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Erfüllung

Der Wind krallte sich förmlich an die Hausecken. Er fuhr durch das zerzupfte Fell der Kamele und bedrohte die Schüsseln des Wanderkochs. Den Straßenbarbier hatte er schon unmöglich gemacht, aber am meisten frohlockte er über die Rikschakulis, die zusammengekauert im unsicheren Schutz des eigenen Gefährts auf einen verspäteten Fahrgast warteten.

Der letzte Kuli der Reihe war Kam Beng. Er war zu alt für diesen Beruf, der die Kräfte schnell verbrauchte, aber das Schicksal, das gibt, am liebsten jedoch nimmt, hatte ihm nichts gelassen als diese Rikscha und ein paar Muskelreste, mit denen er sie zog. Wenn der Winterwind so schneidend um die Ecken fuhr wie heute, war es ihm jedesmal als würde er drinnen zu Wasser. Er löste sich auf ...

Er hatte diesen Platz gewählt, nicht etwa weil es der günstigste der langen gewundenen Straße, sondern weil ihm schräg gegenüber ein Sargladen war und er sich ausmalen konnte, welchen Sarg er haben würde, wenn einer der fünfhundert Lchan vor ihm erschiene und spräche »Wähle!«

Wie es einem auf Erden erging war schließlich von wenig Bedeutung. Es war wie eine Rikschafahrt zwischen zwei langen Wartezeiten und wie es dabei weniger auf die kurze Fahrtfrist als auf das lange Warten ankam – ob behaglich oder unbehaglich – so auch mit Hinsicht auf einen richtigen Tod und ein passendes Begräbnis. Vor einem schönen Sarg hatten selbst die Geisterwächter Ehrfurcht und vielleicht bestimmte einem der Richter der Unterwelt, der gerechte Tung Yüh Da Di, einen besseren Platz im Jenseits, wenn man sich diesseits einen guten Sarg verdient hatte.

Söhne hatte er keine. Sie waren tot, lange tot. Alles war tot: seine Kinder, seine Frauen, seine Wünsche, seine Hoffnungen, seine Gesundheit – nichts überlebte als dieses eine Sehnen nach einem Sarge.

Drüben, der hellbraune Catalpasarg, geräumig wie ein Kasten und mit den vorgeschriebenen Seidendecken, den Gipsrollen (um ein Schaukeln der Leiche zu verhindern), dem geschichteten Papiergeld. Gute Söhne schenkten solch eine Herrlichkeit ihrem alternden Vater, aber er war allein wie der Steinadler auf den Felsen vor Tibet und mußte froh sein, wenn ihm jemand eine Tasse heißen Grüntees reichte.

Der Wind blies durch und durch. Langsam kroch Kam Beng dicht an den Laden. Es blies hier nicht weniger, aber wenn er die Hand ausstreckte, konnte er das Holz fassen. Liebkosend glitten die knorrigen Finger darüber auf und ab. Der Kaufmann musterte ihn verstohlen, sah zwischen zwei kleineren Särgen hindurch, nickte. Ein Europäer hätte über den wahnsinnigen, unerfüllbaren Wunsch gelächelt, der Asiate verstand. Seine Blicke trafen die Kam Bengs im Druck des Verstehens.

»Was kostet er?« erkundigte sich der greise Kuli, um künftighin besser träumen zu können.

»Alles in allem? Dreihundert Dollar.«

Es war wie er es erwartet hatte. Seit Jahr und Tag hatte er gespart und gerade 25 Dollar zur Seite gelegt. Er trug sie in ein altes Tuch geknüpft dicht am abgemagerten Leibe. Er müßte noch zehn Jahre lang laufen und in solchen Wintern auf Kunden warten, wollte er so viel ersparen. Und er fühlte, daß er nicht zehn Wochen mehr zu laufen hatte. In mancher Nacht, in seinem Loch im Chien Men, erbrach er Blut.

Die ungenügend erhellte Straße herab kamen drei Fußgeher. Die Kulis drängten sich mit ihren Rikschas heran und wurden kurz abgewiesen. Mechanisch war auch Kam Beng zu seinem Gefährt zurückgeeilt. Sie würden kräftigere Zieher wählen, aber Pflicht war es, den Göttern die Arme hinzuhalten. An ihnen, dann etwas fallen zu lassen ...

Der dritte und letzte der Wanderer besah sich zweimal das eingefallene Gesicht des Alten. Ohne Umschweife, mit seltsamer Härte, sagte er: –

»Mit dir geht es zu Ende.«

»Wohl.«

Die unerschütterliche Ergebung in das Schicksal, die dem Osten eigen, durchzitterte die Antwort.

Der Fremde winkte ihm und setzte sich in die Rikscha, die beiden anderen Männer blieben allmählich zurück. Während die Rikscha dahinrollte, fragte der Unbekannte: –

»Was nützt der letzte Rest deines Lebens den Deinen? Hast du Lust und Mut ihn wegzuwerfen, so gebe ich dir Geld – –« er hielt abwartend inne und fügte, als Kam Beng schwieg, hinzu – »viel Geld.«

»Ich bin allein, ohne Söhne, ohne Helferin in den inneren Gemächern.« Und er zog kräftiger an der Lenkstange.

»Wenn man so nahe vor Tung Yüh Da Di steht, schweigt man, und ich hätte jemand gebraucht, der schnell läuft, mit seinen letzten Kräften läuft und ... schweigt. Du bist gereift ... aber ich irrte mich. Bleib' stehen!«

Während der seltsame Fahrgast Miene machte, auszusteigen, kamen dem Kuli andere Gedanken. Wozu diente ihm sein Leben? Wenn er Geld hätte ...?

»Gebieter,« rief er unvermittelt, »was würdest du zahlen, wenn ich dir den Rest meines Lebens verkaufte? Würde es für einen Sarg reichen – einen echten Catalpasarg?«

»Was kostet der Sarg, den du dir wünschest?«

»Dreihundert Dollar ...« er war im Begriff gewesen hinzuzufügen, daß er 25 Dollar schon erspart hatte, aber die Vorsicht des Morgenländers ließ ihn schweigen. Ein billiger Sarg war immerhin besser als keiner.

» Dreihundert Dollar! Ist dein armseliges Leben eine solche Summe wert?«

Kam Beng wußte, daß er vom Scheitel bis zur Zehe, Lumpen, Rikscha und Rikschadecke eingerechnet, nicht so viel wert war, daher seufzte er nur. Glück kam zu anderen Menschen, ihn streifte es immer ganz sachte, um sofort zu entfliehen. So hatten ihn Frauen und Kinder verlassen, sein ...

»Wie lange brauchst du, um dir den Sarg zu kaufen und zurückzukehren?«

Kam Beng traute seinen Ohren nicht.

»Der Händler ist ganz nahe. In einer Viertelstunde könnte ich wieder hier sein.«

»So bleibe ich hier bei deiner Rikscha. Hier ist das Geld!«

Es waren drei Hundertdollarscheine wie Kam Beng sie noch nie gesehen, weniger je besessen hatte. Einen Augenblick lang stand er sprachlos, dann lief er schwankend die Straße entlang und verschwand im Laden.

*

Alles lag darin – Decken, Rollen, Papiergeld. Kam Beng liebkoste die einzelnen Stücke, beschrieb genau das Haus und vom Hause das Hinterhaus, in dem er wohnte, beschwor den Kaufmann zum zehnten Male den Sarg gewiß noch an dem Tage abzuliefern. Dieser hegte allerlei Zweifel über den Ursprung der Kaufsumme, aber er schwieg. Ihn rührte auch die kindische Glückseligkeit des Alten.

»Gerne hätte ich ihn einmal ausprobiert ...« meinte er zögernd mit einem furchtsamen Blick auf die Uhr, die da hinten im Raume tickte und den Flug der Minuten verriet, »doch fehlt mir die Zeit. Vergiß nicht ...« er kreuzte die Schwelle, kehrte noch einmal zurück, bat – »Gib' noch ein Totenhemd dazu ...«, und als der Kaufmann verächtlich lachte, sagte er mit etwas, das fast prophetisch klang – »Fo wird den Leib deiner Frauen segnen und du wirst der Vater vieler Söhne sein! Denke an mich, der ich nicht eine armselige Wanze besitze!«

Der Kaufmann hatte ein ganz altes Totenhemd, vom Liegen schon etwas brüchig geworden. Es war gut, viele Söhne zu haben und schlecht, einem Sterbenden eine Bitte abzuschlagen, und daß es mit dem Sarge eilte, das merkte er.

»Möge Fo deinen Wunsch erhören! Hier ist das Hemd. Ich schenke es dir.«

Der Kuli nickte nur flüchtig über die Schulter zurück. Der Fremde winkte ungeduldig. Die Frist war abgelaufen.

Nun mochte kommen was wollte.

*

Das Tor, vor dem Kam Beng kältezitternd wartete, war fest geschlossen und über die hohe Mauer fiel auch nicht der matteste Abglanz eines Lichts, dennoch wußte er, daß sich in jedem gegebenen Augenblick die Pforte öffnen und der rätselhafte Fremde, der ihm zu warten geboten, erscheinen konnte. Der Befehl war ihm geworden nicht einmal die Lenkstange sinken zu lassen – unentwegt bereit zu sein und dann zu laufen ... zu laufen ... und unverbrüchlich zu schweigen. Auch wenn sein Leben der Preis war.

Der Wind fuhr durch ihn, und Kam Beng war es, als risse er die armen Fleischreste von den Rippen, aber das rein körperliche Unbehagen ging in der rauschenden Seligkeit reinster Wunscherfüllung unter. Wenn Wun Chang sich einigermaßen beeilt hatte, war der Sarg nun unterwegs. Heute Abend würde er ...

Das Tor knarrte und schnappte eine Sekunde später feindselig zu. Mit einem Satz war der Fremde in der Rikscha und Kam Beng lief wie er noch nie gelaufen war. Die Kälte und der Wind, der nun hinter ihm herfegte, halfen ihm. Nach und nach wich das Gefühl der Steife, und er fühlte sich jung und frisch wie damals als er seine ersten Söhne gezeugt hatte. Eine tiefe Lebenslust, wie er sie nie vorher empfunden hatte, erfüllte ihn. Es war ihm so sonderbar leicht und nur von Zeit zu Zeit stieg etwas hinauf in Kehle und Mund, das warm war und das er ausspie. War es sein Blut? Was tat's? Er hatte einen Sarg und Papiergeld und weiche Decken, auf denen es sich Hunderte von Jahren weich schlafen ließ, wenn einmal der wohlgeleimte Deckel sich gesenkt hatte.

Staunen – ja staunen – würden die Geister.

Während er lief und lief mit dem schneidenden Winde im Genick und dem Fremden leise keuchend in der Rikscha, überlegte er, ob es ein günstiger oder ungünstiger Tag zum Sterben war und erinnerte sich den Tag im Kalender rotumrandet gesehen zu haben. Alles paßte. Selbst sein Geisterkopf würde fertig sein und Tung Yüh Da Di ...

»Schneller!«

Indem Kam Beng alle Kräfte anspannte, vernahm er hinter sich das gedämpfte Laufen leichtbeschuhter Füße. Gleichzeitig bog die Rikscha, wie verabredet, in eine dunkle Seitengasse ein. Hohe Mauern, nur von scharlachroten Toren unterbrochen, schoben sich an das Gefährt heran.

»Jetzt!«

Wie auf einen Ruck stand die Rikscha, der Unbekannte schwang sich auf und über die Mauer und verschwand. Kam Beng lief weiter, aber die Unterbrechung hatte ihm bewiesen, daß seine Kräfte zu versagen drohten, und dennoch kam es gerade jetzt auf das beste Laufen an. Das leere Gefährt rollte zum Glück fast wie aus eigenem Antriebe.

Nach zwei oder drei Wendungen erbrach er neuerdings Blut, und rote Kreise tanzten vor den Augen. Er merkte, wie sich seine Verfolger näherten, wie sich eine Hand schwer auf die Schulter legte und eine herrische Stimme ihm irgendeinen Befehl zuraunte, dann fühlte er sich zu Boden gleiten, jemand stieß mit dem Fuße gegen ihn und endlich – durch einen Nebel – noch verschwommene Worte wie ...

»Es ist aus mit ihm!«

Hierauf umfing ihn wohltuende Stille und selbst der scharfe Wind, der von der Gobiwüste herüberblies, war kaum merkbar hinter den hohen Mauern. Kam Beng öffnete und schloß die Augen. Hier war gut sterben.

Sterben?! Aber sein Sarg, sein wunderschöner Sarg!

Noch einmal kam das Blut heiß und würgend nach oben, dann umfing ihn Vergessen.

*

Im Raum, den er bewohnte, brannte Licht. Ein elendes Kerzlein, doch immerhin etwas, das sich im Catalpasarge spiegelte. Ein Kamerad hatte ihn gefunden und heimgebracht und als Gegengabe für die Rikscha versprochen, am folgenden Tage das Begräbnis zu leiten und Papiergeld zu brennen. Nun mochte Kam Beng ruhig das Ende abwarten.

Er hatte sich langsam entkleidet, denn die Finger gehorchten nicht. Sie griffen immer daneben und waren auch so unbehaglich steif, aber als er nach langem Bemühen in seinem wallenden weißen Totenkleid aus weichster Seide stand, fühlte er sich so glücklich wie ein junges Mädchen am zweiten Neujahrsfeiertag, wenn es zu Freiheit und Fest in den besten Gewändern ging. Er strich liebkosend an seinem abgezehrten Körper nieder und lächelte stillvergnügt, wie er in seinem Leben selten gelächelt hatte. Damals – als er die erste Nacht bei seiner ersten Frau verbracht hatte, später, als er einen Sohn in den Armen gehalten und ...

An all das würde er denken, wenn er sich erst zurechtgebettet hatte. Er zog die weißstoffenen Sargsandalen an, legte einige liebe Erinnerungsstücke – kaum einige Tungsel wert, – in eine Sargecke und stieg hinein, nachdem er die fünf untersten Decken glattgestrichen hatte.

Wie weich alles war! Wie angenehm man sich darauf zurechtstreckte! Und warm! Im Totenhemd fror ihm. Er legte die Gipsrollen dicht an den abgezehrten Leib und breitete Decke auf Decke über sich aus. Durch die Oeffnung in jeder sah er das Zittern des Kerzchens drüben auf dem Tische.

Nun war auch die letzte, die geisterverscheuchende, scharlachrote Decke über ihn gebreitet, und er schloß die Augen, erstens weil seine Arbeit getan war und zweitens, weil er wieder einen Blutsturz befürchtete. Er wollte um keinen Preis die schönen Decken verderben, und wenn er ganz ruhig blieb, ganz ruhig ...

Es gelang ihm. Er merkte förmlich, wie alles an ihm ruhiger wurde, von den Füßen angefangen bis weiter und weiter hinauf ... auch die Finger, die Arme rührten sich nicht. Schön war es, so zu ruhen, schön ...

Er lächelte selig.

Sein Wunsch war erfüllt worden. Er lag in einem Catalpasarge und Tung Yüh Da Di würde ihn anerkennen. Der Atem ging langsamer, langsamer, aber das Lächeln der Erfüllung verblieb.

Auf dem Tische erlosch das Kerzlein.


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