Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Taviuni

Träge Wellen verwandelten losgerissenes, braungraues Seegras in sich rastlos krümmende Schlangen; nässeglänzend, wirr durcheinandergeworfen, lagen Muscheln, Ndilo-, Kerzen- und Makoitanüsse neben schwarzen Entadas und hellgrauen Stachelbohnen am hügeligen Strandende; regenschwere, abgestorbene Palmenwedel krachten warnend, brachen, fielen klatschend auf weiße und rote Tropensternblumen. Die Inseln ruhten auf grauen Wassern wie dicht verschleierte Seejungfrauen.

Oskar Randinger saß, die Pfeife in der Mundecke, auf der Schwellenstufe seines Holzbungalows und beobachtete verträumt die feinen Ströme, die an den kahlen Aesten und dem grauen Stamme des Totobaums ununterbrochen niederrieselten, dachte unwillkürlich beim Anblick der roten Hibiscusblüten an rote Lendentücher um braune Hüften ...

Nichts vom düstern Trübsinn kalter Winterregen lag im beharrlichen Sturz der Tropfen; silbern, durchsichtig war das umschließende Grau; verwunderte Freude lachte aus Blüten, von Blättern, bebte wie auf Mädchenlippen im ersten Frühlingserwachen.

Vielleicht lag etwas verborgene Wehmut im wallenden, sanft aufsteigenden Erddunst wie lang verklungene Empfindungstöne, die unklar durchs Erinnern zittern ...

Der nasse Sand knirschte unter festem Fußfall; eine frische Knabenstimme sang eine uralte Südseeweise mitten hinein ins tonreiche Plätschern und Rascheln: –

»Yari au malua, yari au malua
Oi au na saro, ni nomu vanua,
Yi mudokia, yi mudokia!«

»Schleif mich sachte, schleif mich sachte, denn Kämpfer deines Landes bin ich. Sag' Dank! sag' Dank!«

Lied und Schritte verklangen.

Oskar Randinger haschte mit zitternden Greisenhänden nach einem Halt, starrte aus angstgläsernen Augen in sich dichtende Regenstreifen; richtete sich mühsam auf, schwankte wie ein Trunkener ins Innere.

»Yari au malua, yari au malua ...«

Fünfzig Jahre waren über ihn hingerollt wie Sturzwellen über ein Korallenriff, tosend einzelne, dumpf, kronenlos andere, seit er das Lied zum letztenmal gehört und dennoch schnitt jedes der Worte in sein Herz – nicht wie Messerstiche, sondern wie die wütenden Hiebschnitte eines angreifenden Sägefisches.

Fünfzig Jahre!

Nichts brachte Vergessen. Er hob den Deckel eines alten Koffers, wie Seeleute ihn bevorzugen; entnahm ihm eine Holzschachtel ungeschickt mit vergilbtem Band umbunden, ließ sich neuerdings auf der Schwelle nieder und löste zögernd den Knoten ...

Im verstaubten Innern lag eine ungewöhnlich lange Gabel, die, kreisartig, in vier starken Zähnen endete.

»Udroudro!« – flüsterte der alte Mann, »das kleine Ding, das Gewichtiges trägt«.

Und mit altersschwachen Fingern drehte er langsam die seltsame Gabel.

*

Wie die Bilder auf ihn einstürzten! Wie unter dem Blitzlicht bewußten Gedenkens jede Einzelheit in blendender Grelle auftauchte!

Hinter hohen Kokospalmen glühte neuerdings der Himmel, wie wenn man durch ein Rosenblatt sonnenwärts blickt. Auf dem tiefen Grün des Unterholzes lagen schon bläuliche Schatten; aus nächster Nähe erklang das eintönige Anschlagen der Lali, der Fidschitrommeln, dann wurde er – verwundert durch das zähe Vaugestrüpp brechend – Zeuge eines furchtbaren Vorgangs.

Ihm gegenüber, Glieder der engen Kette kreisbildender schwarzer Eingeborener beider Geschlechter, standen sechs Männer, drei an jeder Seite einer von vielen Armen umstrickten Gestalt und zogen an einem, um den Hals des Opfers geschlungenen Seil; ein entsetzliches gurgelndes Röcheln und der Gehaltene fiel, jäh losgelassen, erwürgt zur Erde. Ehe Randinger zum Handeln gekommen, war ein halbnacktes altes Weib vorgesprungen, hatte etwas gerufen, war erfaßt und mit dem Seil umworfen worden, an dem die Männer neuerdings mit starken Rucken zogen, mit dem einzigen Unterschied, daß das schaurige Todesröcheln durch das von jemand über den Kopf des Opfers geworfene Tapatuch teilweise gedämpft wurde.

Sein Vorspringen wurde nachdrücklich aber nicht feindselig verhindert und sein die Menschenkette schnell ablaufender Blick haftete an dem Gesicht einer Teilnehmerin dicht neben ihm, deren fast noch kindliche Züge ein eigenartig befriedigtes Entsetzen ausdrückten.

»Wen ermordet man?« fragte er mitten in das nun laute und allgemeine Wehklagen hinein.

»Niemand!« erwiderte einer der seiltragenden Männer, der sich nun mit der gleichen Ruhe, mit dem er am Strang gezogen, das oberste Glied des kleinen Fingers erst der einen, dann der anderen Hand abhieb. Die Menge klatschte Beifall.

»Wer sind diese Toten?«

»Mein Vater und meine Mutter,« entgegnete er und beugte sich über die erste Leiche, der er zwei Walfischzähne in die steif werdenden Finger drückte.

»Wirf' sie gegen den Vandrabaum auf dem Hügel Takiveleyawa und du wirst den Weg zur Unterwelt offen finden!« hörte Randinger ihn murmeln.

»Vater und Mutter! Wie furchtbar!« stöhnte er.

»Warum?«

Die schimmernden Schwarzaugen der jungen Nachbarin sahen voll Staunen zu ihm auf.

»A mate na rawarawa – leicht ist der Tod. Zeugt es nicht von Kindesliebe, die Eltern ins Tal der Schatten zu schicken, bevor Alter und Krankheit sie geknickt haben wie sturmgebrochene Blumen?«

»Selbst wenn ...« begann er zögernd, die fremde Ansicht überrascht erwägend, »selbst wenn es für einen Mann, der wählen darf, richtig sein mag, so darf man ein Weib ...«

»Großmutter wollte es! Sie bat Gras zu werden unter ihm,« wandte das Mädchen ein. »Warum sollten sie nun getrennt werden, nachdem sie so oft das Sprossen und Wachsen der Yams vereint gesehen?«

»Möchtest du auch lieber mit dem sterben, den du liebst, als allein leben?« Die jähe Frage inmitten von Leichenklagen und dem Auslegen des Grabes mit feinen Matten kam ungewollt über seine Lippen.

»Wenn ich ihn liebte: ja!« Und zum erstenmal die langen Wimpern senkend, trat sie ein wenig zur Seite. Nun, da er ruhiger geworden, fiel ihre große Schönheit ihm klarer auf. Sie war nicht reinrassige Fidschierin, die Farbe war lichter, voll warmer Bronzetöne und das wüste wollige Kraushaar der Eingeborenen ging bei ihr in eine Flut weicher Locken über. Die ebenmäßigen Formen waren reifend, nicht reif und bis auf eine Halskette aus Hundezähnen und ein Lendentuch von Handbreite unverborgen.

»Wie heißt du?«

Sie schlug eine Sekunde lang die schmelzenden Augen zu ihm auf.

»Taviuni!« Und ein weiches Lächeln ließ eine Reihe kleiner Zähne aufblitzen, weiß wie eben aufgeschlagene Kokosnüsse.

Dann machte das dumpfe Dröhnen der Lali alles Sprechen unmöglich.

*

Geschicktes Handhaben einfacher Tischlerwerkzeuge, die er, samt neuesten Feuerwaffen, nach den Inseln gebracht, und ein williges Eingehen in die Denkart der Eingeborenen hatten ihm das Wohlwollen der Verwandten Taviunis eingetragen. Unweit ihnen saß er am dritten Tage um das frisch geschlossene Grab, in dem, in Woiwoimatten gehüllt, die beiden Erwürgten ruhten. Das alte Weiblein bildete im Tode wie vorher im Leben, das »Gras« auf dem ihr Gebieter ruhte.

Man feierte das Vakavidiulo – das Fest des Springens der Würmer –; zum Schlagen der Lali gesellte sich das bittere Wehklagen über das rasche Zerstörungswerk. Knaben und Mädchen sprangen hoch, wanden und krümmten sich, rollten die Augen, bewegten sich langsam, schwerfällig wie übersattes Gewürm, schnalzten mit der Zunge gegen die Backe und krochen endlich in knäuelartigen unentwirrbaren Massen über die frischen Matten.

»Die Würmer, sie saugen, sie nagen, sie kriechen, kriechen, sie winden sich schnell über Gesicht und Haar, über schwarzbraune Brüste, über kräftige Schenkel ... aaa ... naß sind die Matten, weich ist das Fleisch, weiß sind die Knochen ...« riefen sie alle in ermüdendem Singsang. »Die Würmer, sie springen, sie saugen, sie nagen, sie trinken das guten Fischzug!« »Friß mich!« oder »einen guten Menschenschinken!« wurden hörbar. Wie ein Kreisel flog der schöne Kawabecher immer wieder zum Hausherrn zurück und wurde dem nächsten im Rang angeboten und nach und nach machte sich eine zunehmende Trägheit sich zu rühren unter den Gästen bemerkbar, die mit starrwerdendem Blicke sinnliche Wonnen durchträumten.

»Fremdling, dreißig Matten und zwei Speere will ich dir für das Gewehr geben, das du trägst,« unterbrach Taviunis Vater, die verstümmelten Hände noch verbunden, Randingers Spähen nach dem Mädchen.

»Es tut mir leid, Häuptling, aber die Waffe ist unverkäuflich.«

Ein Seufzer – – dann –

»Könntest du meine alte Muskete noch brauchbar machen, Sohn der bleichen Stirne?«

»Vielleicht!« erwiderte der Gefragte überlegend.

»Ein Stück Land würden wir dir geben für deine Waffe und deine Hilfe, Sohn eines fremden Volkes,« warf Taviunis ältester Bruder ein.

»Ich habe vor Monaten schon eine Insel der Yasawagruppe gekauft; dein Angebot lockt mich nicht ...«

»Was könnten wir dir anbieten, das dir wohlgefiele?« forschte der Alte, nun wie ein Kind auf ein Spielzeug auf das neumodische Gewehr erpicht.

Randinger zögerte. Seine Blicke prüften die dunklen Züge.

»Hast du ein bestimmtes Begehren?«

»Ja!«

»Was ist es? Kokosnüsse, Vasuaschalen, Matten oder schönbemalte Tapa, so weich wie deine eigenen Lendentücher?«

»Nein, Häuptling.«

»Sprich! Kann man eine Auster essen, ehe die Schale offen ist?«

Noch zögerte er, warf einen Blick in die Runde.

»Wir sind Häuptlinge!«

Der Ausruf kam von Vater und Sohn und der Blick verwandelte die halbtrunkenen Gäste in so und so viel Nüsse.

»Ich möchte nur – Taviuni.«

Ein schnalzender Laut der Verwunderung, dann anhaltendes Schweigen und endlich bedauerndes Kopfschütteln.

»Taviuni ist dem Häuptling von Somo-Somo versprochen,« sagte der Häuptling und setzte sich zurück zu den übrigen Gästen.

»Wie du willst« und gegen Mitternacht erhob sich Randinger, überzeugt, daß er Taviuni nie wiedersehen würde. Sein Boot wartete; er mußte noch nach Ono, um den dortigen Nußbestand zu prüfen, ehe er ganz in die Yasawas zog. Mißmutig schritt er strandwärts, warf die begehrte Waffe ins Boot, kletterte selbst hinein und befahl den beiden Eingeborenen, das Segel zu hissen. Plötzlich krachte ein Zweig am Ufer und er hörte sich angerufen.

Wenige Schritte hinter ihm stand der älteste Sohn des Häuptlings und führte Taviuni an der Hand.

»Gib' mir die Waffe, Fremdling, und nimm' meine Schwester! Die Somo-Somoleute haben keinen bindenden Anspruch, und wenn sie anders denken – hier ist ein Arm und etwas, das Antwort gibt!«

Randinger drückte ihm die begehrte Waffe samt Patronen in die Hand und hob das schöne scheue Kind zu sich ins Boot. Seine Segel blähten sich im leichten Landwind und lautlos glitten sie hinaus ins offene Meer ...

*

Und nun kam eine Zeit – kurz wie ein Tag und doch empfindungsreich wie ein ganzes Menschendasein – in der er gleichsam außerhalb seiner Persönlichkeit lebte, in der Seele eines anderen. Er war nicht länger Pflanzer, ein Mann mit festgesetzten Pflichten, bestimmten Hoffnungen; auch nicht Angehöriger irgendeiner besonderen Rasse – er war Mensch allein. Was hinter ihm lag, war wie ein verblichener Traum; was vor ihm lag, bedeutungsloses Nebelmeer, in dem er nicht bestand. Er hatte nicht die geringste Absicht, die Frau zu hintergehen, die aus der fernen Heimat zu ihm unterwegs war. Für ihn war sie nicht vorhanden, unwahr, eine geschichtliche Tatsache, die einmal stattgefunden hat, aber die einen nicht näher berührt – etwas so Entrücktes, wie die Eroberungszüge Alexanders des Großen. Anstatt seines Schattens wie Peter Schlemihl war Oskar Randinger seiner Vergangenheit verlustig gegangen. Das geschieht manchmal auf stillen Südseeinseln.

Immer blies der warme Wind über die Laugruppe und Vatu Hara, seine Insel; immer nickten die Quaiblätter wie wissende alte Frauen; immer folgte die Flut der Ebbe und warf neue Muscheln an den Strand, mit denen Taviuni sich schmückte; immer fand ihn der rosige Morgen auf den kühlen Matten in Taviunis Armen. Nichts unterschied das Heute von dem Morgen.

Er lebte wie die Eingeborenen den Tag für den Tag; sperrte man das Sonnenlicht aus, wenn es kam? Ließ man eine reife Frucht auf der Erde achtlos verfaulen? Und war Taviuni nicht sein Licht, seine Inselfrucht? Wenn Götter etwas boten, hielt man demütig die Hände hin, empfing und genoß.

Vielleicht ließ die Urnatürlichkeit dieser Liebe keine Gedanken an Unrecht aufkeimen. Nichts band sie an ihn und doch war sie sein wie nie zuvor ein Weib sein gewesen. Von ihren braunen Locken bis zu den rundlichen unverkrümmten Zehen war sie sein; ihr Herz, ihr Denken, das Werk ihrer Hände gehörten ihm. Unter seinen Küssen wurde das Kind zum Weibe ...

Eines Tages lief ein Boot Vatu Hara an; entlud Franz Holzmann, seinen Freund und Verwalter, der ihm einen Brief überbrachte. Seine Frau schrieb, daß sie mit der »Sonoma« kommen würde.

Seltsamerweise durchfuhr ihn weder Reue noch Widerwillen. Gute alte Netty, wie sie alles anstaunen würde! Ob alles zu ihrem Empfang auf Momo bereit war? Wann die Sonoma in Levuka eintreffen sollte? Er stellte die Fragen an Holzmann, unpersönlich, sachlich, wie aus der Seele eines anderen heraus.

Wer da seine Gattin erwartete, war nicht er, der Gefährte der schönen Taviuni – sondern ein gewisser praktischer Pflanzer Oskar Randinger, mit dem er sich irgendwo verbunden fühlte; sehr flüchtig nur.

»Nächsten Sonnabend! Du wirst morgen früh abreisen müssen. Wenn du willst, kann ich bleiben ...«

»Nein, nein, wir reisen zusammen,« warf Randinger ein, nicht aus Furcht vor dem Entdecktwerden, sondern aus keuschem Hüten eines echten Schatzes.

»Du wirst wiederkommen?« fragte Taviuni unter Küssen.

»Bald, sehr bald; wenn der Mond wieder groß ist!« Bis dahin würde sich Netty auch auf Momo daheimfühlen; sie waren wie Tag und Nacht. Was er der einen gab, war so verschieden von dem, was er der anderen bot. Im Grunde und von gegenüberliegenden Gesichtswinkeln liebte er beide gleich. Das Feuer – das war der Traum; noch fühlte er kein Erwachen.

»Was soll ich dir lassen, Taviuni?« forschte er, als das frühe Grau zu Rosenschimmer wurde.

»Dein Herz!«

Der weiche nackte Körper schmiegte sich fester an den seinen.

»Das hast du! Aber etwas, das dich immer an mich erinnert?« Und er zog einen Ring vom kleinen Finger und steckte ihn an ihren braunen Ringfinger. Sie lachte froh wie ein Kind.

»Der bindet uns ...« flüsterte er.

Noch einmal, samtig, jeden Nerv wonnebebend machend, schlangen sich die vollen braunen Arme um den Hals. Dann sprang er auf und lief bootwärts. Vatu Hara versank langsam ins Meer hinter blaugrünen Wellen.

Er hielt verstohlen die Hände ans Gesicht, ihnen haftete noch unverkennbar der Duft Taviunis an.

»Mein goldiges Kind der Tropen,« dachte er liebetrunken, während Franz Holzmann westlich trocken von so viel ertauschten Matten, Nüssen und Perlaustern zu tauben Ohren sprach.

Randinger hörte diese Stimme überhaupt nicht, denn aus jeder glucksenden Welle erscholl nur ein Wort: –

»Taviuni!«

*

Wie ein Teller Milch war das weite Meer; nicht ein Wellenkämmchen, nicht ein hochschnellender fliegender Fisch; der Himmel selbst ein fahles, grundloses Blau; aus seichteren Wassern schimmerten von Zeit zu Zeit Korallenbänke.

»Holzmann, ich bin nicht abergläubisch, aber heute beschleicht mich das Vorgefühl nahenden Unheils.«

»Lächerlich! Im ungünstigsten Fall steuern wir auf die nächste Insel zu und warten besseren Wind ab.«

»Es hat nichts zu tun mit dem Wetter; mir schwimmt Unglück nach wie der Hai dem sinkenden Boot.«

»Bah! Wir haben unsere Flinten und Ueberfalle sind selten geworden; als Weiße ...«

»Holzmann,« unterbrach ihn Randinger ungeduldig, »ich möchte nach Vatu Hara zurück. Etwas sagt mir ...«

»Unausführbar bei dieser Stille; wozu auch? Die Baumwolle ist geerntet worden, wie ich selbst gesehen habe und die paar Schwarzen ...« er ließ sein Ruder auf das unbewegte Wasser niederklatschen und zuckte mit den Achseln.

Was wußte er von Taviuni?

Wie ein glühender Mantel senkte sich die andauernde Stille auf die beiden Männer im Boot, lähmte jedes Handeln, Denken, Sprechen ...

Ein ebenmäßiges entschlossenes Plätschern störte sie aus bleierner Ruhe; vom Osten nahten Boote ... eins, ... zwei, drei ... vier ... Völlig im Takt fielen die Ruder.

Holzmann hob das Fernrohr.

»Es sind Leute aus Somo-Somo,« erklärte er, den Kopfputz der Krieger erkennend.

Sollte es ein Rachezug gegen ihn sein? überlegte Randinger und freute sich, daß sie ihn fern von Taviuni fanden.

»Laß uns auf die Hunde schießen!« rief er.

»Sie haben uns ja gar nicht angegriffen!« erwiderte Holzmann erstaunt, »nach dem Kurs zu schließen sind sie auf der Heimfahrt nach ihrer Insel.«

Randinger schwieg. Die nächsten Minuten mußten die Entscheidung bringen.

Und sie brachte sie. Wie Haifische umschwammen die Auslegerboote das Schifflein der Weißen. Hundert Speere hoben sich drohend, als Randinger nach der Waffe griff.

»Männer des Westens,« rief der alte Häuptling, »kommt zum großen Kriegerfest nach Somo-Somo, nehmt teil daran und – lebt; oder weigert euch und kreuzt den Hügel Takiveleyawa.«

»Schieß' nicht oder wir sind verloren!« warnte Holzmann mit leiser Stimme und zum Häuptling sagte er laut:

»Was bürgt uns dafür, daß wir am Feste als Gäste teilnehmen sollen und nicht als Bakolo – als Langschwein?«

Der alte Wilde lachte.

»Mein Wort! Das Wort des Häuptlings von Somo-Somo. Nehmt an dem Feste teil als einer der Unsrigen und ihr habt nichts zu fürchten; vorwärts!« Und mit einem Lianentau das Boot der Weißen an das seine bindend, gab er das Zeichen zur Weiterfahrt.

Die Wolken türmten sich wie Steine im Lowo – die untersten erdfarbig, dunkelgrau, andere stahltönig, die höchsten weißlichrot, schon wie gluterhitzt ...

Die scharfen Kanten der Klippen deuchten die beiden Männer beißsüchtige Zähne, unnatürlich und rissig wie in alten Teufelsmasken. Strandfeuer flammten auf, heiseres Geschrei aus vielen Kehlen grüßte die Boote, das Rühren der großen Todestrommel wurde hörbar.

»Die Derua singt!« lachte der Häuptling.

Die Krieger aus den ersten Booten waren ans Land gesprungen und stürzten sich samt den Eingeborenen über das vierte, dessen Insassen sie johlend ans Land zogen.

»Bakolo! Bakolo!«

Einzelne der älteren Weiber brachen sich Bahn durch die Menge, kniffen diesen oder jenen ins Oberbein, lobten oder verwarfen.

Ein dicker kleiner Junge, das einzige Kind im Boote, wurde bei den Haaren herangeschleift und schrie. Die Weiber prüften jubelnd die rundlichen Glieder.

»Er zuerst von diesen hier!« schrie jemand aus dem schnell fallenden Dunkel. Zwei Hände haschten nach den Kinderbeinen, hoben den Knaben hoch und schlugen seinen Kopf im Schwung gegen die nächste Kokospalme. Ein dumpfer Krach und mit gebrochener Hirnschale lag das Opfer auf dem Boden.

»In den Lowo! In den Lowo!« heulten die Umstehenden und rissen der Leiche das Lendentuch ab, hüllten sie in Malawau- und Borodinablätter, die das Menschenfleisch verdaulicher machten und schleppten sie zum ersten Erdofen am Strande, aus dem die erhitzten Steine glühten, warfen einige große Yam darauf, deckten alles mit weiteren erhitzten Steinen zu, schütteten Erde nach und lachten.

»Wie furchtbar!« flüsterte Randinger.

»Wir sind nun waffenlos – misch' dich nicht ein!« beschwor Holzmann, eingedenk des Umstandes, das sich der Häuptling ihrer Gewehre mit dem Versprechen bemächtigt hatte, sie »später« zurückzugeben.

»Sieh' doch nur! Ich kann das nicht länger ...«

Ehe er die hastige Geberde des Eingreifens vollendet, hatte ein Keulenschlag den Mann vor ihm niedergeschmettert. Zwei Männer ergriffen je einen Arm und schleiften ihn zum entfernteren Lowo, während andere die Keulen hochwarfen und sangen:

»Yari au malua, yari au malua ...«

Bei jedem Gefangenen wiederholte sich das Geschrei und immer sangen die Männer, die die noch stark blutenden warmen Leichen einem Erdofen zuschleppten, das gleiche grausige Lied:

»Schleif mich sachte, schleif mich sachte ...«

Der Häuptling führte seine weißen Gäste zu einer Art Felsbank, auf der – blütenüberströmt und auf frischem Bananenlaub – gebackene Yams, Taro, Bananen und andere Inselfrüchte lagen.

»Möge es den Söhnen der Sterne schmecken,« sagte er und winkte ihnen, sich niederzulassen, während seine böswilligen Augen voll innerer Freude zwinkerten.

»Ich kann nichts essen!« wehrte Randinger ab.

Die Brauen des alten Häuptlings zogen sich finster zusammen.

»Unser Leben hängt von der Laune dieses Barbaren ab,« mahnte Holzmann, der keine Sehnsucht trug, den Lowo zu bereichern. »Wenn man Nachbar der Hölle ist, darf man sich mit den Teufeln nicht verfeinden. Nimm von den Früchten ...«

Widerwillig griff er zu.

Die jähe Tropennacht umschlang Somo-Somo. Ein junger Mond eilte westwärts, sein bleiches Licht, vom grellen Schein vieler Strandfackeln verdrängt, verlor sich im steifen Laubwerk der Vutubäume. Unaufhörlich rollte die Todestrommel; aus den Lowos strömte der Geruch frisch gebratenen Fleisches.

»Träger des Knalltodes,« kreischte der Häuptling und hielt Randinger eine merkwürdig lange Gabel mit vier kreisbildenden Zähnen entgegen, an denen etwas hing.

»Nimm und iß,« raunte ihm Holzmann zu, »es gilt als Schimpf, die Gabe eines Häuptlings zurückzuweisen.

»Soll ich aus Feigheit zum Menschenfresser werden, tun wie dieses schwarze Gesindel?«

Immer noch hielt ihm der Häuptling die Gabel entgegen. Ein dumpfes drohendes Murmeln ging durch die Reihen der nackten, mit Halsketten und Blumen geschmückten Krieger.

Holzmann war sein Leben lieber als alle Bedenken.

»Lieber essen als gegessen werden.« meinte er lakonisch. »Zudem – der echte Festbraten ist noch nicht da.«

Randinger dankte mürrisch dem Häuptling und machte Miene, das Stück von der Gabel zu ziehen.

»Nicht doch, nicht doch, o Mann des flammenden Herzens! Nimm die Gabel und iß! Wer seine Finger gebraucht, leidet später an Jucken, und sieht Lichter, wo keine sind!«

Randinger fühlte die Augen seines Wirtes wie Dolche seine Züge durchbohren. Das Einschlagen der Schädel, das Aufstöhnen der Sterbenden, verursachte ihm Uebelsein, zeitigte eine lähmende Furcht, die keine andere Gefahr ihm einzuflößen vermocht hätte. Sich gewaltsam überwindend, aß er.

»Yari au malua, yari au malua ...«

Weich fiel das Fleisch vom Knochen; war süßlich wohlschmeckend wie zartester Schweinebraten. Das feine Borodinaaroma verlieh einen eigenen Reiz. Halb unbewußt aß er weiter.

Ein Gedanke gab ihm Trost inmitten dieser Orgie des Grauens. Taviuni war sein; war nicht dieses herzlosen Alten Spielding und Opfer.

»Schmeckt's, Fremdling?« Und die Augen des Fragenden glühten wie Lowosteine.

»Hab' Dank, Häuptling von Somo-Somo, es schmeckt!« Er würde ihn nicht wissen lassen, mit welchem Widerwillen er schluckte, welcher Haß in ihm brannte.

Wieder krachte eine Hirnschale, wieder sangen heisere Stimmen:

»Schleif' mich sachte, schleif' mich sachte ...«

Würde dieses grauenvolle Singen, dieses schreckliche Hinschlachten nie ein Ende nehmen?

Sein Zahn stieß plötzlich auf etwas Hartes. Nicht auf einen Knochen, das fühlte er. Vorsichtig löste er mit der Zunge die daran klebenden Fleischreste, ergriff das Ding mit dem Finger, beschaute es. Dabei hatte er das Gefühl, als bohrten sich zahllose Blicke wie feurige Messerspitzen in sein Gehirn.

Langsam erkannte er, was es sein sollte. Es war ein verbogener Ring.

Im nächsten Augenblick wußte er, wessen Ring es war. Sein Blut wurde zu Eis, die Glieder erstarrten. Seine Augen suchten und fanden den Häuptling, der die Zähne fletschte und hohnlachend zusah.

Er schlug sich auf den haarigen Schenkel und zischte:

»Ich hab' sie zuletzt besessen!«

Mit einem wilden Schrei fuhr Randinger auf, sprang auf den Häuptling zu. Speere rasselten – dann schwanden ihm die Sinne ...

*

»Blut, Blut! Es tropft von Blut ...«

Eine beschwichtigende Stimme neben ihm sagte:

»Es ist die Morgenröte, Randinger.«

So kam er zurück zur Welt der Menschen.

Allmählich begriff er, daß sie weitab von Somo-Somo mit wachsendem Wind gegen Levuka trieben; erfuhr auch, daß der Häuptling sie entlassen, weil sie die Wege der Kaisi nicht verstanden, und daß er sich nur ihre Waffen »zur Erinnerung« behalten, ein Begehren, dem Holzmann nicht zu widersprechen gewagt hatte. Er glaubte, daß sie mit heiler Haut davongekommen, da der Bakaloschmaus ja von Seiten der Schwarzen nur als Aufmerksamkeit anzusehen war. Es war am besten, den Vorfall zu vergessen.

»Vergessen!«

Im Verzweifeln an solch Unmöglichem schlug er die Hände zusammen und merkte, wie die eine noch immer fest um einen kleinen Gegenstand gekrampft war.

»Udroudro, die mit Recht weithin berüchtigte Bakologabel des Häuptlings von Somo-Somo, an der ein Stück ihres weichjungen Körpers gehangen hatte, das er gegessen ...

»Ich will fort von diesen furchtbaren Inseln, diesen fluchbeladenen Menschen, hinaus in andere Länder, allein, immer allein wie ...«

»Faß dich, Oskar!« Holzmann griff voll Angst nach der fieberheißen Hand des Freundes, »in wenigen Tagen trifft die »Sonoma« ein und da führt dich Frau Netty nach den westlichen Inseln.«

»Netty? Meine Frau?«

Etwas in ihm zerbrach, das Wunderbare, das jenen Traum möglich gemacht hatte. Er wurde langsam wieder Händler mit festgesetzten Pflichten und bestimmten Erwartungen; er war wach, entsetzlich wach, und lebte nicht länger in der Seele eines anderen.

Holzmann aber ließ er schwören, den Vorfall auf Somo-Somo nie wieder zu erwähnen.

Die Gabel legte er in ein Holzkistchen wie eine heilige Reliquie und umband es mit einer Schleife so rot wie Taviunis Lippen nach einer Liebesnacht und legte den Schatz in den alten Junggesellenkoffer im Ersatzzimmer. Dort lag Udroudro, »das kleine Ding, das Gewichtiges hielt« unvergessen, doch ungelüftet und verblieb es auch, als Netty vor mehreren Jahren starb. Zu viel Herzstaub klebte daran.

*

Und nun hielt er sie wieder in Händen – nach fünfzig Jahren! Vom Blattwerk rieselten schwer, in kleinen Zwischenräumen, die letzten Tropfen des Tropenschauers wie Tränen um verjährten Schmerz, die unaufhaltsam, aber stille und vereinzelt fließen.

Oskar Randinger stand gegen den Türstock gelehnt und summte, halb unbewußt, eine Fidschivolksweise. Seine Haushälterin, eine alte Schwarze, setzte das einfache Mahl auf den wurmstichigen Tisch, erkannte die Melodie und sang mit gebrochener Greisenstimme dazu:

»A mate na rawarawa,
Im bula na ka ni cava
A mate na cegu ...«

Leicht ist der Tod; welchen Zweck hat das Leben? Sterben ist Ruhefinden.

Draußen fiel krachend ein alter, dürrer Ast ...


 << zurück weiter >>