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Südsee

Der Kuß

»Gib' mir einen Kuß, Lila!«

Die Finger der jungen Halbweißen ließen die Nadel unbewußt durch den Stoff laufen; die Gedanken kreisten wie Motten um die Flamme dieses einen Satzes. Vor einem Jahr schon, auf der Straße nach Teouma, hatte er ihr's gesagt. Dann wieder als sich die Mangoblätter röteten und die Schoten des Schwarzholzes zu Gold wurden und neuerdings zur Korallenblütenzeit, als die Fische giftig geworden, und immer hatte sie gelacht ...

Ihre weiße Stiefmutter hatte ihr an deren Hochzeitstage gesagt:

»Lila, leb' wie wir Weiße und du sollst einen weißen Mann heiraten; verschenk' dich stückweise wie ein Mischling und du kannst zu deinem Volke zurückkehren!«

»Zu deinem Volke!« Das brannte. Sie wollte heiraten und fortziehen – weit fort in irgendein Land, in dem sie nichts an das Volk ihrer Mutter erinnern würde. Sie »verschenkte« sich nicht. Sie lachte, wenn Malaita um den ersehnten Kuß flehte ...

»Du wirst mich noch küssen, Lila,« hatte er ihr das vorletzte Mal nachgerufen.

»Nie, Malaita!«

»Und mir gehören!«

»Nie in diesem Leben!«

»In diesem Leben und im Tode, im Leben und im Tode, Lila,« hatte er geantwortet, und seine Züge waren finster gewesen wie ein Sturmtag.

Er hatte sich mit den Fingern langsam ein rotes Pulver von den Lidern zu den Schläfen gestrichen und Lila hatte mit unüberwindbarer Angst bemerkt, daß er »Masing« gewirkt hatte. Wenn eine Frau nicht folgte, mußte sie sterben.

Das galt natürlich für Kanaka, nicht für Weiße; die berührte es nicht. Aber das Blut der schwarzen Mutter hämmerte doch in ihren Adern die Nacht hindurch; erst am Morgen siegte die Macht der Umgebung.

Und nun hatte sie ihn heute plötzlich wiedergetroffen.

»Gib' mir einen Kuß, Lila – einen einzigen! Es macht dich nicht ärmer ...«

Sie hatte versucht, an ihm vorbeizugehen, ohne hinzublicken, aber er hatte es ihr zugerufen und sie war vor ihm stehen geblieben, fast ohne es zu wollen. Das Hospital schien verlassen, nur eine gefleckte Katze spielte mit einer Feldmaus und der Wind riß an den roten Balsaminen. Im Rahmen der Wartezimmertür saß Malaita und hielt die Arme verdeckend über seine nackten Beine, an denen das Fleisch an vielen Stellen schaurig rot bloßlag. Er nahm ein Sonnenbad vor dem Verbinden.

»Lila!«

Diesmal hatte er nicht gedroht; seine dunklen Augen hatten hungrig bittend die ihren gesucht; zweimal hatte sie unschlüssig mit dem Fuße gestampft, dann war sie schnell weitergegangen und nach erledigter Aufgabe durch die Annamitenabteilung auf den Kreuzweg geschlüpft.

Die Beine waren zu schrecklich gewesen! Und wer küßt jemand im Rahmen einer Spitalstür?

Die Regentropfen fielen wie Sandkörner auf das Wellenblechdach der Veranda; wie Sandkörner, laut, unaufhörlich, eindringlich kamen die Worte Lila ins Gedächtnis.

»Gib' mir einen Kuß – einen einzigen!«

Etwas abergläubische Furcht, etwas unwiderstehliches Behagen mischte sich in das Erinnern.

*

Die Wolken wallten hinter und um Iriiki wie Weihrauch – durchsichtig, silbrig; wie Glöckchen in krausem Rotpapier schwangen die Blüten des Korallenhibiscus; ein olivgrüner Honigsauger steckte den langen dünnen Schnabel in die Lantanakelche; auf dem Ochsenherzbaum mit seinen ziegelroten wie bestäubten Blüten saß ein Zwergpapageienpaar mit blauviolettem Kopf, Smaragdkörper und grellrotem Schwanze.

Die Arbeit auf dem Boden, die Hände leicht verschlungen, die Augen halb geschlossen, hing Lila ihren Träumen nach. Am Vortage hatte sie zum drittenmal unten bei Reids getanzt und heute hatte sie Blumen und Konfekt erhalten. Gewiß – der Geber war nicht ganz jung und die Stirne schob sich schon gegen den Nacken, aber er war wohlhabend, nicht auf den Neu-Hebriden ansässig und weiß. Weiß! Fürs Herz jemand, das fand sich später immer noch ...

Eine grünblaue Eidechse wie ein Juwel glitt pfeilschnell am Wasserfaß empor, umkreiste den Rand, stürzte sich froh ins hohe Tropengras; auf einer dürren, halbgestürzten Banane rastete eine Sekunde lang ein Yamvogel, dessen schwarzer Rücken im Sonnenlicht blau schimmerte; große, hellbraune Falter umgaukelten die sternkelchigen Blutstropfen.

»Wenn ich seine Frau sein werde ...!«

Die Wolken zerrissen wie ein vergilbter Brautschleier; einige glitzernde Tropfen fielen unbemerkt. Die Sonne brach durch.

Sacht, entfernungsgedämpft erklang Glockengeläute; bim–bam, bim–bam, bim–bam ... wie der Herzschlag eines Menschen und wie dieser wurde es schwächer, stockte.

Lila erhob sich mit der lässigen Neugierde der Tropen, trat an den Stachelzaun, rief laut:

»Jacquelot, Jacquelot ... wer ist denn gestorben?«

Ein halbwüchsiger Junge, einen Wassereimer in der Hand, stolperte um die Ecke des Nachbarhauses.

»He?«

»Wer ist tot, Junge?«

Jacquelot wischte eine sehr bedürftige Nase in den Rockärmel.

»Malaita – oben im Hospital,« entgegnete er und verschwand.

»Malaita!!«

Und sie hatte ihm einen Kuß verweigert. Einen Kuß? Was war das? Es hätte sie nicht ärmer und nicht reicher gemacht ...

In zügellosem Schmerz warf sie sich auf den Stuhl; Malaita war tot, Malaita ...

Und er hatte Masing geübt und gesagt, daß sie ihm angehören würde im Leben und im Tode.

»Im Tode!«

Etwas schlich eiskalt über sie hin. Ganz still ging sie auf ihr Zimmer und kroch unter das Mückennetz.

Lila hatte Angst.

*

Rote Rosen, rote Balsaminen, roten Oleander, rote Hibiscusknospen, die Arme umspannten sie kaum. Leichtfüßig wie ihre schwarzen Vorväter glitt sie über die verlassene Hospitalsveranda, an der Annamitenhütte vorbei und hinab zum halbverfallenen Grashaus, das – immer nur auf Stunden – als Totenkammer diente.

Diesen Kuß, den sie dem Lebenden so hartnäckig verweigert hatte, sie mußte ihn dem Toten geben, um Ruhe zu finden. Zitternd schob sie die angelehnte Tür zur Seite.

Eine breite, hochbeinige Holzbank inmitten eines leeren, dämmrigen Raumes und darauf ...

Sie atmete einige Male schwer, ehe sie hinzuschauen wagte. Die gefürchteten Beine waren schon umwickelt und so auch die Hände, die um ihretwillen die Wunden verdeckt hatten. Selbst die Augen, die so hungrig bittend gefleht, waren geschlossen; nur der Mund mit seinem geheimnisvollen Schatten schien immer noch zu flüstern:

»Lila – gib' mir einen Kuß!«

Wie sollte sie nur? Wie? Wie?

Verzagt streute sie die Blumen über die Leiche, versteckte die Beine unter den langen Oleanderzweigen und drückte die Rosen gegen die Brust.

»Ruh' in Frieden, Malaita!«

Aber es half nicht. Die bläulichen Lippen im wächsernen Gesicht raunten unablässig:

»Gib' mir einen Kuß – einen einzigen!«

Etwas raschelte in der Ecke, sie fuhr zusammen, krampfte die Hände ineinander.

Eine Ratte! Nur eine Ratte ...

Langsam, rückwärtsschreitend, näherte sie sich der Tür.

Die Lippen! Nein, sie konnte nicht gehen, sie mußte ihn küssen. Schon des Masings wegen ...

Sie neigte sich tief, tiefer; sie hätte ihn lieben sollen, ihn, der jung war und der sie geliebt hatte.

Ihre Lippen drückten sich auf die kalten, bläulichen; ein jäher Schmerz durchfuhr sie; es wurde ihr kalt bis ins Mark.

Es war ihr, als habe der Tote den Kuß erwidert.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und stürzte ins Freie.

Ihre Eltern schliefen; ihre kleine weiße Schwester schlief. Eine unüberbrückbare Kluft gähnte zwischen ihr und ihnen, die sie erschauern machte, die sie das Gesicht tiefer in das Kissen drücken ließ. Sie schliefen nebenan, aber es waren Fremde, Fremde ...

Eine lähmende, grauentiefe Einsamkeit kam mit diesem Verstehen. Sie konnte sie wecken – sich in ihre Arme werfen – Trost vermochten sie ihr nicht zu bieten; ihr klarer, nüchtern wägender Sinn würde es nie fassen, daß sie nun auf ewig Malaitas Braut geworden, daß er sie rief, daß er von ihr Besitz ergriffen und daß sie folgen müsse. Ihr half keine Macht, keine!

Sie hatte sich den Tod ins Herz geküßt.

Waren ihre Lippen geschwollen?

Die Lampe in Lilas Hand schwankte unsicher, warf täuschende Schatten. Sie schienen ihr blau wie die Malaitas. Schauergeschüttelt kroch sie ins Bett zurück.

Sterben? Sterben!

Sie wiederholte Gebete, deren Sinn entschwand ihr.

Dieser Glaube war ihr fremd wie ihr Vater, verließ sie in der Stunde der Not, wurde bedeutungslos für ihr innerstes Ich.

Sie wand sich auf ihrem Lager in Zweifel und untröstlichem Leid; dann, ganz langsam, kam das furchtlose Todeserwarten der Kanaka über sie, das Gefühl des Unabwendbaren, aber ohne das qualvolle Bestreben, dagegen ankämpfen zu wollen. Es geschah! Und weil es geschah, war es recht so. Im Leben war sie künstlich Europäerin gewesen. In der Stunde des Todes siegte der Geist und das Blut der Mutter.

Er liebte sie. Wie er sie liebte! Sein Masing zog sie in das Grab nach! Seine Lippen waren weich gewesen selbst im Tode und weil sie nicht länger glühen konnten, hatte er ihre Lippen gekühlt.

»Malaita! Malaita!«

Neben ihr schliefen Fremde; wie hatte sie das nur erst heute entdeckt? Sie waren ihr nichts, nichts.

Sie ging zu ihm, dessen Lippen nach den ihren lechzten; sie wollte ihn lieben, lieben, lieben ...

Die Arme um das Kissen geschlungen, das Gesicht im Geiste gegen das des jungen Mischlings gedrückt, erlosch der Wunsch zum Leben und damit das Leben selbst.

Nichts in ihr widerstand; nach Art ihres schwarzen Volkes starb sie furcht- und schmerzlos, weil das Dasein den Wert verloren hatte.

Ein Kuß hatte sie freigemacht.

*

Der weiße Arzt schrieb »Herzschwäche« in die Todesurkunde.


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