vielen verschiedenen Mägen begraben lag und die Leiche des kleinen Mädchens von den Wilden nach der Tat angeblich nicht aufzufinden gewesen war.

»Ich wette, das soll ein Götze sein, vor dem das Weib so andächtig sitzt,« behauptete die Fruchthändlerin. »Ach, Herr Kreisrichter, fragen Sie doch 'mal, ob das Ding verkäuflich ist?«

»Es ist unverkäuflich,« erwiderte er fast schroff. Solch eine Touristenschar war lästig und gefährlich wie eine Büffelherde. »Jenes Weib,« er zeigte auf die entfernteste Hütte, »hat, glaube ich, Schildpattringe. Wollen Sie kaufen?«

Die Mehrzahl stürmte dahin; nur die Braut eines Zahnarztes, ein semmelblondes, harmloses Geschöpf, hielt sich dicht an Frau Grove und flüsterte mit weit aufgerissenen Augen: –

»War es tatsächlich ganz in der Nähe von Bohia, daß der Herr Schwiegersohn ums Leben kam?«

»Oben in Apenang ...« erwiderte die alternde Frau müde.

»Und wurde er ...« sie zögerte, vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen und vollendete halblaut, »gefressen?«

»Vielleicht,« entgegnete die Gefragte mit den Gedanken weitab, denn sie blickte auf ihre Großmutterarme, die leer waren und nun wohl immer leer bleiben würden und seufzte.

»Richtig gefressen!« murmelte die junge Blonde, »nein, wie furchtbar interessant!«

Unterdessen trat der Giap unter den Pfahlbau Kato lepiengs und fragte streng: –

»Wer liegt hier begraben?«

»Mein Kind.«

»Du hast ja keins.«

»Weißt du besser Bescheid in meinem Bauch als ich?« Die schwarzen Augen bohrten sich förmlich in die seinen.

»Mußt du noch lange sitzen?« forschte er ausweichend.

»Das war das erste Würmchen seit langem; bald bin ich frei.«

Er seufzte und machte Miene, sich zu entfernen. Mit diesem Volke war noch schwer umzugehen.

»Du gehst!« sprach sie kurz den üblichen Kanakengruß.

»Du bleibst!« gab er nach Landesart zurück; folgte unwillig seiner Büffelherde.

Auch in ihm hatte das seltsame Fleckchen Blau allerlei Gedanken ausgelöst, aber die Leute waren noch zu wild, der Busch zu nahe, seine Macht zu gering ...

Es war am besten, schlafende Hunde nicht zu wecken.

*

Der Mond lag in zahllosen Lichtpfützen auf den Sackdächern von Bohia. Sari-sari oder Kato lepieng (Schon-im-Loch!) wie die Bewohner sie nach einigen Monaten im Inselgefängnis getauft hatten, scharrte mit ihren knöchernen Fingern emsig im Sande um das Bambusröhrchen. Ihre Lippen bewegten sich in kaum vernehmlichem Selbstgespräch.

»Ihr Haar war wie die Mittagssee und das Bäuchlein weiß wie Korallen gewesen. Die frische Kokosmilch hatte nicht geholfen und nicht die heiße Asche ... und die trockenen Bananenblätter hatten das Blut nicht gestillt ...«

Sie wühlte aufgeregt im Sande.

»Die kleine Brust war auf- und abgegangen wie ein Kanu in der Brandung und der Mund war weit offen gestanden wie beim Fisch, wenn er schon im Korb liegt ...«

Nun fühlte sie etwas Hartes zwischen den Fingern und fegte vorsichtig den Sand hinweg.

Ihre Augen waren blau wie der Himmel zur Südostwindzeit gewesen und hatten sie angefleht und dann hatten die Lippen »Tamien« geflüstert. Nicht in der rauhen Bohiasprache, aber sie hatte es verstanden, denn was ruft ein Kind in Not außer »Mutter«? Und sie hatte es auf die Arme genommen und ihm das Schneckenlied vorgesummt wie jenen, nun schon toten Kindern, die vor vielen Nordwestzeiten aus dem eigenen Bauch gekommen.

Weg, weg mit dem Sand! Was man darunter fühlte war hart, hart wie der Giap, der vieles zu wissen glaubte und in Wahrheit nichts wußte. Der blind war wie die Buschschlange, wenn sie sich häutete.

Aber das Schneckenlied hatte kein Lachen erweckt und die Augen waren matt geworden wie Perlmutter an der Sonne und nur das Haar hatte geleuchtet wie das Meer zur Mittagszeit.

Es glitzerte auch jetzt noch aus der dunklen Oeffnung, war heller als der Mond auf den Palmenwedeln und dem glatten Sacksack; sonst war das Werk der Würmer vollendet; das zarte Kindergebein erinnerte Kato lepieng an die weiße, weiße Haut – war bleich wie tote Korallen ...

»U…uu…ü…üüüü« wimmerte sie und spielte mit dem Goldhaar, das sich löste ...

Auf dem nahen Geisterplatz raschelte es; der Awang tamien, der Geistervogel, stieß einen schrillen, kläglichen Schrei aus.

»Er will ein Opfer,« murmelte die Alte und schüttete vorsichtig den Sand zurück auf das kleine Knochengerüst; strich mit ihren fleischlosen Handflächen die Stelle glatt wie einen Teppich und streckte sich zu spätem Schlafe aus ...

Das Bambusröhrchen, durch das viele hundert Würmer gekrochen, die vom Fleisch des fremden weißen Kindes dick geworden, schob sie zwischen die verschrumpften Hautreste der Brüste.

*

Der wachehabende Matrose an der Schiffsbrücke der »Mataram« fuhr erschrocken zusammen. Er hatte viel Seltsames auf seinen zehnjährigen Fahrten um die Welt gesehen, aber nie ein Weib – wenn es überhaupt Weib sein sollte? – das ganz so mager und ganz so ... so unbekleidet gewesen.

Einen Augenblick lang tauchten kalt feindliche Blicke aus tiefliegenden kohlschwarzen Augen seltsam zwingend in die seinen, dann war der Spuk an ihm vorbei aufs Deck geglitten und hatte einen wahrhaft gespenstigen Eindruck von viel Lehm, viel faltiger Haut, vielen eckigen Knochen und von nur wenig Kleidung hinterlassen.

Oben, auf dem Promenadendeck verursachte die Besucherin nicht geringeres Aufsehen. Die Schätze des »Seligen«, vorwiegend aus Zähnen verschiedener Herkunft bestehend, waren kaum Kleidungsstücke zu nennen und das Fleckchen Rindentuch an der Wurzel der Oberbeine war nicht länger und nicht breiter als unumgänglich notwendig, während die Kehrseite überhaupt nur faltige Haut unter einer ockertönigen Lehmschicht vermuten ließ.

Sie kreuzte das Promenadendeck mit der Ruhe einer Weltdame, ohne sich an Blicke oder Geflüster zu kehren, ohne die geringste Neugierde oder den Schatten eines Interesses für die schöngekleideten Körper oder die glänzenden Fußhüllen. Ihre Blicke streiften forschend die letzten Deckstühle, auf denen die semmelblonde Braut des Zahnarztes, die Gattin des reichgewordenen Fruchthändlers aus Sydney und Frau Grove saßen und die ergatterten Inselkurios verglichen und bewunderten.

Kato lepieng blieb vor der beraubten Großmutter stehen, betrachtete sie prüfend, entdeckte einen wehen Zug um den Mund und reichte ihr das Bambusröhrchen.

»Weil deine Arme leer sind!« sagte sie in der rauhen Buschsprache, drehte sich um und verließ so ruhig und gefaßt wie sie gekommen, wieder das Schiff.

»Der Götze, vor dem sie gestern gesessen!« rief die Gattin des Fruchthändlers, das kleine Rohr bewundernd hin- und herdrehend, das oben mattgrün und am unteren Rande dunkelbraun war und so eigentümlich roch. Ganz nach Menschenfressern und so weiter ...

»Haben Sie Glück!« meinte sie mit einem Schatten von Neid.

»Ein richtiger Götze? Und noch von dem Ort, an dem der Herr Schwiegersohn ...?« rief die Braut des Zahnarztes es ihrerseits betrachtend. »Nein, wie furchtbar interessant!«

Auch Frau Grove drehte das seltsame Bambusröhrchen nachdenklich zwischen den Fingern. Gewiß war es nicht allzu weit von dem Ort gewachsen und geschnitten worden, an dem ihr einziges Enkelkind begraben lag. Ja richtig! Das war ja das Weib, das dem Giap gesagt hatte:

»Meine Arme sind leer!«

Das waren nun auch die ihren und das einzige Ding, das ihr von der Zeit geblieben als sie noch voll gewesen, war dieses merkwürdige Ding aus Bohia – dem Nachbardorf von Apenang ...

Sie zerdrückte eine Träne, die sich im Augenwinkel gesammelt, und legte das Bambusröhrchen zu den übrigen Inselschätzen.

Nach einer Weile kroch unbemerkt ein säumiger Wurm aus dem Rohr und glitt über den Tisch zur Freiheit ...

*


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