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Ein unbedeckter Nagel

In Peking steht selten Haus an Haus. Von Höfen getrennte Bauten sind lose durch eine sie alle umgebende graue Mauer verbunden; den Augen der Nachbarn entzogen, hausen hier die Familien und Unterfamilien, die erste Frau in einem, die Nebenfrauen in den anderen Häusern, und vor dem großen Eingangstor stehen gar oft zwei Steinlöwen mit drohend offenen Mäulern. Im Torweg selbst aber sitzen die Diener in ihren blauen, talarartigen Ischangs auf roten Hockern oder rückenlosen Stühlen und erheben sich, sobald jemand über das hohe und hindernde Schwellenbrett steigt. Auf dem schmalen Dache der Mauern und des Torwegs wächst nicht selten Gras, raschelt unheimlich im Winde, und immer ist der Torweg so angelegt, daß einige Ziersträucher den Ausblick ins Innere verwehren oder ein neidisches Stück Mauer vorgeschoben ist.

 

In solch einem Torweg, unweit der Erh Tiac Hutung, umstanden Lamapriester in lichtgrauen Kutten und mit buddhistischen Rosenkränzen aus Sandelholz eine große geschnitzte Trommel, die angeschlagen wurde, wenn ein Gast die Schwelle kreuzte.

Zu den Gästen, die es da taten, gehörte Li Chuan.

Hinter ihm, unsicher auf Fußrestchen trippelnd, die Hände kreuzweise in die Aermel ihres weißen Kleides gesteckt, kam seine Frau; die Trommel schlug laut an, die Lamapriester, die an dem Grasleinengewand einen Verwandten des Verstorbenen errieten, sangen lauter und beschworen die bösen Geister eindringlicher, wegzubleiben. Die Neugierigen riefen sich laut ihre Bemerkungen zu.

Im ersten Hofe, der Verbrennung harrend, standen Bambusfiguren – ein pagodenartiges Haus, Diener und Dienerinnen, Haustiere, ein graugeflecktes, lebensgroßes Papierpferd aus Bambusgerippe und nur leicht überzogen, auf undenkbar dünnen Füßen stehend. Es schien Li Chuan spöttisch zuzugrinsen, als ahnte es seine trauerfernen Gedanken.

Wieder schlug die Trommel vor dem Eingangstore laut an, drinnen aber, vor dem eigentlichen Sterbehaus, schlug jemand die kleine, schrille Holztrommel, die mit Gold verschwenderisch eingelegt war. Hier standen die Musikanten mit ihren winselnden Posaunen, den Klapperhölzern, den geisterhaft fauchenden Flöten, den betäubenden Trommeln, und hinter ihnen öffnete sich das Trauergemach.

Da lag in einem riesigen Sarge aus Catalpaholz Fung Shan, der Wunderkoch.

Sein Anspruch auf diesen Titel wurzelte nicht so sehr in seiner Kochkunst, obschon er auch die ganz hervorragend beherrschte, sondern in seiner durch vierzigjährige Dienstzeit zur höchsten Vollendung gebrachten Geschicklichkeit, aus jedem Ding, wie billig es auch sein mochte, und wie bekannt dem Preise nach seinem jeweiligen Gebieter immer noch Geld zu schlagen. Es gab nichts und niemand, aus dem er nicht Geld zu machen, Geld zu ziehen vermochte – all sein Reichtum und die schönen Häuser, die sein eigen waren, bewiesen das –, nur aus einem nicht: Aus Li Chuan, dem dritten Neffen seines dritten Vetters.

Das wurmte ihn noch in seiner Sterbestunde, und deshalb freudewetterleuchtete es im Angesicht des trauernden Besuchers.

Sie hatten nämlich beide das gemein, sich von dem, was sie hielten, nicht mehr trennen zu können. Zudem besaß Li Chuan auch die Gabe, fortwährend Ausschau zu halten nach Gewinntragendem. Er fischte aus einem Abfallskorb im Vorbeigehen etwas heraus, putzte es, verwendete einen ebenso gewonnenen Rest, um es zu vervollständigen, und verkaufte es, wenn nötig, frühmorgens an der Diebsbrücke; verkauft wurde es. Das verabscheute der Wunderkoch, der »Squeezing« nur streng innerhalb seines Berufs in unbedingt »vornehmer« Art betrieb.

Vor zwei Jahren war Li Chuan in Geldschwierigkeiten geraten und hatte Fung Shan um eine Anleihe ersucht. Fung Shans Haar krümmte sich, sein Gehirn wurde eine kochende Zellenmasse vor Anstrengung, schnell eine unanfechtbare Ausrede zu finden, und kochte vergeblich. Zum erstenmal in seinem Leben mußte er sich geschlagen erklären. Er nahm aus seiner roten, messingbeschlagenen alten Spartruhe langsam und widerwillig das gewünschte Silber und zählte Stück für Stück vor – eins, zwei drei, vier ... immer in der trügerischen Hoffnung, Li Chuan würde plötzlich sagen, daß es nun genüge. So kamen sie zu dreißig.

»Brauchst du noch mehr?« fragte der Koch mit geschwollenen Stirnadern.

Li Chuan sprach nicht; er nickte.

»Noch fünf Taels, weil du der dritte Neffe meines dritten Vetters bist und man gegen seine Verwandten nie schmutzig sein soll.«

»Gut!«

Widerwillig ließ der Wunderkoch noch fünf Silbermünzen fallen, freute sich, daß die allerletzte etwas hohler geklungen hatte und schob die Summe hin, aber Li Chuan reichte ihm die letzte Münze mit der Bemerkung, daß er Schwierigkeiten haben könnte und eine mit besserem Klange vorziehen würde.

»Leute sind so genau!« meinte er entschuldigend.

Innerlich siedend, tauschte der Koch den Tael aus.

In China gibt es keine Schuldscheine. Einen zu verlangen, gilt als Beleidigung, und unter Verwandten sind Anspielungen auf Rückzahlung noch strenger zu vermeiden.

Daher meinte Fung Shan auch nur, indem er mit Mühe einen Seufzer erstickte:

»Nimm denn von meiner Armut und Fo gebe dir Glück! Wenn du kannst, wirst du es zurückzahlen und wenn nicht ...«, er zögerte einige Sekunden, doch jahrhundertealte Höflichkeit, ein Erbteil der Rasse, siegte, und er vollendete – »so war es dir gerne gegeben.«

Das war vor zwei Jahren gewesen, damals nach Li Chuans »Pech«. Seit acht Monaten hatte er sich indessen vollkommen erholt, und Fung Shan machte allerlei Anspielungen, rückte dem Geldpunkt immer näher, hatte selbst schon um eine Anleihe gebeten und war höflich abgewiesen worden, unter dem Vorwande, noch nicht einen Silbertaler erspart zu haben.

Fung Shan verwünschte ihn nach dem Shi Pah Yü, den achtzehn Höllen des Buddhismus, und suchte im Geiste die unangenehmste für Li Chuan aus; unterdessen aber legte er tiefe Pläne für das nahende Neujahr, wenn die Geister die unehrlichen Schuldner verfolgen würden. Er selbst war durch die Berührung mit den »weißen Teufeln« schon etwas ungläubig geworden, doch gepriesen seien die fünfhundert Lchan – der dritte Neffe seines dritten Vetters stand noch im Furchtbann des Uebersinnlichen.

Aber mitten im schönsten Planen kam der Tod, kam noch dazu in der unwürdigen Gestalt einer Verdauungsstörung, riß ihn mit sich, weil er bei dem Geburtsfeste seines achten Enkelkindes zwölf Kuchen nach dem üblichen Festmahl »nur zur Begleitung des Reisweines«, wie er selbst behauptet hatte, – zu sich genommen. Bei dem zwölften Kuchen wurde er grün, so grün wie der genossene Reiswein, und eine knappe Stunde später war er steif und tot.

Sogar im Sterben plante er noch, allerdings vergeblich, Li Chuans Untergang, und gerade als die langersehnte Glanzidee durchs Gehirn schoß, erhob sich der Magen zum letzten Kampf mit dem zwölften Kuchen.

Der Kuchen siegte.

*

Das Totengemach, das Li Chuan mit allen Zeichen großer Betrübnis betrat, bestand in Wahrheit aus zwei Räumen, deren Verbindungswand niedergerissen und mittelst eines roten Vorhangs ersetzt worden war. Durch eine Oeffnung darin sah man das Kopfende des Sarges, in dem Fung Shan lag, gebettet auf fünf Seidendecken verschiedener Farbe, die letzte Decke rot, und über dessen Leiche sich wieder fünf Seidendecken mit einer Oeffnung für das Gesicht lagerten. Die oberste war, wie vorgeschrieben, scharlachrot, die einzige, den Geistern wahrhaft furchteinflößende Farbe. Vor dem Sarge stand der Opfertisch mit ewigem Lichte, Lieblingsspeisen des Verstorbenen und Erstfrüchten des Jahres, und im grünen Becken davor brannten Räucherstäbchen.

Nur die Kuchenart, die zu seinem frühen Ableben geführt hatte, war taktvoll ausgeschlossen.

In einem irdenen Gefäß, mitten auf dem Boden, verbrannte man Gold- und Silbertael in Papiernachahmung, um den Geistern zu zeigen, daß der Neueintreffende reich war. Ein armer Mensch ist eben in der anderen Welt auch nichts als – ein armer Teufel ...

Li Chuan, die Hände übereinandergelegt, das Gesicht zu Trauerfalten verzogen, näherte sich dem Kissen am Kopfende des Sarges gerade vor dem Opfertisch; machte den üblichen Kotau, indem er mit der Stirne fast das Kissen berührte, und etwas von der Weihe des Augenblicks beschlich ihn; dennoch gingen die 35 Taels angenehm durch sein Gedenken. Ob Fung Shan selbst als Geist noch daran dachte? Dies flößte ihm eine jähe Furcht ein, und der dritte und letzte Kotau war deshalb auch etwas überstürzt.

Nach ihm kotaute seine Ehehälfte.

*

Die Gäste kamen und gingen wieder.

Li Chuans »Dumme aus den inneren Gemächern« war hinter dem Vorhang verschwunden, hinter dem die Witwe des Wunderkochs auf den Knien lag und laut wimmerte. Sie hob die Trauernde der Sitte gemäß auf, und damit endete das Klageschreien beider Taitais, denn sie rückten eng zusammen und besprachen lieber alle Einzelheiten der Totenfeier – die zu verbrennenden Dinge, die Menge der Opfergaben, die zu erwartenden Geschenke Bekannter und vertrauterer Freunde; sie erwogen, wie oftmal der Sarg lackiert werden sollte und wie oft, ohne sparsam zu scheinen, zum Lack Porzellanpulver gegeben werden sollte; sie berieten auch, während sie Grüntee schlürften, was man in der endlosen Traueranzeige alles anführen würde und welche Eigenschaften zu betonen waren. Auch bedauerten sie, daß gerade die wertvollsten Tugenden anstandshalber nicht erwähnt werden konnten.

Unterdessen schmolz allmählich das Tageslicht in das Grünblau des Abends, und in den Raum stahlen sich die langen Schatten der kommenden Nacht. Li Chuan, der sich schon die fünfte Tasse Grüntee eingeschenkt und den Kuchenteller seiner Last beraubt hatte, sah sich nun unschlüssig um; seine ewig beutegierigen Augen streiften den Opfertisch, doch der altgewurzelte Aberglaube hielt ihn ab, sich ihm zu nähern; sie glitten forschend über den kahlen Boden und streiften die vier Wände, deren Nägel alle rot verkleidet waren, um die bösen Geister abzuschrecken.

Da fiel sein Blick auf die Wand dicht an der Tür. Der letzte Sonnenstrahl spielte dort mit etwas Glänzendem; Li Chuan trat näher.

Dicht hinter dem roten Türpfeiler saß ein schöner neuer Nagel mit gewundenem Kopfe ...

»Er ist gar nicht verhängt, dürfte vorschriftsmäßig nicht hier stecken«, murmelte Li Chuan; und da der Nagel immerhin einige Tungsel wert war, zog er ihn, nach einem scheuen Seitenblick, aus der Wand und ließ ihn unter dem weiten Ischang verschwinden.

»Den beiden Taitais nützt er doch nicht«, philosophierte er.

Da schob sich der Vorhang zurück, und seine Frau erschien.

»Hast du dich satt gegessen?« forschte Li Chuan, der gerne eine Mahlzeit ersparte. Was man ersparte, war ja so gut wie verdient.

»Es gab viele Kuchen«, erwiderte sie bescheiden.

»Es hätten noch mehr sein können – indessen – –« er klopfte sich von oben bis unten ab, »für heute genügt es.«

Damit schritt er ihr voraus dem Ausgange zu.

*

Die Freunde des Verstorbenen wachten vor dem Vorhang, die Frauen dahinter; bald spielten die Leute im Hofe ihre Posaunen, Flöten und schlugen die Trommeln, begleitet vom Geklapper der Stäbchen, oder ließen die Bronzestange gegen den Gong fallen; bald jammerten die Frauen in schrillen endlos verlängerten Einzellauten. Der Weihrauch kroch in feinen blauen Wölkchen um den roten Vorhang, und die Wachskerzen mit Drachenmuster knisterten von Zeit zu Zeit, wenn eine plötzliche Pause eintrat und die Stille sich jäh wie ein Sargtuch senkte.

Gegen Mitternacht kamen die Mönche aus dem Buddhatempel; voran der Spieler mit den goldenen Kugeln, die immer wieder angeschlagen wurden und zum Schluß der oberste Priester in scharlachrotem Umhang, da und dort mit Gold gestickt, den einen Aermel und einen Teil des talarartigen Rockes aus glänzend schwarzer Seide; die Mönche in Purpurkutten stellten sich um ihn, schlugen mit einem Stäbchen gegen kleine flache Gongs und sangen geisterbeschwörende, friedenerflehende Mantra. Der Hauptpriester aber schwenkte sachte eine Art Leuchter aus drachengeformtem Holz, in dem ein Räucherkerzchen glimmte.

Aus dem ersten Hof klang der Ton der großen Trommel; leise wimmerten die Flöten, gedämpft, vereinzelt die Posaunen, und immer fiel und stieg der Gesang der Mönche, unendlich schwermütig, begleitet vom dumpfen Anschlag des Gongs.

So oft er verstummte, heulten die Frauen hinter dem Vorhang laut ein kurzes Gebet. Nichts war unheilvoller als Stille.

So verrann die erste Nachtstunde, dann die zweite.

Die Mönche hatten sich zurückgezogen, nur die Musikanten griffen immer wieder zu den Instrumenten, um die Geister fernzuhalten, und die Frauen stimmten ihr Klagelied an, um das Grauen der Stille zu überwinden.

Da erklangen plötzlich gegen den Sarg, dessen Deckel schon herabgelassen war, drei starke Schläge.

*

»Der Geist«, flüsterten die Frauen, drückten sich scheu gegeneinander und hielten lauschend den Atem an. Die Musikanten schlugen entsetzt die Trommel, heulten in die Posaunen und schrillten aus den Flöten um Gnade. Der Geist mußte einen unfertigen Kopf haben, wie das geschehen kann, wenn man zu plötzlich stirbt, und kehrte zurück ...

Als ihnen Kraft und Atem ausgingen, erklangen wieder, diesmal noch stärker, Schläge und lautes Pochen; es kam aus dem Sarge.

Da stürzten sie alle aus dem Raum, standen zähneklappernd im Hofe, lauschten ...

Bum – bum – bum – bum – bum – – – kam's dumpf aus dem Sarge.

»Er muß an einem unglücklichen Tage gestorben sein«, flüsterte einer der Männer.

»Sein Geisterkopf war noch nicht fertig ...« meinte der zweite.

»Nun wachsen ihm Federn und Flügel, und er wird ein Kobold«, warnte jemand und glitt dem Tore zu; verschwand. Geister konnten unangenehm werden. Sie erdrosselten im Vorbeifliegen.

»Huuuuu…jijijijijijiji…« heulten die Frauen.

Bum – bum – bum – klang es gegen den Sargdeckel.

In die kurze Stille, die folgte, erklang ein Krach. Der Geist mußte den Deckel abgehoben und auf den Boden geschleudert haben. Atemlos, zitternd warteten sie.

Ein Lamapriester, mutiger als die übrigen, betrat den Raum. Da saß der etwas hergenommene Wunderkoch am Rande seines eigenen Sarges, hatte die Seidendecken abgeworfen und fluchte in einer Art und mit einer Fertigkeit, die mehr als alles andere dazu beitrug, den Lamapriester zu überzeugen, daß Fung Shan noch Mensch und noch nicht Geist war, denn was immer die Geister sonst beginnen mochten – zu fluchen schien ihnen nicht gegeben ...

*

Die Musikanten, die Lamapriester, die Bettler in Leichenträgergewändern vor dem Tore, waren alle verschwunden, die Weihrauchkerzen verbrannt. Fung Shan saß noch immer am Rande des Sarges und aß die Kuchen vom eigenen Opfertisch.

»Du hast mit Oel gespart«, tadelte er seine verschreckte Gattin, die sich nicht ganz klar geworden war, ob sie seine Auferstehung mit Freude oder Kummer erfüllte, »die Kuchen sind schlecht.«

Sie schwieg gehorsam, und er sah sich im Raume um, prüfte alles.

»Warum ist denn mein Pfeifennagel nicht auch rot verhangen?« Er schwang sich vom Sarge herab. »Schöne Wirtschaft das! Da hätte mich der böse Wächter der Unterwelt daran hängen und selbst alles vom Opfertisch nehmen können. Und du weißt doch, daß es ein besonderer Nagel war, einer mit einem gedrehten Kopfe, wie ihn die ›weißen Teufel‹ lieben ...« Dabei suchte er das Beste aus den Opferschüsseln.

»Leuchte des Hauses, du irrst dich,« widersprach sie schüchtern. »Er muß noch stecken. Das rote Fleckchen wird auf den Fußboden gefallen sein.«

Sie suchte vergeblich nach Fleckchen und Nagel.

»Es waren viele Gäste ...« meinte sie umherspähend.

»Wer war alles hier?« erkundigte er sich interessiert.

»Tsing Fu und Han Tschang, Kung Yö und seine Freunde und ...« sie hielt plötzlich inne und sah ihn an, »Li Chuan und seine Frau. Während sie bei mir hinter dem Vorhang verweilte, aß er alle Kuchen vom Gastteller.«

»Die unverschämte Wanderheuschrecke!«

»Er sammelt alles ...«

»Du hast recht ...« rief er, und jähes Frohlocken kroch in seine Stimme. »Nun hab' ich ihn!« Und das weiße Totenhemd, das einzige Kleidungsstück, das er anhatte, fester um sich raffend, stürzte er zur Türe hinaus.

»Mein Herr und Gebieter,« schrie seine Frau aus vollen Lungen hinter ihm her, »du wirst doch nicht so ausgehen? Du steigst ja kaum aus dem Sarge!«

»Eben deshalb!« rief er zurück und verschwand um die Ecke.

*

Li Chuan hatte, daheim angekommen, erst all die ergatterten Kuchen ausgepackt, die besten und größten für sich ausgesucht und die kleinen und einfacheren seiner Ehehälfte zugeschoben; dann setzte er sich auf den K'ang – die steinerne Ruhebank – und schwelgte in erfreulichen Gedankenbildern. Fünfunddreißig Taels, das will sagen, über fünfzig Silberdollar, waren ihm erspart geblieben. Ehre dem Kuchen, der Fung Shans Magen den Gnadenstoß gegeben.

Allmählich fröstelte es ihn, und er zog sich ins innere Gemach zurück, legte sich drinnen auf den geheizten K'ang, schob die Rolle unter das Haupt und schlief mitten im Planentwerfen ein.

Ein leichtes Geräusch weckte ihn.

Das Mondlicht fiel in breiten, ungleichen Streifen durch das Fenster, machte den Drachen des Teppichmusters grausig lebenswahr, glitt an den Phönixen der alten Schränke nieder und traf gerade das Einhorn, auf dem Yuen S' Tien Dschuen ritt; er streifte aber noch etwas anderes ...

Li Chuan standen plötzlich die Haare zu Berge, die Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopfe, und ein gurgelnder Laut entfuhr seinen Lippen, denn dort, dicht an der Türe, genau in dem gleichen schönen Seidenhemd, in dem er im Sarge gelegen, stand ... der Geist Fung Shans.

»Waaaaaa – – aaas www – wüüüü – üüüüünschst duuu?« stammelte Li Chuan, sich aufrichtend.

»Dritter Neffe meines dritten Vetters, kennst du mich?!« fragte der Geist. Seine Stimme klang hohl und schien von fern herüberzuklingen.

»She ... she ...« bejahte der schrecksteife Mund.

»Weißt du, warum ich komme?« setzte der Geist das Verhör fort.

»Bu ... she ...« versuchte Li Chuan zu leugnen.

»Du weißt es nicht, dritter Neffe meines dritten Vetters?« wiederholte Fung Shan und glitt ein wenig näher.

»She, she ... erhabener Geist ... ich errate es!«

»Dann zahle, was du schuldest, ehe es zu spät ist!«

»Ich werde bei deinem Begräbnis ...« begann Li Chuan, der hoffte, sich mit billigem Papiergeld freizukaufen.

»Du zahlst in Silber und jetzt!«

Zitternd kroch Li Chuan vom K'ang herab und wimmerte –

»Ich habe – – nur wenig – – Geld!«

»Geister sehen alles ...« erwiderte Fung Shan streng.

Der Deckel der Kiste flog zurück; zögernd wühlten die langnägeligen Finger in den Truhentiefen; endlich erfaßten sie einige Silbertaels und brachten sie nach oben. Das Mondlicht machte sie funkeln wie Sterne.

»Wer einem Geist zahlt, der muß doppelt zahlen, weil der Totenwächter die Hälfte bekommt! Wußtest du das nicht? Und wer dabei dreimal zögert, der ...«

»Wann sahst du mich zögern?« stotterte Li Chuan, große Schweißtropfen auf der Stirne.

»Zähle!«

Sehr langsam und widerstrebend schob Li Chuan einen Silbertael nach dem anderen an den Truhenrand. So oft einer verdächtig aussah, verwarf ihn der unerbittliche Geist.

»Vierundsechzig, fünfundsechzig ...«

»Die volle Summe!« befahl Fung Shan hohl. Die Hüter der Unterwelt fordern ihre Abgaben.« Er bemühte sich, möglichst hohl und dabei möglichst laut zu sprechen, denn es war ihm, als habe der erste Hahn schon zum Krähen angesetzt, und krähte er, so mußte er verschwinden, dann war die Geisterstunde vorüber.

Und Li Chuan, als wüßte er dies, zählte langsam, allzu langsam, Tael auf Tael.

»Höre, dritter Neffe meines dritten Vetters, wenn ich mit dem Finger siebenmal gegen diese Wand gestoßen habe, ist meine Zeit um. Sind die siebzig Taels da nicht in meinem Besitze, so wird deines Uebels auf Erden kein Ende sein.«

»Neunundsechzig, siebzig!« heulte das Opfer und legte den letzten Tael zu den übrigen.

Lautlos, wie es sich einem Geist geziemte, strich Fung Shan das Geld ein.

»Leb' wohl, dritter Neffe meines dritten Vetters, und merke dir: Wer dem Shi Pah Yü entgehen will, der darf auf Erden kein Abfallsammler sein.«

»Onkel, gedulde dich noch einen Augenblick,« stammelte Li Chuan, »ist es erlaubt, eine einzige Frage an dich zu richten?«

»Es ist erlaubt!«

»Wie wurdest du frei? Da waren die Priester und die ... die Musikanten und Weihrauch und ... und ich dachte ... Geister dürfen nicht ...«

Fung Shan spielte seinen Trumpf aus.

»Du nahmst einen Nagel ... einen unbedeckten Nagel ... und ich ...«

»Du hingst daran, weil man ihn nicht verhängt und dich der Geisterwächter daher daran befestigt hatte, während er vom Opfertische naschte ... o ich sündhaftes Kamel!!«

»Zum erstenmal seit du eigenes Denken gelernt, hast du nun die Wahrheit gesprochen, dritter Neffe meines dritten Vetters, und viel mag dir deswegen verziehen sein!«

Da erscholl laut und warnend der erste Hahnenschrei und im nächsten Augenblick verschwand auch das letzte flatternde Endchen des weißen Totenhemdes Fung Shans.

»Siebzig Taels wie in den Erdboden gefahren,« stöhnte Li Chuan, »und alles um eines unbedeckten Nagels willen!«

Aber noch wußte er nicht das Schlimmste.


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